Bild: Helmut Schütz

Mut zur Bürgerlichkeit

Odo Marquard bekannte sich gerade als skeptischer Philosoph zur Bewahrung des bürgerlichen Staates und zu den freiheitlichen Errungenschaften der neuzeitlichen Aufklärung. Die folgenden Zitate sollen dazu anregen, in seinen Schriften weiterzulesen. Die in Klammern angegebenen Stichworte verweisen auf die ausführlichen Literaturangaben in der chronologisch nach Jahreszahlen geordneten Bibliographie mit 103 Schriften von Odo Marquard.

 

Mut zur Bürgerlichkeit

Bewahrenswerte Neuzeit

 

Mut zur Bürgerlichkeit

 

Grund- und Menschenrechte
[D]ie Konzeption und Proklamation von Grund- und Menschenrechten … [soll] in einem juristisch praktikablen Umfang die Rechtfertigungsunbedürftigkeit des Seins und Soseins von Menschen schützen… Gerade die Verwandlung des Menschen in den absoluten Angeklagten erzwingt den Versuch einer Definition und Garantie von Grenzen, innerhalb derer er es niemals ist. Man hat sich angewöhnt, diese Fundamentalrechte auf Abwehr des Legitimationszwangs als Resultate des durch die Geschichtsphilosophie beflügelten Fortschritts zu sehen; der Versuch ist fällig, sie – ganz im Gegenteil – zu begreifen als vorbeugende Maßnahmen zum Schutz vor dessen Tribunalisierungsfolgen: als Phänomene des Ausbruchs in die Unbelangbarkeit. (Angeklagt, 1978, S. 55)

 

Parlamentarische Debatte
Die parlamentarische Debatte steht durch Handlungszwang unter Zeitdruck. Sie ist prinzipiell befristet und trägt dem Rechnung, indem sie nicht bis zum Konsens diskutiert, sondern die Debatte durch Abstimmung beendet, in der durch Mehrheit entschieden wird. (Über-Wir, 1984, S. 49)

 

Minderheitenschutz
[I]n der parlamentarischen Debatte hat jede Teilnehmerformation das Gesprächsziel, den politischen Gegner in den Genuß des Minderheitenschutzes zu bringen … Der Antrag auf Abänderung bedarf der Begründung: die Beweislast hat der Veränderer. (Über-Wir, 1984, S. 50)

 

Gehegter Bürgerkrieg
Parlamentarische Debatte und unendliches Gespräch … replizieren beide … auf das Trauma des konfessionellen Bürgerkriegs, der ein politisch gewordener hermeneutischer Bürgerkrieg war. … Die politische Antwort ist die staatliche Autorität („auctoritas, non veritas, facit legem“), deren nachabsolutistische Form die parlamentarische Debatte ist als „gehegter Bürgerkrieg“. Die hermeneutische Antwort ist die „Literarisierung“ der Hermeneutik („originalitas, non veritas, facit interpretationem“), deren nachaufklärerische Form das unendliche Gespräch ist, das die Pflicht zu einer einzigen heilsabsoluten Interpretation verwandelt in die Lizenz zu einer offenen Vielzahl von heilsfragenentlasteten Interpretationen. (Über-Wir, 1984, S. 51f.)

 

Wandlungstempo und Leitungswasser
Man kann eine Menge Wandlungstempo vertragen, wenn Gehalt und Zeitung regelmäßig kommen, die Technik Not-Überfluß-Schwankungen neutralisiert, der Markt seine Schuldigkeit tut, Administration und Jurisdiktion kalkulierbar bleiben und die an all diesem hängenden Gewohnheiten nicht in Frage gestellt sind. Daß alles fließt, wird aushaltbarer, wenn stets auch – sobald man es braucht – das Leitungswasser fließt. (Über-Wir, 1984, S. 58)

 

Mehrsamkeit
Zwischen Allsamkeit und Einsamkeit liegt für die Menschen das bunte Terrain der Mehrsamkeit: das Feld der multilateralen Gespräche, zu denen die parlamentarische Debatte gehört und das unendliche Gespräch: jenes Gespräch, in dem Normen in kleinen – prozedual geregelten – Schritten korrigiert werden, und jenes Gespräch, in dem man hermeneutisch philosophiert, auch in Sachen Ethik; doch gerade diese multilateralen Gespräche dementieren durchweg die falsche Alternative, daß es nur gebe: diskursiven Konsens oder Gewalt (Habermas), indem sie auf einem Tertium, auf gemeinsamen Selbstverständlichkeiten, aufruhen und dadurch, daß sie geführt werden, bezeugen, daß es diese gemeinsamen Selbstverständlichkeiten gibt. (Über-Wir, 1984, S. 62)

 

