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Lob der Zweisamkeit

Die Frage: „Wie kann ein einzelner warm werden?“ entsteht in einer Gesellschaft, in der traditionelle Strukturen zerfallen und soziale Kälte entsteht. Da ist es wichtig, Orte zu finden, wo man zusammenrückt und Wärme erlebt, und Menschen, die einen tröstend in den Arm nehmen, wenn man Trauer und Unrecht zu verarbeiten hat, oder die zuhören, wenn man sein Herz ausschütten will.

Zwei beste Freundinnen von hinten gesehen, wie sie sich aneinander lehnen
„So ist’s ja besser zu zweien als allein; wie kann ein einzelner warm werden?“ (Bild: Lotta GessnerPixabay)

Ökumenische Vesper am Sonntag, den 12. März 2006, um 17.00 Uhr in der evangelischen Stephanusgemeinde Gießen
Orgelvorspiel mit Einzug (Kallasch)
„Alta Trinita“ (Chor Albertus)
Begrüßung und Votum (Kornelius Büttner)
„Großer Gott, wir loben dich “ und „Gott des Himmels und der Erden“ (Chor Stephanus)
Textlesung: Kohelet – Prediger 4, 1-3 (Kerstin Schroth)

1 Wiederum sah ich alles Unrecht an, das unter der Sonne geschieht, und siehe, da waren Tränen derer, die Unrecht litten und keinen Tröster hatten. Und die ihnen Gewalt antaten, waren zu mächtig, so dass sie keinen Tröster hatten.

2 Da pries ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben haben.

3 Und besser daran als beide ist, wer noch nicht geboren ist und des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschieht.

Aktualisierung (Schroth), unterlegt mit „Oculi nostri“ instrumental (Kallasch):

Wiederum sah ich alles Unrecht – was unter der Sonne geschieht, all die blanke Ungerechtigkeit, die mir entgegenschlägt, wenn ich die Zeitung aufschlage, wenn ich den Fernseher anschalte, wenn ich in mein eigenes Leben schaue. All die Ungerechtigkeit unter der Sonne.

Da waren die Tränen derer, die Unrecht erlitten:

  • wenn sie doch nur mal jemand sehen würde: die Tränen, das Leid
  • derer, die unterdrückt werden,
  • die gemobbt werden,
  • die gequält werden.

Und die ihnen Gewalt antaten, waren zu mächtig:

  • Macht und Ohnmacht – wohin wir blicken – und ich?
  • ohnmächtig?!? – mächtig?!?
  • meine Ohnmacht?!? – meine Macht?!?

Macht und Ohnmacht – Ungerechtigkeit, wohin wir blicken unter der Sonne…

Vielleicht kommt’s auf die Blickrichtung an!

Wo ist Gerechtigkeit…? Wo?

Ich hebe meine Augen auf zu Gott: Oculi nostri ad dominum nostrum…

Lied: „Oculi nostri“ (vierstimmig)
Textlesung: Prediger 4, 4-6 (Kerstin Schroth)

4 Ich sah alles Mühen an und alles geschickte Tun: da ist nur Eifersucht des einen auf den andern. Das ist auch eitel und Haschen nach Wind.

5 Ein Tor legt die Hände ineinander und verzehrt sein eigenes Fleisch.

6 Besser eine Hand voll mit Ruhe als beide Fäuste voll mit Mühe und Haschen nach Wind.

Lied: „Oculi nostri“ (vierstimmig)
Kanon: „Alles ist eitel“ (Chor Paulus + Gemeinde)
Textlesung: Prediger 4, 7-12 (Kerstin Schroth)

7 Wiederum sah ich Eitles unter der Sonne:

8 Da ist einer, der steht allein und hat weder Kind noch Bruder, doch ist seiner Mühe kein Ende, und seine Augen können nicht genug Reichtum sehen. Für wen mühe ich mich denn und gönne mir selber nichts Gutes? Das ist auch eitel und eine böse Mühe.

9 So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe.

10 Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt! Dann ist kein anderer da, der ihm aufhilft.

11 Auch, wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie kann ein einzelner warm werden?

12 Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei.

