Gewickelt in Windeln oder in ein Grabtuch?

Eine Bibel ist aufgeschlagen in Lukas 2, der Weihnachtsgeschichte, daneben liegt etwas Stroh und eine handelübliche Stoffwindel für Babys. Auf die Bibelseite fällt der Schatten einer Dornenkrone.
Fällt auf die Erzählung vom gewickelten Jesuskind bereits ein Schatten der Dornenkrone? (Bild: congerdesign auf Pixabay)

In der Vorweihnachtszeit 2024 sagt mir jemand, Maria habe den Jesus gar nicht in Windeln gewickelt, wie es in der Lutherbibel steht. Tatsächlich sei er schon bei seiner Geburt in ein Grabtuch gewickelt worden. Ich frage nach, wie er darauf kommt. Eine alte jüdische Frau aus Israel habe das erzählt.

Der Evangelist Lukas schreibt ja nur, wörtlich übersetzt (Kapitel 2, Vers 7):

Und sie [Maria] gebar ihren Sohn,
den Erstgeborenen,
und wickelte ihn
und legte ihn in einen Futtertrog,
denn kein Platz war für sie
in der Unterkunft.

Da ist nur die Rede vom „Wickeln“, nicht ausdrücklich von Windeln für ein Neugeborenes. Und ein bloßer „Futtertrog“ wird erwähnt, nicht ein Stall, wie wir ihn uns in weihnachtlichen Krippenspielen vorstellen. Der Kirchenlehrer Justin schrieb hundert Jahre später, dass Josef mit Frau und Kind in einer Höhle beim Dorf unterkamen.

Und nun kommt die Erzählung der alten Jüdin, die sich anrühren ließ von Gottes Liebe, die sie in den Erzählungen von Jesus spürte. In Israel habe es Grabhöhlen gegeben, die, so lange sie nicht belegt waren, als Ställe dienten. Und für den Fall einer Beisetzung lag in einer solchen Höhle ein Grabtuch bereit. Ein solches Tuch konnte im Notfall auch den neugeborenen Jesus warmhalten. Was Lukas schildert, war eine Ausnahmesituation, die schwangere Maria als Spielball im Roulette der Steuerschätzung des römischen Weltreichs. Unter welchen Umständen mögen heutzutage an manchen Orten in Gaza, in der Ukraine, im Jemen Kinder geboren werden?

Natürlich kann niemand wissen, wie es damals wirklich war. Alle Weihnachtserzählungen wollen auf ihre eigene bildhafte Weise etwas von der besonderen Bedeutung Jesu vermitteln. Lässt Lukas in seiner Schilderung der Geburt Jesu vielleicht schon etwas vorausahnen von seiner Beisetzung in einer Felsenhöhle nach seinem außergewöhnlichen Tod am Kreuz? Nach Lukas (Kapitel 23, Vers 53) wird sich dann ein Mann namens Josef von Arimathäa darum kümmern, dass Jesus nicht einfach in einem Massengrab verscharrt wird:

[Der] nahm ihn herab,
wickelte ihn in ein Leinentuch
und legte ihn in ein Felsengrab,
worin noch nie jemand gelegen hatte.

Es ist übrigens gar nicht weit hergeholt, Jesu Geburt und Tod so nahe zusammenzudenken. Als der Apostel Paulus sich am Anfang seines berühmten Römerbriefs den angeschriebenen Römern vorstellt, überliefert er ganz nebenbei eine ultrakurze Weihnachtserzählung (Römerbrief 1,3-4). Indem er auf die Geburt Jesu zu sprechen kommt, versucht er die Frage zu beantworten:

Wer ist der Messias Gottes, der ganz und gar nach dem Willen Gottes handelt? Wer darf in diesem Sinne „Sohn Gottes“ genannt werden? Vom wem weiß sich Paulus als Gesandter Gottes in den Dienst genommen? Die Antwort lautet:

von seinem [Gottes] Sohn,
der geboren ist aus dem Samen Davids nach dem Fleisch,
der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht nach dem Geist der Heiligung
aus der Auferstehung von den Toten,
[von] Jesus, dem Messias, unserem Herrn.

Spannend ist an diesen knappen Worten, dass Paulus nichts von einer Jungfrauengeburt weiß. Geboren ist Jesus auf natürliche, menschliche Weise – nach dem Fleisch – als ein ganz bestimmter Mensch, nämlich als ein Jude – aus dem Samen Davids.

Und auch wenn viele Christen meinen, dass schon Paulus das Judentum als Religion hinter sich gelassen hätte, nein, ganz im Gegenteil: mit seinem ganzen Herzblut setzt sich Paulus überall, wo er im Römischen Weltreich hinkommt, für die Versöhnung zwischen Juden und Menschen aus den Völkern ein. An den Verfehlungen beider ist er gestorben, für die Verfehlungen beider gibt er sein Leben, allen sagt er Vergebung zu, damit alle die Chance haben, es besser zu machen.

Es waren Soldaten Roms gewesen, die Jesus gekreuzigt hatten, befehligt vom Statthalter des römischen Imperiums. Es waren Kollaborateure mit Rom aus der Machtelite Judäas gewesen, die den Tod des Messias gefordert hatten. Paulus weiß um verfahrene weltpolitische Situationen, aus denen kein Ausweg herauszuführen scheint. Und doch erinnert Paulus an dieser Stelle nicht an die Kreuzigung. Als ob er sich nicht lähmen lassen will von Bildern der Hoffnungslosigkeit.

Stattdessen spricht Paulus unmittelbar nach seinem Satz über die Geburt Jesu von seiner Auferstehung von den Toten. Er spricht vom Geschenk der Hoffnung über den Tod hinaus, sogar einen so entwürdigenden Tod wie die Kreuzigung. Er spricht von der versöhnenden Macht, die Hass und Gewalt überwindet. Er spricht vom Geist der Heiligung, der Juden und Völker nicht mehr voneinander trennt, sondern ihnen den Willen zur Versöhnung einflößt. Dass Leid nicht gegeneinander aufgerechnet wird zur immerwährenden Vergeltung.

Klingen die Worte des Paulus zu vollmundig? Er schrieb seinen Brief in den 50er Jahren des 1. Jahrhunderts, zehn Jahre vor dem Jüdisch-Römischen Krieg, vor der Zerstörung des Tempels und Jerusalems im Jahr 70. Als Lukas sein Evangelium schrieb, lag das alles schon hinter ihm. Doch auch er hielt fest an den Hoffnungen des Paulus auf den Messias Jesus und erzählte von ihm einfach nur Geschichten. Und es mag sein, dass Lukas sogar andeuten wollte, dass Jesu Mutter sich nicht anders zu helfen wusste, als ihr Neugeborenes in ein Grabtuch einzuwickeln und in einer zum Stall umfunktionierten Grabhöhle in eine Futterkrippe zu legen. Zum Überleben. Zum Leben. Zur Hoffnung auf Frieden.

Pfarrer i. R. Helmut Schütz

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