Modernitätstraditionalist
[Das] meine ich in meiner Skeptikereigenschaft als Modernitätstraditionalist – es ist nicht Aufklärung, sondern illusionär, die Wandlungsbeschleunigungsschäden der Moderne durch Beschleunigungsüberbietung – und ihre Weltfremdheiten durch Weltfremdheitsüberbietung – beheben zu wollen: mittels Futurisierung des Antimodernismus durch den revolutionären Drang, die Moderne hinter sich zu haben. Denn damit, meine ich, hätte man auch die Aufklärung hinter sich, die – man sollte das deutlich sagen – eine bürgerliche Tradition ist, an der man – um der Nüchternheit willen – festhalten muß durch etwas heute recht Unpopuläres: durch Zustimmung zur eigenen Bürgerlichkeit. (Weltfremdheit, 1984, S. 94f.)

 

Technik – Staat – Gewaltenteilung
Die repräsentativen Philosophien der modernen Welt sind Nicht-Geschichtsphilosophien. … Sie bejahen die modene Welt, weil in ihr – auch und gerade in ihr – der Mensch das sein kann, was er immer war und ist und sein wird, nämlich – auf je eigenem Wege zur Humanität – Mensch… Diese Bejahung des gegenwärtig Vorhandenen … bezieht ihre Evidenz aus dem, was die moderne Welt überwunden hat: etwa daß der Mensch – vor ihr weit mehr das Opfer der Natur: das von Katastrophen, Krankheiten, physischen Mühen und Not – in ihr zum relativen Wohlstand kam: indem es ihm gelang, mit Hilfe der experimentierenden Wissenschaften und der Technik die Natur zur helfenden Größe zu zähmen; oder daß der Mensch aus einem Opfer der Religion, zu dem ihn die konfessionellen Bürgerkriege machten, durch den Staat als Bürger zum relativen Frieden kam; oder daß der Mensch – indem Religion, Staat und Gesellschaft gewaltenteilig wurden – die Chance erhielt, als Individuum zu leben. (Antimodernismus, 1987, S. 94)

 

Überkreuzungsrealisierungen
Der klassische Marxismus proklamierte zur unterdrückten Klasse das Proletariat. Aber – aufgrund des modernen Vorgangs der (positiv zu wertenden) „Verbürgerlichung des Proletärs“, der Blamagen der inzwischen „real existierenden“ heilen Zukünfte und des Prozesses der Überkreuzungsrealisierungen: daß es die bürgerliche Gesellschaft ist, die sozialistische Träume erfüllt, und daß es der „real existierende“ Sozialismus ist, der die von ihm dem Kapitalismus nachgesagten Repressionen perfektioniert – das Proletariat hat in zunehmendem Maße diese Ernennung zum revolutionären Subjekt nicht angenommen. … So werden die unterdrückten Klassen knapp in der modernen Welt. (Antimodernismus, 1987, S. 99)

 

Negationskonformismus
Natürlich können die Geisteswissenschaften auch als Remedien gegen den großen Hang zum Nein wirken, der die Szene beherrscht: Für meinen Geschmack sind sie dann … besonders kritisch: Sie negieren den heutigen Negationskonformismus, das Mitläufertum beim großen Nein zur modernen, zur bürgerlichen Welt. (Moralistik, 1987, S. 111f.)

 

Yugotours
Der moderne Massentourismus ist die Demokratisierung der Bildungsreise, indem er die friedliche Fortsetzung jenes Breitentourismus ist, den früher nur der Krieg bot. Einstmals mußte man in schöne und interessante Länder einmarschieren, damit viele Menschen sie kennenlernen konnten. … Heute bucht man Yugotours. (Moratorium, 1987, S. 67f.)

 

Andersseindürfen
[D]ie Vereinheitlichungen, die Uniformisierungen siegen. … Kompensatorisch und zum Schutz gegen diese Zentralisierungen und Vereinheitlichungen entstehen – spezifisch modern – die Grund- und Menschenrechte als juristisch operationalisierte Lizenzen für jeden, rechtfertigungsfrei und ohne Angst anders zu sein als die anderen, und es wird zu diesem Schutz – spezifisch modern – die Gewaltenteilung entwickelt… bis zur Kultur der vielen Eigenwege zur Humanität… (Vielheit, 1987, S. 36)

 