Lied 209: „Ich möcht, dass einer mit mir geht“ (Gemeinde)
Ansprache (Helmut Schütz)

Liebe Gemeinde, was uns beim Vorbereiten auffiel in dem Text aus dem Kohelet-Buch, das wir auch Prediger Salomo nennen: Der da schreibt, ist ein guter Beobachter. „Wiederum sah ich“, diese Formulierung wiederholt sich immer wieder. Daher haben wir uns auch entschieden, das Lied „Oculi nostri“ zu singen. Die schonungslose Ehrlichkeit, mit der dieser Prediger unsere Welt wahrnimmt, halten wir nur aus, wenn wir auf den Herrn schauen.

Wer ist überhaupt dieser Kohelet? „Kahal“ heißt auf Hebräisch „Versammlung“, Kohelet ist der Versammler, er trägt also in irgendeiner Weise Verantwortung für die jüdische Gemeinde. Er tut dies in einer Zeit, in der sie nichts zu lachen hat. Seit Alexander der Große 300 Jahre vor Christus die Weltmacht übernommen hat, geht es den von ihm und seinen Nachfolgern unterworfenen Völkern immer schlechter. Schon damals im Hellenismus gibt es so etwas wie das, was wir heute Globalisierung nennen, eine vereinheitlichte Weltkultur und Weltwirtschaftsordnung. Die oberen Zehn- oder Hunderttausend profitieren von der griechischen Kultur und dem weltweiten Austausch von Luxusgütern; bezahlt wird die Zeche schon damals von den Armen aller Länder. Ein weiser Lehrer in Israel, wie Kohelet einer ist, der sich trotz der veränderten modernen Zeiten an die Weisungen des Gottes Israels gebunden weiß, er sieht unter der blühenden Oberfläche der griechisch beherrschten Weltordnung eher deren unordentliche finstere Kehrseite:

Er sieht Unrecht und Tränen und ungetröstete Opfer, weil diejenigen, die Gewalt anwenden, so mächtig sind, dass die alten Institutionen des Volkes Israel nicht greifen und sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.

Genau wie ein anderer Mann der Bibel, nämlich Hiob, kann Kohelet angesichts dieses von Menschen verursachten Leides nicht anders, als die Toten glücklich zu preisen und mehr noch diejenigen, die gar nicht erst geboren wurden. Im Unterschied zu Hiob gehört Kohelet aber nicht selbst zu den Leidenden; es scheint, als ob er das Leiden eher aus philosophisch-skeptischer Distanz betrachtet.

Näher ist dem skeptischen Lehrer ein anderes Thema: die Welt der Arbeit. Er sieht klar und deutlich, wie „alles Mühen“ und „alles geschickte Tun“ unter den Bedingungen seiner Zeit nicht zu einem erfüllten Leben, sondern zu „Eifersucht“ führt, zu Konkurrenzkampf und Rivalität. Heute können wir ergänzen: zum Leerbrennen der Kräfte derer, die Arbeit haben und bis zur Erschöpfung ausgebeutet werden, und zum Sich-nutzlos-Fühlen derer, die für die globale Weltwirtschaft überflüssig geworden ist. Für Kohelet ist all das „Haschen nach Wind“. Und wer kann schon den Wind fangen?

In der Übersetzung von Martin Luther kommt nicht so deutlich raus, dass Kohelet eigentlich den Dummkopf oder Faulpelz glücklich preist, der die Hände in den Schoß legt und trotzdem satt wird. Das passte nicht zu Luthers protestantischem Pflichtbewusstsein. Aber im nächsten Vers bestätigt Kohelet, dass für ihn tatsächlich gilt: „In der Ruhe liegt die Kraft“, oder mit seinen eigenen Worten: „Besser eine Hand voll mit Ruhe als beide Fäuste voll mit Mühe und Haschen nach Wind.“ Damit will Kohelet uns sicher nicht wirklich einen Sozialschmarotzer als Vorbild hinstellen. Aber in einer Welt, in der es auch ganz weit oben Sozialschmarotzer gibt und in der nicht jeder, der seine Pflicht erfüllen will, überhaupt die Gelegenheit dazu findet, und wenn er sie findet, nicht in jedem Fall gerecht entlohnt wird, ist sein gelassener Hinweis vielleicht nicht verkehrt: „Macht euch nicht unnötig kaputt. Arbeit ist nicht das ganze Leben, ja nicht einmal das halbe.“

Was ist für Kohelet denn wichtiger als Arbeit und Mühe? Das wird im dritten Abschnitt deutlich, den wir gehört haben. Eine „böse Mühe“ ist es für ihn, wenn einer allein dasteht und sich abmüht ohne Ende nur für sich allein.

