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Ralph Davidson: „Kapitalismus, Marx und der ganze Rest“

Ralph Davidson vertritt die These, dass der Marxismus als ein System staatlicher Moral scheitern musste. Der bis heute erfolgreiche Kapitalismus hatte seinen Ursprung in einem „jüdischem Liberalismus“ und konnte sich durchsetzen, nachdem mittelalterliche Dogmen wegfielen, die den „Kredit und vor allem die Kreditzinsen“ als „zutiefst unsittlich“ gebrandmarkt hatten.

Meine Besprechung seines Buches setzt an einigen Stellen kritische Fragezeichen.

Zahnräder, auf denen Teile von Banknoten zu erkennen sind, als Symbol für den Kapitalismus
Wer hat die Räder des Kapitalismus in Gang gesetzt? Bild: Gerd AltmannPixabay)

Inhalt der Buchbesprechung

Sehr geehrter Herr Dr. Davidson

Haben Sie wirklich die erste wahre Geschichte des Kapitalismus geschrieben?

Hat der Marxismus keinerlei Erfolge zu verzeichnen?

Ist der Marxismus eine politische Ökonomie oder ein System staatlicher Moral?

Sind Kapitalisten grundsätzlich kalkulierbarer als Politiker?

Entstand der Kapitalismus durch den Wegfall mittelalterlicher Dogmen?

Sind die ersten 1000 Jahre christlich-abendländischer Geschichte durch Quellen unbelegbar?

Gab Martin Luther „Sympathieerklärungen für das Raubrittertum“ ab?

Ging der Kapitalismus auf die Juden zurück und nicht auf den Protestantismus?

Entstand die Moderne aus einem Kampf zwischen jüdischem Liberalismus und christlichem Fundamentalismus?

Wie können Hunger und Armut in der Dritten Welt überwunden werden?

Sehr geehrter Herr Dr. Davidson,

als erstes Ihrer Bücher las ich „Kapitalismus, Marx und der ganze Rest“ (Verlag Utopia Boulevard 1995) [alle farbig hinterlegten Zitate auf dieser Seite stammen aus diesem Buch], und es sprach mich insofern sehr an, als ich mich im einleitenden Kapitel durch Ihre Ihre relativ frustrierenden Erfahrungen mit der 68er-Bewegung – als einer der „kleinen Brüder … der 68er Revolutionäre“ (S. 10) – an meine universitären Erfahrungen an einer weitgehend links geprägten theologischen Fachschaft der 70er Jahre erinnert fühlte.

Viele Ihrer Erwägungen über den Niedergang des real existierenden Sozialismus und die gleichfalls scheiternden Illusionen westlicher Anhänger des Marxismus kann ich teilen.

Ob allerdings wirklich „die Theologen“ die „einzigen“ waren, die zu einem von Ihnen nicht näher bezeichneten Zeitpunkt „noch auf Marx schwörten“, mag ich nicht uneingeschränkt bejahen (S. 14). Der von Ihnen erwähnte Helmut Gollwitzer prägte mich zwar als theologischer Lehrer intensiv, und ich schätzte neben seiner seelsorgerlichen Glaubenshaltung, die er bereits in russischer Kriegsgefangenschaft bewährt (und in seinem Buch „…und führen, wohin du nicht willst“ beschrieben) hatte, auch seine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Aber tatsächlich marxistische Positionen haben auch in der Kirche sicher nur die wenigsten vertreten.

Haben Sie wirklich die erste wahre Geschichte des Kapitalismus geschrieben?

Skeptisch gegenüber Ihrem Buch hat mich allerdings von vornherein gestimmt, dass Sie sich bereits im Vorwort für den „polemisch-zynischen Grundton“ Ihrer Ausführungen entschuldigen, von denen viele „sicher genervt sein“ werden. Ich stimme Ihnen zu, dass „eine offene Gesellschaft … auch etwas Kritik vertragen können“ sollte (S. 8). Allerdings bin ich grundsätzlich für sachliche Kritik, die gut begründet ist und Andersdenkende mit Respekt behandelt.

Und ich muss zugeben, dass ich dazu neige, ein Buch, das mit selbst erteilten Vorschusslorbeeren beginnt, mit besonders kritischen Augen zu prüfen. Gleich im allerersten Satz Ihres Buches schreiben Sie, dass Sie versucht haben, „die erste wahre Geschichte des Kapitalismus zu schreiben“ (S. 7). Dadurch wecken Sie außerordentlich hohe Erwartungen, nämlich dass man wirklich gute, fachlich fundierte Argumente erhält, die Ihre alternative Sichtweise hieb- und stichfest untermauern.