Nichtkrisenphilosophie
Bisher … hing die Bejahung der modernen Welt an der Überzeugung ihrer Fortgeschrittenheit: am Fortschrittsglauben. Doch gegenwärtig wankt dieser Fortschrittsglaube. Darum kippt das Ja zur modernen Welt um in das emphatische Nein zur modernen Welt. Dagegen – denke ich – kann nur eine Nichtkrisenphilosophie der Moderne an, die von der emphatischen Fortschrittsphilosophie verschieden ist und ein unephatisches Ja zur modernen – zur bürgerlichen – Welt plausibel macht. Ich meine nun: ein aussichtsreicher Kandidat für eine solche nichtfortschrittsphilosophische Nichtkrisenphilosophie der Moderne ist die Philosophie der Kompensation… Dieser Kompensationsgedanke kommt aus dem Argumentationshaushalt der Theodizeen des beginnenden 18. Jahrhunderts, wo man die Welt als zustimmungsfähig begreifen mußte, um Gott als gut denken zu können. (Vielheit, 1987, S. 40)

 

Schwieriges Jasagen
So werbe ich – ganz und gar nicht als Jubeldenker, sondern durchaus als Skeptiker – für ein unemphatisches Ja zur modernen, zur bürgerlichen, zur vorhandenen Welt, also antipostmodernistisch für ein Ja zu jenem „Projekt Moderne“, das die bürgerliche Moderne ist: für ein Ja durchaus zu Unvollkommenem. Meine Rekursinstanz ist die Einsicht: Menschen – auch und gerade die modernen – sind nicht so gut dran, um sich den Luxus des Krisenstolzes und der Totalnegativierung leisten zu können; sie sind viel zu zerbrechlich, um irgendeine Positivität der Welt mißachten und „die Rose im Kreuz der Gegenwart“ übersehen zu dürfen. So – mit solch ganz und gar nüchternem Blick auf das, was in der modernen Welt Nichtkrise ist – ist die Skepsis die konsequent gemachte Verzweiflung. Die nicht konsequent gemachte Verzweiflung bleibt nur Verzweiflung: Sie verkehrt die Philosophie zur Wacht am Nein und steigert allenfalls die Jammerrate, doch das führt zu nichts. Die konsequent gemachte Verzweiflung hingegen ist die Schule der Wahrnehmung des vorhandenen Positiven; sie ersetzt das leichte Neinsagen durch das schwierige Jasagen, das allerdings etwas heute sehr Unpopuläres verlangt: nämlich: mehr Mut zur eigenen Bürgerlichkeit. (Vielheit, 1987, S. 41)

 

Maßvoll erfolgreich
Denn die moderne – die bürgerliche Welt ist keine Unheilsgröße, sondern eine Größe der maßvoll erfolgreichen Minderung der Übel: die bewahrenswerteste der uns historisch erreichbaren Welten. Der heutige Weltzustand ist nicht deswegen ungut, weil es zuviel, sondern deswegen, weil es zuwenig bürgerliche Gesellschaft in ihm gibt. (Gewaltenteilung, 1988, S. 74f.)

 

Zeitalter der Neutralisierungen
Die moderne Welt wird – in wichtiger Weise – zum „Zeitalter der Neutralisierungen“.
Dieser Vorgang bringt den Menschen unbestreitbare Lebensvorteile: sie leben heute unabhängiger von Not, Schmerz und Mühe als je zuvor. (Herkunft 1, 1988, S. 68)

 

Staat – Gewaltenteilung – Menschenrechte
Zugleich entstehen in der modernen Welt … unverzichtbare soziale Errungenschaften: zur Befriedung tödlicher Traditionskollisionen entsteht gerade modern der traditionsneutrale Staat; zur Zähmung seiner Macht, aus dieser Neutralität zurückzufallen, entsteht gerade modern die Gewaltenteilung; und so kommt es – im Einzugsgebiet der bürgerlichen Welt – gerade modern zu den Menschenrechten: zur institutionelle Garantie der egalitären Chance zur Individualität, dem Andersseindürfen für alle. Kurzum: Es gibt in der modernen Welt – unbestreitbar – Fortschritt. (Herkunft 1, 1988, S. 68)

 

Weimarer Republik
[I]n Deutschland [ist] vor den zwölf Jahren des falschen Jasagens fünfzehn Jahre lang falsch nein gesagt worden …: zur Weimarer Republik. Sie wurde weithin nicht angenommen, sondern negiert: teils, weil sie nicht mehr die Monarchie war, der man rechts nachtrauerte, teils, weil sie nicht die Revolution war, die man links erhoffte, sondern eine bürgerliche Republik, die von der bürgerlichen Mitte und vom reformerischen Flügel der Arbeiterbewegung getragen wurde. (Weimarer Republik, 1989, S. 123)

 

Inkarnation der Gewaltenteilung
Erwin Stein … war … in eminenter Weise Mitglied der Legislative… und … in eminenter Weise Mitglied der Exekutive… und … in eminenter Weise Mitglied der Jurisdiktion. Das alles war er nicht gleichzeitig: im Zeichen der Gewaltenteilung geht das ja nicht. Aber durch diese emi|nenten Engagements bei den verschiedenen – geteilten – Gewalten war und ist Erwin Stein für mich – ich riskiere diese paradoxe Formulierung – die Inkarnation der Gewaltenteilung. Auch deswegen also – gerade seinetwegen – Zustimmung zum Land Hessen: Im Land von Stein ist gut sein. (Zustimmung, 1992, S. 13f.)