Wie Jesus später vom unglücklichen reichen Kornbauern erzählt, dem sein angehäufter Reichtum nichts bringt, weil er zu früh stirbt, so bedauert auch Kohelet denjenigen, der nur Augen für den Reichtum hat, den er nicht einmal zu genießen versteht, weil er ihn mit niemandem teilen kann.

Ausführlich preist Kohelet daher die Zweisamkeit. Er entwickelt aber keine ausgefeilte Lehre von der Ehe oder von der Nächstenliebe, er vermeidet auch die hohen Worte aus der biblischen Wegweisung, wie Gerechtigkeit und Recht – wo die in seinem Buch vorkommen, da beklagt er, dass zu seiner Zeit das Recht mit Füßen getreten wird und ein Gerechter häufig schlechter dran ist als ein Gottloser.

Und doch: Das Herz des Kohelet schlägt für den Geist der Wegweisung Gottes, obwohl er die Tora hier nicht ausdrücklich zitiert. Er wird eben vielleicht doch mit Recht ein Prediger genannt, auch wenn er nur selten das Wort „Gott“ in den Mund nimmt und auch bescheiden bleibt in seinem Lobpreis einer Zweisamkeit, die sich in Freundschaft und Familie, vielleicht aber auch unter Arbeitskollegen und Nachbarn ganz schlicht im Alltag bewährt: „So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe.“

Lohn ist hier nicht das Arbeitsentgelt in bar, sondern der Sinn und Zweck jeder Tätigkeit des Menschen: Man muss jemanden haben, für den man sich abmüht, sonst ist alles sinnlos. Wieviel Energie stecken die Menschen in Berufsausbildung und Arbeit! Kohelet rät dringend dazu, ebenso viel Aufmerksamkeit für den Menschen aufzubringen, der neben einem wohnt und lebt. Dann erst lohnt Arbeit wirklich.

Erst recht zeigt sich in Notlagen, wie er sie am Anfang beschrieben hat, wie wertvoll Zweisamkeit ist. „Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt! Dann ist kein anderer da, der ihm aufhilft.“

Und mit den zwei, die „beieinander liegen“ und „sich wärmen“, muss nicht unbedingt nur ein Liebes- oder Ehepaar gemeint sein. Ich denke, dass die Frage: „Wie kann ein einzelner warm werden?“ in einer Gesellschaft entsteht, in der traditionelle Strukturen zerfallen und die soziale Kälte größer wird. Da ist es wichtig, Orte zu finden, an denen man mit vertrauten Menschen zusammenrückt und Wärme erlebt: zum Beispiel Menschen, die einen tröstend in den Arm nehmen, wenn man Trauer und Unrecht zu verarbeiten hat, oder die einem zuhören, wenn man sein Herz ausschütten will.

Ich fasse zusammen: Mit offener Verzweiflung schaut Kohelet auf das Unrecht in der Welt. Mit skeptischer Gelassenheit beobachtet er das sinnlose Sich-Abmühen derer, die Reichtümer anhäufen und für viel Unrecht verantwortlich sind. Eine bescheidene Hoffnung tut sich für ihn dort auf, wo zwei oder drei sich zusammentun, um zu widerstehen.

Er sagt nicht, wem dieser Widerstand gilt, ob es allgemein widrige Umstände sind, denen man gemeinsam besser gewachsen ist als allein, oder ob es auch um Widerstand geht, der hier und da einem Unrecht abhelfen und ein wenig Gerechtigkeit herstellen kann. Hier lehnt sich der Prediger am weitesten aus dem Fenster, indem er Zivilcourage und Einsatz für Gerechtigkeit im Sinne der Gebote Gottes für möglich hält, wenn zwei oder drei fest zusammenhalten und, wie wir Christen sagen können, in SEINEM Namen versammelt sind: „Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei.“ Amen.

Brich mit dem Hungrigen dein Brot (Chor Paulus)
Fürbitten, unterbrochen durch das Lied 789.6 (Kerstin Schroth)
Friede, Friede sei mit euch! (alle drei Chöre, dirigiert von Frau Michel)
Friedensgruß und Vater unser (Kornelius Büttner)
Lied 640: „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit“ (Gemeinde)
Segen (Kornelius Büttner, Kerstin Schroth, Helmut Schütz)
Orgelnachspiel

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