Hat der Marxismus keinerlei Erfolge zu verzeichnen?

Ich gebe zu, nicht wirklich beurteilen zu können, welche messbaren Erfolge der Sozialismus marxistischer Prägung tatsächlich mit sich gebracht hat. Ein paar Fragezeichen setze ich aber hinter Ihre grundsätzliche Anzweiflung jeden Einflusses der „kommunistischen Idee“ oder der Arbeiterbewegung auf soziale Errungenschaften wie Bismarcks Sozialgesetzgebung oder auf die Beseitigung frühkapitalistischer Zustände.

Sie schreiben (S. 16):

„es ist ja im ureigensten Interesse jedes Staates (und der Gesundheitsindustrie), daß Kranke und Alte durch Zwangsversicherungen abgesichert sind und nicht womöglich dem Staat zur Last fallen oder ihre Rechnung bei den Ärzten nicht bezahlen können.“

Wenn dieser Satz allgemeingültig wäre, warum war und ist „Obama-Care“ in den USA dermaßen umstritten, warum haben die Kapitalisten dort nicht schon seit langem eine Krankenversicherung wie bei uns eingeführt? (Vielleicht sollten Sie Ihre Idee mal Donald Trump nahebringen.)

Dass Bismarck kein Linker war, ist unbestritten, aber es ist nach wie vor gut zu begründen, dass er die Sozialgesetzgebung vor allem deswegen durchsetzte, um der an die Macht drängenden Arbeiterbewegung das Wasser abzugraben. Dass „auch die christlichen Zentrumsparteien die Lösung der ‚sozialen Frage‘ durch staatliche Maßnahmen“ unterstützten (S. 16), hat schlicht denselben Grund, denn die Sozialdemokratie schien mit ihrem programmatischen Atheismus und Antiklerikalismus auch die Grundfesten der christlichen Kirchen zu bedrohen.

Recht gebe ich Ihnen darin, dass die herrschenden Kreise in Europa offenbar merkten, dass der Kapitalismus durch die Berücksichtigung der sozialen Frage noch stärker wurde, sozusagen ein „menschlicheres Gesicht“ bekam und weniger anfällig gegen ständigen Aufruhr von unten wurde. Warum hätten der Nationalsozialismus oder erst recht die Architekten der „Sozialen Marktwirtschaft“ nach dem Zweiten Weltkrieg ein derart funktionierendes Modell aufgeben sollen?

Sie bezweifeln auch „die offiziöse Theorie“ – wer legt Ihrer Ansicht nach eine solche fest? – (S. 16),

„daß die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften überhaupt dafür verantwortlich sind, daß es den Arbeitern und Angestellten hier materiell so gut geht“.

Aus meiner Kindheit erinnere ich mich allerdings noch gut, wie zum Beispiel die IG Metall den Arbeitgebern die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall tatsächlich „abgetrotzt“ hat (mein Vater war Arbeiter in einer Emaillierfabrik). Ganz so freiwillig waren die Vertreter des Kapitalismus also auch unter Adenauer und Erhard nicht bereit, von ihren Gewinnen etwas abzugeben.

Dass „Länder mit eher friedlichen Gewerkschaften“ reicher sind als „Länder mit sehr politisch aktiven Gewerkschaften“ (S. 17) mag viele Gründe haben, zum Beispiel, dass eingespielte Strukturen von Tarifverhandlungen und die Vermeidung von Arbeitskämpfen, die hohe Kosten verursachen, für beide Seiten als erfolgversprechender angesehen werden.

Vielleicht ist es ja auch umgekehrt: da es in Ländern mit hoher Produktivität mehr zu verteilen gibt, können Kapitalisten in reichen Ländern auch den Arbeitnehmern mehr vom „Kuchen“ abgeben. Das ist wohl auch der entscheidende Grund für freiwillige übertarifliche Zahlungen der Arbeitgeber. Im Wettbewerb mit anderen Unternehmen hat derjenige einen Vorteil, der es sich erlauben kann, gute Arbeitskräfte mit Sonderzahlungen für sich zu gewinnen. Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, dass es überhaupt keine Studien über den „Zusammenhang von politischer Stärke der Gewerkschaften und materiellem Wohlstand der Arbeitnehmer“ gibt, wie Sie annehmen (S. 17).