 

Mut zur Bürgerlichkeit
Zivilcourage ist vor allem der Mut, zivil – also ein civis, ein polites, ein Bürger – zu sein; oder kurz gesagt: Zivilcourage ist der Mut zur Bürgerlichkeit. (Zivilcourage, 1993, S. 123)

 

Ausnahmezustand
Das Bürgerliche erschien als das Falsche: entfremdet, mittelmäßig, langweilig, mit Außerordentlichkeitsdefiziten und ohne Mut zum Ausnahmezustand. Indes: vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet. (Zivilcourage, 1993, S. 125)

 

Unzivilisierte Courage
[W]o das Zivile nicht mehr couragiert ist – wird die Courage unzivilisiert: sie sucht dann das Unmenschliche, um sich dadurch als Courage zu beweisen und den eigenen Ausnahmezustandsbedarf zu decken. So wurde aus der Verweigerung der Bürgerlichkeit die Zerstörung der Bürgerlichkeit. (Zivilcourage, 1993, S. 127)

 

Bundesrepublik
[Die Bundesrepublik:] teils galt sie als Verrat des Abendlandes an das Materielle und Libertinistische, teils galt sie als entfremdungsstabilisierendes Versäumen der sozialistischen Revolution. Aber die Bundesrepublik ist kein mißlungenes Abendland und keine mißlungene Revolution, sondern eine gelungene Demokratie, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Bürgerlichkeit. (Zivilcourage, 1993, S. 128)

 

Zivilcourage
Zivilcourage … ist vor allem auch die Courage zum Widerstand gegen diese Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein: die Opposition gegen die Trennung von Gewissenhaben und Gewissensein und die Option für die Zusammengehörigkeit von Gewissenhaben und Gewissensein mit der Erfahrung, daß nur diejenigen Menschen wirklich Gewissen sein können, die zugleich Gewissen haben. (Zivilcourage, 1993, S. 131)

 

Parlament
Die primäre Repräsentation der modernen repräsentativen Demokratie ist nicht die Kunst, sondern sind die Organe der Repräsentation des Souveräns, des Volks, also vor allem das Parlament. Hinzu kommen die anderen – geteilten – Gewalten dieser liberalen Staatsform, und erst dann kann man auch nach indirekten Repräsentationen Ausschau halten. (Repräsentation, 1993, S. 38)

 

Entpflichtete Repräsentation
In der liberalen Demokratie geschieht ihre ästhetische Repräsentation ganz und gar indirekt: indem sie die Kunst – dadurch daß sie ihrer Freiheit Verfassungsrang gibt, aber auch durch Ehre und Geld – gerade ohne politische Repräsentationsauflagen fördert, also nicht zuletzt auch durch Entpflichtung der Kunst von der politischen Repräsentation.
Die ästhetische Kunst ist also – in der liberalen Demokratie – entpflichtete Repräsentation. (Repräsentation, 1993, S. 39)

 

Modernisierung und Bewahrungskultur
[Die] Wende zur bürgerlichen Welt entfaltet zum Nutzen der Menschen, was die bürgerlichkeitsverweigernde Finalisierung behindert und preisgibt: die wissenschaftliche, technologische, ökonomische Modernisierung der Verhältnisse mit Sinn für die Freiheitswirkung des Eigentums, des Marktes, der Konkur|renz und des Wohlstandes. Wer freilich nur diese eine abstrakte Seite der bürgerlichen Welt sieht – das Moment „Zukunft“ als „System der Bedürfnisse“ und Arbeit und die Verwandlung der Wirklichkeit in Sachen – nimmt die bürgerliche Welt nur halb wahr: Als Gefangener kapitalismuskritischer Merkverbote durch die finalisierende Revolutionsphilosophie, etwa des Marxismus, verdrängt er, was die bürgerliche Welt – kompensatorisch zu ihren Versachlichungen – auch noch und ebensosehr ist: nämlich die Welt der „Herkunft“, der Familie, der sittlichen Üblichkeiten, der Religion, der bunten (und trotz allem überwiegend intakten) Traditionen, deren Pluralität Individualität ermöglicht, und der Bewahrungskultur als Freiheiten, die in der bürgerlichen Welt geschützter sind als in nichtbürgerlichen Verhältnissen. Denn: Durch ihre Rechtsverhältnisse ist die bürgerliche Welt das Reich der Gewaltenteilung; sie schützt „Zukunft“ und „Herkunft“ vor ihrer Gleichschaltung. (Bürgerlichkeit 1, 1994, S. 98f.)

