Der Störenfried

In meiner Betrachtung „Kein Segen für Esau, den Bruder Jakobs?“ bleibt am Ende eine Leerstelle offen – welche Karfreitagspredigt könnte die noch ausstehenden offenen Fragen beantworten? Beeindruckt hat mich ein im „Freigehege“ des „Gießener Anzeigers“ vom heutigen 6. April 2023 zum Karfreitag veröffentlichter Beitrag des Redakteurs Ingo Berghöfer, den ich mit seiner Erlaubnis hier wiedergeben darf. Herzlichen Dank! Helmut Schütz

Kirchenfenster mit der Darstellung Jesu, der vom Satan (mit den Gesichtszügen Adolf Hitlers) versucht wird.
Darstellung der Versuchung Jesu durch den Teufel (Bild: JoKarl Huber, Versuchung Jesu 1938-40, CC BY-SA 4.0)

Vor uns liegt das längste Feiertagswochenende des Jahres, liebe Leser. Ostern garantiert einem selbst im arbeitgeberfreundlichsten Jahr stets vier freie Tage am Stück. Da kann man noch mal in Ischgl an seinem Parallelschwung feilen, ein paar Netflix-Serien weg„binschen“ oder – ich traue mich‘s kaum zu sagen – sich mit dem Kerl beschäftigen, der wahrscheinlich vor 1996 Jahren von der Weltmacht Rom als Aufrührer ans Kreuz genagelt wurde.

Und er war ein Aufrührer. „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ lautete sein Credo. Das war, wie viele seiner Statements, ein Gleichnis. Seine zahlreichen Feinde haben es liebend gerne wörtlich genommen, um sich seiner zu entledigen. Doch ein Störenfried ist er geblieben, jeder seiner Sätze eine Axt, die das Eis in unseren Herzen spaltet, jedes seiner Worte ein Fußtritt, der eine Wunde in der erstickenden ewigen Nacht der Seele hinterlässt, aus der die Morgenröte eines neuen Tages blutet.

Mitte der 1980er ward mal ein Mann in härenem Gewand mit Wallemähne in Oberammergau festgenommen, der nicht zum Ensemble der Passionsfestspiele gehörte. Er lächelte, sagte kein Wort und hatte keinen Pass. Man war sich schnell einig, ihn in eine Psychiatrie zu bringen. Ich habe die kleine Meldung unter „Vermischtes“ nie vergessen und mich immer gefragt: „Was, wenn ER es war?“

Dostojewski hat das einmal durchgespielt. In seiner Erzählung „Der Großinquisitor“ lässt er Christus auf dem Höhepunkt der Ketzerverfolgung in Spanien des 16. Jahrhunderts erscheinen, wo er mal wieder predigt und Jünger um sich schart. Selbstredend wartet auf ihn der Scheiterhaufen. Gibt es denn eine größere Ketzerei, als zu behaupten, ER zu sein?

In der Nacht vor seiner zweiten Hinrichtung besucht ihn der mächtigste Mann der Katholischen Kirche in seiner Zelle. um ihm klar zu machen, dass es sich hier nicht um ein tragisches Versehen handelt. Der Großinquisitor weiß ganz genau, mit wem er es zu tun hat und wirft Jesus vor, bei der Versuchung in der Wüste die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Statt für des Teufels Sicherheit habe er sich für die Freiheit entschieden und damit die Menschheit ins Unglück gestürzt. Ein Fehler, den die Kirche seit nunmehr 1500 Jahren korrigiere: „Am Ende werden sie uns ihre Freiheit zu Füßen legen und zu uns sagen: ‚Macht uns zu euren Sklaven, aber füttert uns‘.“ Der Großinquisitor ist sich seiner Sache sehr sicher und Jesus schweigt.

Dennoch endet die Geschichte überraschend. Dieses Ende wird hier nicht gespoilert. Sie finden den Text problem- und kostenlos im Internet, und Sie haben jetzt vier Tage Zeit, sich mal wieder mit dem alten Störenfried auseinanderzusetzen.

Glauben Sie mir, es lohnt sich.

Ingo Berghöfer

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