Ist der Marxismus eine politische Ökonomie oder ein System staatlicher Moral?

Auf S. 22 vermuten Sie:

„Ich glaube, die Tragik des Karl Marx und die Tragik der marxistischen politischen Systeme liegt in der schlichten Tatsache begründet, daß der Marxismus versucht, mit moralischen Kategorien wirtschaftliche Zusammenhänge zu erklären und zu ordnen, und daß der geballte Einsatz staatlicher Moral auf die wirtschaftenden Menschen fatale Folgen hat.“

Damit mögen Sie Recht haben – wobei ich nicht ganz sicher bin, ob Sie Marx selber wirklich gerecht werden. Ist es nicht das Wesen der eigentlich Marx‘schen Analyse von Klassenkämpfen, dass die Ungerechtigkeit der Verhältnisse gerade nicht moralisch bewertet wird? Vielmehr wird die Abschöpfung des Mehrwerts durch die Kapitaleigner doch als ihr verständliches Eigeninteresse erklärt, während die teils um die Frucht ihrer Arbeit betrogene Arbeiterschaft daran interessiert sei, den Klassengegensatz aufzuheben.

Allerdings, selbst wenn die Marx‘schen Thesen über den von Kapitalisten angeeigneten Mehrwert stimmen, hat es nicht wirklich einen historisch-materialistisch ablaufenden Automatismus gegeben, durch den der Kapitalismus inzwischen längst abgeschafft sein müsste. Ein Grund dafür ist sicher die Abfederung der Nachteile des Kapitalismus durch die oben erwähnten sozialen Errungenschaften, ein anderer Ihre Einsicht, dass

„Kapitalisten …, wenn sie einen Funken Verstand haben, ihr Geld in Ländern anlegen, in denen der Mehrwert nicht auf seinen ungerechten Teil hin untersucht wird“ (S. 23).

Die „Tragik des Karl Marx“ mag dann wirklich darin bestehen, dass man das, was er und Engels als ökonomische Gesetzmäßigkeiten ansahen, in moralische Kategorien überführte – mit fatalen Folgen. Sicher war es ein Fehler seiner Theorie, darauf zu bauen, dass der Kapitalismus von selbst zu Grunde gehen würde, so dass Lenin, Stalin, Mao und andere Nachlassverwalter des Marxismus sich gezwungen sahen, mit staatlichen Mitteln durchzusetzen, was eben doch nicht von alleine funktionierte.

Sehen Sie das nicht auch so, wenn Sie auf S. 26 die Erwähnung des Marxismus „in den Kulturteilen der links-liberalen Zeitschriften“ wenig sinnvoll finden, weil er „dort von seinen politökonomischen Aspekten befreit und … lediglich als moralische Kategorie benutzt“ wird? Ganz verstehe ich nicht, was genau Sie wirklich meinen. Hat Marx eine sinnvolle politische Ökonomie entwickelt, die später in staatliche Moralisierung umgewandelt wurde? Oder hat er selber einer Ricardo‘schen Ökonomie moralische Kategorien übergestülpt? Oder hat er Ihrer Ansicht seine Theorie aufgegeben, egal worin sie bestand?

Sind Kapitalisten grundsätzlich kalkulierbarer als Politiker?

Dem historisch widerlegten Marxismus und den Idealen sämtlicher Politiker stellen Sie den Kapitalismus als wirtschaftlich und sozial weltweit erfolgreiche Alternative gegenüber. Auf S. 26 sagen Sie,

„daß Kapitalisten kalkulierbarer sind als Politiker. Kapitalisten wollen einen anständigen Profit erzielen, nicht mehr und nicht weniger. Politiker dagegen verfolgen alle möglichen Absichten. … Das internationale Kapital aber ist kosmopolitisch und an Kriegen nicht interessiert. Schon deshalb könnte es uns symphatisch sein.“

Aber muss man nicht in der Einschätzung der Kapitalisten genau so differenzieren wie bei den Politikern? Nicht jeder Kapitalist will nur einen „anständigen Profit“, es gibt auch Habgier, die die Verelendung großer Bevölkerungsgruppen in Kauf nimmt. Und gerade die Waffenindustrie ist durchaus auch daran interessiert, dass ihre Produkte irgendwo auch eingesetzt und verbraucht werden.

Entstand der Kapitalismus durch den Wegfall mittelalterlicher Dogmen?