 

Bourgeois und citoyen
Ich vernachlässige absichtlich die Unterscheidung zwischen bourgeois und citoyen; denn der bourgeois – der Besitz-, Lohn- und Wirtschaftsbürger – erwirtschaftet die Subsistenzmittel, ohne die der mündig politische citoyen nicht selbstbestimmt leben kann. (Bürgerlichkeit 1, 1994, S. 100)

 

Mehr Nichtkrise als Krise
Es gibt zur bürgerlichen Welt keine für uns historisch erreichbare Alternative, die wünschenswert wäre. … Sie ist – durch die Freiheitswirkung der Gewaltenteilung als kompensierte Welt – mehr Nichtkrise als Krise. (Bürgerlichkeit 1, 1994, S. 101)

 

Langweilig und allzumenschlich
Die liberale Bürgerwelt bevorzugt … das Mittlere gegenüber den Extremen, die kleinen Verbesserungen | gegenüber der großen Infragestellung, das Alltägliche gegenüber dem „Moratorium des Alltags“ …, das Geregelte gegenüber dem Erhabenen, die Ironie gegenüber dem Radikalismus, die Geschäftsordnung gegenüber dem Charisma, das Normale gegenüber dem Enormen, kurzum: die Bürgerlichkeit gegenüber ihrer Verweigerung. So ist die bürgerliche Welt – auch weil die Lebensvorteile, die sie bringt, als selbstverständlich gelten – nicht sehr aufregend, ein wenig langweilig und reichlich allzumenschlich. Darum gibt es die, denen die ganze bürgerliche Richtung nicht paßt, weil sie ihren Außerordentlichkeitsbedarf nicht deckt und die Erziehungsbegierde und das Machtbedürfnis der Außerordentlichkeitshüter und radikalen Weltverbesserer nicht befriedigt. (Bürgerlichkeit 1, 1994, S. 105f.)

 

Eigentlichkeit
Beide Existentialismen – der von Heidegger und der von Sartre – fordern vom Menschen, nicht bürgerlich, sondern „eigentlich“ zu leben; beide sind – im Namen des Ausnahmezustands der Eigentlichkeit – Verweigerungen der Bürgerlichkeit, die enden, wie eben Bürgerlichkeitsverweigerungen politisch enden: totalitär. (Bürgerlichkeit 2, 1995, S. 92)

 

Frieden mit dem Alltag
Die bundesrepublikanische Nachkriegszeit war – etwa durch den Wiederaufbau – der erfolgreiche Versuch, gegen die Faszination durch kriegerische und totalitaristische Moratorien des Alltags, Frieden mit dem Alltag zu schließen: dadurch war sie eine entschieden vernünftige ausdrückliche Reaktion auf den Nationalsozialismus und seinen Krieg. (Bürgerlichkeitsverweigerung, 1995, S. 31)

 

Ordinarienuniversität
Generell ging es um die Wiederherstellung einer – institutionell, auch baulich – arbeitsfähigen Universität. Der Rückgriff auf die Ordinarienuniversität nach dem Vorbild der Ordinarienuniversität der Weimarer Republik war in weiten Teilen die Antwort auf die NS-Dozentenbunds-Universität, die den Versuch gemacht hatte einer Politisierung der Universität und einer Steuerung durch das „Braune Haus“. Ich habe bei dieser Ordinarienuniversität nach 1945 die Erinnerung an große Lebendigkeit und Liberalität. Die Lesewelle in der zweiten Hälfte der 40er Jahre ist stärker gewesen als die damalige Freßwelle. (Bürgerlichkeitsverweigerung, 1995, S. 33)

 

Politische Mitte
Die Schwärmerei für antibürgerliche Diktaturen – rechte und linke – ist verderblich: man muß sie politisch überflüssig machen durch politische Stärkung der politischen Mitte, bei der man dann darum streiten kann, ob sie besser eine reformistische oder eine konservative Mitte ist: die parlamentarische Demokratie verfügt ja über die Verfahren, dies – jeweils auf Zeit – mal so, mal so zu lösen. Nicht die Verweigerung der Bürgerlichkeit ist geboten, sondern die Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung: der Mut zur Bürgerlichkeit. Das ist es, was ich durch 1945 und nach 1945 gelernt habe. (Bürgerlichkeitsverweigerung, 1995, S. 36f.)