Auf S. 28 gehen Sie davon aus, dass Aktiengesellschaften erst im 19. Jahrhundert gegründet werden konnten,

„weil vorher dafür die weltanschaulichen und damit natürlich auch die gesetzlichen Voraussetzungen gefehlt haben. Das ganze Mittelalter hindurch war der ‚mittelalterliche Mensch‘ ja der Meinung gewesen, der Kredit und vor allem die Kreditzinsen seien zutiefst unsittlich. … Mit dem Wegfall der Dogmen und der dazugehörigen Gesetze, also mit der bloßen Beseitigung der Schikanen für das wirtschaftende Bürgertum, explodiert dann fast zwangsläufig die Wirtschaftsaktivität und beschert England, dem Deutschen Reich und den USA ein solides Wirtschaftswachstum.“

Aber gab es nicht schon im Mittelalter reiche Kaufleute und Bankiers wie die Fugger, die sogar Königshäuser und Päpste finanzierten?

Sind die ersten 1000 Jahre christlich-abendländischer Geschichte durch Quellen unbelegbar?

Zur christlichen Quellenlage schreiben Sie (S. 30):

„Es stehen uns ja praktisch erst seit der karolingischen Renaissance Originaldokumente zur Verfügung, was bedeutet, daß die ersten 1000 Jahre christlich-abendländischer Geschichte praktisch unbelegbar sind. (Was aber niemanden zu stören scheint.)“

Würden Sie also pauschal behaupten, dass alles, was durch Abschriften von Dokumenten aus früheren Zeiten überliefert ist, grundsätzlich als unzuverlässig, wenn nicht gar als Fälschung zu betrachten ist? Etwa alle biblischen Handschriften, alle Werke des Augustinus usw.?

Sie sehen als „die erste belegbare Manifestation christlichen Ordnungswillens das Corpus Juris Canonici, das verbindliche katholische Gesetzbuch, aus dem Jahre 1140“ an und bezweifeln, dass es sich dabei um „die Sammlung alter, schon immer geltender Gesetze“ handelt. Worauf stützen Sie Ihre Vermutung, dass es „wahrscheinlicher aber wohl neue Gesetze“ waren, „durch die vermutlich die frühmittelalterliche industrielle Revolution abgewürgt wurde“? Es wäre ja interessant zu erfahren, auf welche Quellen Sie eine so weitreichende Annahme stützen können.

Gab Martin Luther „Sympathieerklärungen für das Raubrittertum“ ab?

Die erste Quelle, auf die Sie sich ausführlich beziehen, nämlich Martin Luthers „Sermon vom Wucher“, qualifizieren Sie sofort als „eine eigentümliche Symphatieerklärung für das Raubrittertum“ (S. 30) ab.

Das ist aber ein Missverständnis. Luthers Ausführungen über das freiwillige Geben und Leihen, ohne Gegenleistungen zu beanspruchen, beziehen sich nach seinem Verständnis der Bergpredigt Jesu auf eine geschwisterliche Gemeinschaft von Christen, in der es selbstverständlich ist, dass keiner den anderen beraubt, bzw. auf eine entsagungsvolle Haltung von Christen, die sich lieber berauben lassen, als einem anderen Gewalt anzutun.

Gleichwohl ist Luther realistisch genug, um selber auch klarzustellen, dass erstens die weltliche Gewalt für die Bestrafung von Raub und Diebstahl sorgen muss und dass zweitens der Kaufmann das Recht hat, einen angemessenen Lebensunterhalt für sich zu verdienen. Definitiv hat Luther nicht die Bergpredigt zum weltlichen Gesetz erheben wollen; insofern ist das, was Sie aus Ihrer Beschäftigung mit Luthers „Sermon vom Wucher“ schließen, nicht stichhaltig (S. 30f.):

„Unter solch frommen Bedingungen kann natürlich der Kaufmannsstand nur schlecht gedeihen. Der Handel des Mittelalters und der frühen Neuzeit dürfte sich daher wohl zu einem großen Teil in einem rechtsfreien Raum abgespielt haben“

Ist das die einzige Basis für Ihre weitere Schlussfolgerung, dass „der Handel größtenteils von Juden betrieben wurde“ (S. 31), oder können Sie dafür konkrete Quellen als Belege anführen? Können Sie auch beziffern, welche Größenordnung wohl der Anteil am Reichtum von Christen besaß, der auf Grund von Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden erzielt wurde?