 

Krieg gegen den Irak
Spiegel: Bleibt der Skeptiker auch im Kaffeehaus sitzen, wenn ein Krieg gegen den Irak droht?
Marquard: Joachim Ritter hat eine Weile in der Türkei gelehrt. Er sagte, die schiere Modernisierung im Stile Atatürks allein sei es nun auch nicht. Es komme auf die Balance zwischen der Wahrung islamischer Traditionen und der Modernisierung an. Das gilt auch für den Irak. Allerdings bin ich mit der ursprünglichen Haltung unserer Regierung – auf keinen Fall Krieg, auch nicht, falls die Vereinten Nationen ihn beschließen – nicht einverstanden. Diese Festlegung vom Herbst, dieses Nein von vornherein war ein diskursiver Präventivschlag, typisch für die Generation der 68er, die kein Gewissen zu haben brauchte, weil sie ja das Gewissen selbst war. Die friedenstheoretische Festlegung, einen Krieg von Anfang an auszuschließen und immer wieder rein politische Lösungen anzustreben, ist ja nicht durchzuhalten, sobald eine reale Bedrohung eine Notwehr erfordert.
Spiegel: Aber diese Festlegung entlastet uns und schont die Welt – das müsste Ihnen doch eigentlich sympathisch sein.
Marquard: Ja und nein, denn es fehlt in dieser frühen Festlegung das ernste Gespräch mit denen, die anders denken. Unsere Regierung hätte von Anfang an mit den anderen Europäern und der UNO sich beraten müssen. Und sollte der Mehrheitsentscheidung des Sicherheitsrats ganz pragmatisch folgen. (Götter, 2003, S. 154)

 

Bewahrenswerte Neuzeit

 

Mißlingen der Neuzeit
[D]ie Geschichtsphilosophie [ist] nicht Neuzeit, in ihr mißlingt die Neuzeit. Sie will ohnehin ein Ende machen; so macht sie und ist sie das Ende der Neuzeit und damit – indem sie zwar selber das Gegenteil meint – nicht das gute Ende einer schlimmen, sondern das schlimme Ende einer guten Zeit. (Schwierigkeiten, 1973, S. 16)

 

Profanität
Gegen diese gnostische Häresie und ihre Rezidive … ist nicht nur die christliche Kirche entstanden und die mittelalterliche Philosophie, die gegen den direkten den indirekten Gott wiederherstellte, dem man die Ehre gibt, indem man seiner Welt und den menschlichen Verrichtungen in ihr angemessen die Ehre gibt, sondern schließlich auch jenes Zeitalter, von dem meine Überlegung ausging: die Neuzeit. Auch und gerade die Neuzeit, die moderne Welt – als das Zeitalter der Neutralisierungen der direkten Sinnintention -, ist der große Versuch, dem Sinn – als Glück – seine Indirektheit wiederzuverschaffen und zu retten: das geschieht notfalls … gegen den Gott religiöser Eschatologien (wo diese – wie in den Konfessionsbürgerkriegen – zum Auslöser direkter Sinnstreitigkeiten mit blutigen und tödlichen Folgen werden) durch den Schritt dann in die Profanität, der das Religiöse neutralisiert. (Sinnerwartung, 1983, 45f.)

 

Bonität der Welt
Die Neuzeit – das ist der Kern der These Blumenbergs – verteidigt die Welt und ihren Schöpfergott gegen ihr Ende, und zwar durch Nachweis ihrer grundsätzlichen Bonität: das gilt für die erste – mißlungene – Neuzeit, das Mittelalter, und es gilt erst recht für das zweite – durch die Gegenneuzeit gelingensgefährdete – Mittelalter, die Neuzeit: beide sind – gegen den eschatologischen Enthusiasmus des Schlußmachens mit der Welt – konservative Zeitalter. (Gegenneuzeit, 1984, S. 32)

 

Entdramatisierung und Beunruhigungsnostalgien
Die Neutralisierung ent-eschatologisiert die Lebensprobleme. … der letzte dramatische Vorgang der Neuzeit war ihre Entdramatisierung. Fortan fehlt die eschatologische Sensation; der menschliche Häretisierungsappetit bleibt ungestillt; es entstehen Beunruhigungsnostalgien, denn man hat – und zwar gerade wegen des Erfolgs der Aufklärung – das Trauma vergessen, gegen das die Neuzeit entstand. Jedenfalls: das Resultat der Aufklärung ist – auch – ein Aufregungsdefizit. (Gegenneuzeit, 1984, S. 34f.)