Zurück zu Luther. Zwar plädiert er also nicht „dafür, daß sich die Kaufleute bereitwillig berauben lassen“, wie Sie behaupten, aber er beklagt sich wirklich „an anderer Stelle“ (die Sie leider nicht zitieren, nämlich in seiner Schrift „Von Kaufshandlung und Wucher“ aus dem Jahr 1524) darüber, dass Kaufleute seiner Zeit alle nur erdenklichen Tricks anwenden, um aus ihren Kunden möglichst viel Profit herauszuziehen.

Mich würde interessieren, ob Ihre Sicht des liberalen Kapitalismus wirklich so weit geht, dass Sie auch alle Auswüchse der Habgier und des Ausnutzens von Vorteilen auf Kosten der Ärmsten der Armen, die bereits Luther in dieser Schrift ansatzweise beschreibt, gutheißen – oder ob Sie es leugnen würden, dass der Kapitalismus zu solchen Auswüchsen fähig ist. Gilt Ihrer Ansicht unter dieser Wirtschaftsform grundsätzlich Ihr Satz (S. 28): „den Menschen geht es besser“?

Martin Luther ist tatsächlich für eine Warenwirtschaft mit Preiskontrolle, indem er es für sinnvoll hält,

„daß die weltliche Obrigkeit hier vernünftige, redliche Leute einsetzte und verordnete, die alle Ware mit ihren Kosten überschlügen und danach das Maß und Ziel festsetzten, was sie gelten sollte, daß der Kaufmann zurechtkommen und seine ausreichende Nahrung davon haben könnte“,

allerdings sagt er auch:

„Weil denn diese Ordnung nicht zu erhoffen ist, ist das der nächste und beste Rat, daß man die Ware gelten lasse, wie sie der allgemeine Markt gibt und nimmt, oder wie es Landesgewohnheit zu geben und zu nehmen ist.“

Insofern haben Sie wohl Recht, dass Luther z. B. mit seiner Kritik an monopolkapitalistischen Methoden der Profitmaximierung auf Kosten verarmender Bevölkerungsgruppen mehr zu Marx als zu den Begründern des Kapitalismus passt.

Luther meinte aber selbst, dass er mit seiner Kritik an den Zuständen im Handel und Zinswesen längst auf verlorenem Posten stand; schon zu Luthers Zeit gab es also das Kreditwesen, von dem Sie behaupten, dass es erst im 19. Jahrhundert entstehen konnte.

Die Frage bleibt also doch, ob nicht zum notwendigen Kapital auch noch notwendige technische Errungenschaften hinzutreten mussten, um die industrielle Revolution in Gang zu setzen. Und es müsste noch bewiesen werden, dass es tatsächlich nur oder überwiegend Juden waren, die den Hauptbestandteil des aufstrebenden Bürgertums bildeten, die den Kapitalismus begründet haben.

Dazu reicht es nicht aus, sich auf die antimodernistische Haltung der katholischen Kirche oder die extrem antisemitische Haltung des evangelischen Hofpredigers Stoecker Ende des 19. Jahrhunderts zu berufen (S. 32ff.). Beide verbinden sehr einseitig Antiliberalismus mit Antisemitismus und nationalen wie klassenbezogenen Eigeninteressen. Aber in welchem Ausmaß die von ihnen als Vorwurf verstandene Beteiligung von Juden am Finanzkapitalismus der Realität entsprach, wird in diesen Schriften ja nicht nachgewiesen, sondern nur als Behauptung vorausgesetzt.

Ging der Kapitalismus auf die Juden zurück und nicht auf den Protestantismus?

Ihre Ausführungen über Max Weber, Calvin und den englischen Puritanismus (S. 37-41) finde ich erwägenswert. Erst recht finde ich die von Ihnen auf S. 41-53 zusammengetragenen Belege für Ihre auf S. 41 skizzierte These von der entscheidenden Prägung der Moderne durch die jüdische Kultur beeindruckend, auch wenn ich sie nicht alle in ihrem Zusammenhang beurteilen kann. Sie verdienen jedenfalls, so denke ich, eine eingehendere Prüfung.