 

Bewahrenswerteste Welt
Die Neuzeit – als Zeitalter der Neutralisierungen – ist die bewahrenswerteste der für uns historisch-lebensmäßig erreichbaren Welten. (Polytheismus 2, 1984, S. 82)

 

Traditionsneutral
Die moderne Welt beginnt dort, wo der Mensch methodisch aus seinen Traditionen heraustritt: wo sich seine Zukunft aus seiner Herkunft emanzipiert. … die großen Potenzen der Modernisierung arbeiten der Tendenz nach traditionsneutral. (Herkunft 1, 1988, S. 67)

 

Moderne als Post-Postmoderne
Was kommt nach der Postmoderne? Ich meine: die Moderne. Die Formel „Postmoderne“ ist entweder eine antimodernistische oder eine pluralistische Losung. Als antimodernistische Losung ist sie eine gefährliche Illusion; denn die Abschaffung der modernen Welt ist keineswegs wünschenswert. Als pluralistische Losung bejaht sie ein altes und respektables modernistisches Motiv; denn die moderne Welt: das war und ist Rationalisierung plus Pluralisierung. (Vorbemerkung Aesthetika, 1989, S. 7)

 

Renaissance und Sattelzeit
Die moderne Welt beginnt mindestens zweimal: vom 14. bis zum 16. Jahrhundert mit der Renaissance und ab 1750 mit der von Reinhart Koselleck so getauften „Sattelzeit“, der Zeit der Beschleunigungen und Singularisierungen, durch die die moderne Welt immer moderner wird. In unserer Gegenwart aber ist nicht mehr nur vom Beginn der Neuzeit – vom Anfang der modernen Welt – die Rede, sondern auch und fast mehr noch vom Ende der Neuzeit, von der Postmoderne, in der man die Neuzeit hinter sich haben will. Doch es bleibt umstritten, ob das wünschenswert ist und gelingt. Wahrscheinlich überdauert die Moderne die Postmoderne. Jedenfalls gibt es zugleich die Meinung, daß die Neuzeit keineswegs zu Ende ist und daß dies gut sei. (Innovationskultur, 1995, S. 83)

 

Gegenwartsaffirmation
[D]ie gegenwartsbezogen promodernistische Interpretation der Mittelalter-Neuzeit-Zäsur: Das Vorher war negativ, die Gegenwart ist positiv; das Mittelalter war finster, die moderne Welt ist hell, sie ist Renaissance, Reformation, Aufklärung, Fortschritt. … Das ist Gegenwartsaffirmation durch Vergangenheitsnegation. (Innovationskultur, 1995, S. 84)

 

Vergangenheitsaffirmation
[D]ie vergangenheitsbezogen antimodernistische Interpretation der Mittelalter-Neuzeit-Zäsur: Das Vorher war positiv, die Gegenwart ist negativ; das Mittelalter war heil und hell, die moderne Welt als Renaissance, Reformation, Aufklärung, Fortschritt ist verdorben und finster. … Das ist Gegenwartsnegation durch Vergangenheitsaffirmation. (Innovationskultur, 1995, S. 84f.)

 

Zukunftsaffirmation
[Der zukunftsbezogene] Antimodernismus, den man auch futurisierten Antimodernismus nennen kann. … Das ist Gegenwartsnegation nicht durch Vergangenheitsaffirmation, sondern durch Zukunftsaffirmation. Der entscheidende Schritt wird der Schritt in die Zukunft; die entscheidende Epochenschwelle wird die Schwelle zur Zukunft. Das bedeutet: Nicht mehr der Schritt in die Renaissance, nicht mehr die Mittelalter-Neuzeit-Zäsur ist der zentrale Epocheneinschnitt, sondern der Übergang der Neuzeit in die Nachneuzeit. (Innovationskultur, 1995, S. 85)

 

Posthistoire und Postmoderne
Für Posthistoire und Postmoderne ist der Zustand nach der Geschichte und nach der Moderne nicht mehr das Reich der Freiheit und nicht mehr der Himmel auf Erden, sondern – wenn nicht der Friedhof der Menschheit – bestenfalls ihr Altersheim, wo nichts mehr passiert und alle aufgeregt sind. … Das bedeutet … eine Zäsurwanderung: die Wanderung der entscheidenden Grundzäsur aus der Vergangenheit in die Zukunft… (Innovationskultur, 1995, S. 86)

 

Epochenschwellenentschwellungsmittel
Die Futurisierung des Antimodernismus durch ihre Verla|gerung des dramatischen Akzents auf die Neuzeit-Nachneuzeit-Zäsur entdramatisiert die Mittelalter-Neuzeit-Zäsur. … Die am großen Abstand zwischen dem Vormodernen und dem Modernen interessierten Einstellungen werden verlassen. Die genannte Zäsurwanderung wirkt als Epochenschwellenentschwellungsmittel. Zäsurübergreifende Tatbestände werden enttabuisiert. … Das Mittelalter darf jetzt nicht mehr nur als Blockade jener Innovationen verstanden werden, die jede Herkunft braucht, wenn sie Zukunft haben will; es darf jetzt auch als Abschnitt der Überlieferungsgeschichte jener Antike gelten, auf die die Renaissance zurückgriff. (Innovationskultur, 1995, S. 87)

 

Kontinuitätskultur
Es ist die unterbrochene Kontinuität der Antike, die – wie sattsam bekannt – die Renaissance wieder aufnimmt… ∫ … all das… war nicht der Schritt ins nie dagewesene Neue, sondern jener Schritt ins Neue, der ein Schritt ins Alte war: in die Wieder-Holung der Antike und alsbald – reformatorisch – in die Wieder-Holung der Bibel. Darum war die Renaissance der Aufbruch ins Neue so, wie Menschen – endliche Wesen – ins Neue aufbrechen können: auf dem Weg durch das Alte. Menschen können Innovationsbelastungen aushalten, doch nicht beliebig viele, nicht ohne Kontinuitätskultur. (Innovationskultur, 1995, S. 88)

 

Wachstum durch Kappung
1952 hat der Altgermanist und Etymologe Jost Trier in seinem Buch Holz, Etymologien aus dem Niederwald das 14. Kapitel überschrieben: „Renaissance“. … Mit renasci, rinascità, renaissance, Wiederwachsung oder Wiederwuchs war ursprünglich vor allem dies gemeint: daß man planmäßig und großflächig Bäume kappte, die daraufhin rings um ihre Kappungsfläche mit erhöhter Vitalität und beschleunigtem Holzertrag Ruten und Triebe hervorsprießen ließen… | … Wachstum durch Kappung, bonum durch malum, das ist – indem das Mittelalter weggekappt wird – das Strukturgesetz der durch Beschädigung stimulierten Innovationskultur der Renaissance. Renaissance: Das ist Innovationskultur als Kontinuitätskultur. Denn die neuen Triebe gehören zum alten Baum und sind ohne diesen alten Stamm ebensowenig möglich wie ohne den kappenden Hieb. Als Renaissance sind dabei Innovation und Kontinuität identisch. Aber im Fortgang der Neuzeit – je moderner die moderne Welt wird – bleibt es nicht bei dieser Identität… Je mehr durch die Modernisierungspotenzen der Neuzeit aus Innovation Innovationsüberlastung wird, desto dringender braucht es eine eigene und sozusagen zweite Anstrengung, um – nun nicht mehr als Renaissance, sondern immer stärker als Kompensation – die nötige Kontinuitätskultur zu leisten. (Innovationskultur, 1995, S. 90f.)

 

Aufklärung
Die wichtigsten philosophischen Ergebnisse Lübbes lassen sich vielleicht in folgende vier Thesen zusammenfassen:
1. Wir leben und denken „nach der Aufklärung“. … Die Aufklärung ist in der modernen | Welt grundsätzlich – und zustimmungsfähig – erfolgreich. Sie ist keine nur bevorstehende, sondern eine in erheblichem Maß schon geleistete Arbeit. (Aufklärung, 1996, S. 121f.)

 

Fortschritt
2. Krisenträchtig ist – in der modernen Aufklärungswelt – der Fortschritt nicht deshalb, weil er durch „verkrustete Strukturen“ gebremst wird, sondern weil er zu ungebremst verläuft. (Aufklärung, 1996, S. 122)

 

Kontinuität
3. Dieses Beschleunigungsproblem wird nicht durch revolutionäre Beschleunigungsüberbietungen, sondern durch die Ausbildung einer modernen Kontinuitätskultur gelöst oder wenigstens erträglich. (Aufklärung, 1996, S. 122)

 

Religion
4. Durch den Aufklärungsfortschritt wird unsere Wirklichkeit immer beherrschbarer. Doch gerade dadurch wird immer deutlicher, daß wir Menschen nie alles beherrschen werden: Unverfügbar bleiben die Kontingenzen, also Geburt, Tod und andere Schicksalsschläge. Darum braucht gerade die moderne Expansion der Wirklichkeitsbeherrschung die „Kontingenzbewältigungspraxis“ der Religion. Sie stirbt durch die erfolgreiche Aufklärung nicht nur nicht ab, sondern ganz im Gegenteil: Je aufgeklärter die moderne Welt wird, desto unentbehrlicher wird die Religion. (Aufklärung, 1996, S. 122f.)

 

Fortschrittskonservativ
Erfolge der Aufklärung muß man – fortschrittskonservativ – bewahren, sonst wird man zum Aufklärungsverweigerer. Gegen die, die nie etwas ändern wollen, und gegen die, die aus jeder vorhandenen Lage aussteigen, argumentiert Hermann Lübbe zugleich streitbar und gelassen. … Hermann Lübbes Philosophie … wurde zur besonnensten und lebensklügsten Form der philosophischen Aufklärung, die wir heute haben. (Aufklärung, 1996, 1996, S. 123)

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