Nur einige Fragen möchte ich zu Ihrer These stellen:

  • War nur das mittelalterliche Christentum an einer Klassengesellschaft interessiert und hat nicht auch der Kapitalismus eine neue Klassengesellschaft produziert, wenn auch nicht genau im Marx‘schen Sinne, aber auf jeden Fall im globalen Maßstab?
  • War das christliche Bürgertum im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit nur daran interessiert, gemeinsam mit dem Adel „jeglichen gesellschaftlichen Wandel, der ihre Privilegien gefährden könnte“ (S. 41) zu verhindern, oder war es nicht mit jüdischen Gruppierungen zusammen auch am Wandel beteiligt?
  • Von welchen kulturellen Wurzeln her konnten die „von außen“ kommenden Juden „mit ihrem antistaatlichen, familienorientierten und egalitären Gesellschaftskonzept die Moderne“ (S. 41) hervorbringen oder zumindest entscheidend prägen? Die Gleichheit kann dem Geist der Tora entspringen, antistaatliche und familienorientierte Züge den jahrhundertelangen Konflikten mit staatlicher Gewalt. Allerdings stand das Zinsverbot, auf das sich sowohl die katholische Kirche als auch Luther berief, auch schon in der Tora (3. Buch Mose – Levitikus 25, 35-37). Gab es im Talmud bereits eine Lockerung des Zinsverbots? Galt eine solche Lockerung nur gegenüber Nichtjuden?

Entstand die Moderne aus einem Kampf zwischen jüdischem Liberalismus und christlichem Fundamentalismus?

Ihre Ausführungen im Kapitel über die nationalökonomischen Theorien im Nationalsozialismus (S. 54-70) finde ich plausibel und bedenkenswert.

Ich bin allerdings immer noch skeptisch, ob es nicht doch eine grobe Vereinfachung darstellt, die „Entstehung der Moderne als einen Kampf zwischen jüdischem Liberalismus und christlichem Fundamentalismus“ zu dechiffrieren und den Faschismus in einer recht ungebrochenen Kontinuität mit dem „offiziösen, christlichen Fundamentalismus“ zu sehen (S. 54).

Es mag natürlich sein, dass bei dieser Skepsis eigene christliche Loyalitäten mit im Spiel sind. Darum gestehe ich selbstkritisch zu, dass von den antimodernistischen katholischen wie von den antisemitischen evangelischen Zeugnissen aus dem Christentum des 19. Jahrhunderts her tatsächlich eine Linie zu den antiliberalen und antisemitischen Vorstellungen des Nationalsozialismus führt.

Allerdings verstand sich der Nationalsozialismus ja letzten Endes auch als antichristlich, insofern zum christlichen Erbe das jüdische Alte Testament und andere jüdische Grundlagen selbstverständlich dazugehörten.

Zum jüdischen Erbe andererseits gehört, wenn wir an die Tora und die Propheten denken, ja eigentlich nicht ein ungehemmter Liberalismus der Profitmaximierung, sondern Gedanken einer mit Gleichheit gepaarten Freiheit, die vor allem die Befreiung der Underdogs der Gesellschaft mit einschloss.

Insofern frage ich mich, wie es im Judentum zu diesem ausschließlichen Denkmodell des Liberalismus gekommen sein soll, bzw. was dieses Modell überhaupt mit der Kultur des Judentums zu tun hatte.

Wie können Hunger und Armut in der Dritten Welt überwunden werden?

Viele Ihrer Ausführungen im Kapitel über die Bekämpfung von Hunger und Armut in der III. Welt (S. 80-94) kann ich unterschreiben. Vielleicht könnte die SPD heute wieder aus ihrem Tief herauskommen, wenn sie einige Ihrer Thesen beherzigen würde? Ein wenig wundere ich mich allerdings, warum Sie die SPD an ihre sozialistische Tradition erinnern, die Sie doch eigentlich kritisch betrachten. Oder ist das satirisch gemeint, weil in Ihren Augen sowieso nur Liberalismus mit möglichst wenig staatlicher Lenkung die Weltprobleme lösen kann?

Ihre Überlegung (S. 93f.),

„ob karitative Organisationen nicht ein gemeinnütziges und genossenschaftliches Banksystem aufbauen sollten, das den Armen, die den Banken keine Sicherheiten bieten können, mit Krediten oder wenigstens mit Bürgschaften hilft“,

ist inzwischen ja hier und da in die Tat umgesetzt worden. Wie weit verbreitet die Vergabe von Mikrokrediten inzwischen ist und welchen Erfolg sie erzielt hat, darüber weiß ich allerdings zu wenig.

Schlussendlich enthalten auch Ihre beiden Schlusskapitel und das Nachwort plausible Argumente…, wenn da nicht immer noch der Verdacht bestehen bliebe, dass auch der ungebremste Kapitalismus nicht einfach überall für blühende Landschaften und soziale Gerechtigkeit sorgen würde.

Helmut Schütz

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