Bild: Helmut Schütz

„Im Gesangbuch stehen keine Lieder“

Christa Reich: „Praktische Theorie des Singens“

Das Lied "So nimm denn meine Hände" im Evangelischen Gesangbuch Nr. 376
Das Lied „So nimm denn meine Hände“ im EG 376

„Im Gesangbuch stehen keine Lieder.“ Mit dieser Feststellung überraschte Kantorin Christa Reich aus Frankfurt auf einer Dekanatskonferenz in Gundersheim die anwesenden zwanzig Pfarrerinnen und Pfarrer, die von ihr über die Einführung des neuen „Evangelischen Gesangbuchs“ informiert werden wollten. Sie meinte es ernst in diesem Sinne: Im Buch stehen lediglich Texte und Melodien, ein Lied wird daraus erst im eigenen Singen.

In ihrem anderthalbstündigen Vortrag faszinierte uns Christa Reich zunächst mit ihrer Einführung in eine „Praktische Theorie des Singens.“ Anhand des bekannten Kanons „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang…“ ließ sie uns darüber nachsinnen, was überhaupt geschieht, wenn wir singen: Ich bringe mit meiner Stimme Worte zum Klingen, die mir fremd sind; dabei zeichnet die Melodie im Text enthaltene Bilder nach. So ist Singen eine Weise, mich einem fremden Wort zu nähern und es zu meinem eigenen zu machen. Ich kann nur ein Lied verantwortlich mitsingen, an dem ich innerlich beteiligt bin. „…sei gelobet der Name des Herrn!“ – da wird nicht irgendeiner gelobt, der einfach oben ist und wir sind unten, sondern ein Name wird gelobt. Einer, der da ist, der sich uns zu erkennen gibt.

„Mit welchem Ton singen wir unsere Lieder?“ fragte die Kantorin. Mit dem Ton reiner Routine oder des Pathos – oder mit einem Ton des Fragens, des Staunens? Mit welchem Gesicht singen wir ein „Halleluja“ oder ein „Herr, erbarme dich!“? Wer loben kann in einer von vielen für verflucht gehaltenen Welt, nutzt das Lied als Hilfe zum geistlichen Widerstand.

Erst nach dieser wichtigsten Frage „Wie singen wir?“ stellt sich die Frage: „Was soll in der Kirche gesungen werden?“ Wozu wird in der evangelischen Kirche Ende dieses Jahres nach 16jähriger Vorarbeit das neue „Evangelische Gesangbuch“ (EG) eingeführt?

Das zur Zeit noch verwendete „Evangelische Kirchengesangbuch“ (EKG) war 1950 das erste gemeinsame Gesangbuch für den deutschsprachigen Raum überhaupt gewesen. Die älteren Gemeindeglieder erinnern sich noch an die Zeit, in der man in Mainz andere Lieder sang als in Wiesbaden, in Rheinhessen andere als in der Pfalz oder im Rheinland.

An einigen Stichworten erläuterte Kantorin Reich die vielfältigen Veränderungen in der Kirche und ihrem Umfeld, die das EKG mittlerweile haben veralten lassen: Weder die Weltverantwortung der Kirche, ihr Umwelt- und Friedensengagement, noch ihre Öffnung für andere Konfessionen und zur weltweiten Christenheit fanden in den Liedern der Tradition einen angemessenen Widerhall. Ebensowenig waren die neuen Musikstile vom Kanon bis hin zum Sacro-Pop berücksichtigt; auch die seit den 60er Jahren eingeführten Jugend- und Familiengottesdienste haben eine Vielzahl damals noch unbekannter Gesangsformen entstehen lassen.

Auf die Frage aus der Pfarrerschaft, wer denn eigentlich darüber urteile, welches Lied ein gutes Lied sei, antwortete Frau Reich: Letzten Endes kann über die Qualität von Liedern nur der wiederholte Gebrauch in der Gemeinde entscheiden.

Bei der Auswahl der Lieder für das neue EG (von 3000 Vorschlägen wurden 535 in den Stammteil übernommen, außerdem 117 in den Anhang von Hessen-Nassau) – mußte man jedoch von allgemeineren Maßstäben ausgehen. Um nicht einseitig zu werden, mussten jeweils beide Pole in einer Reihe von Spannungsfeldern berücksichtigt werden, in denen sich unser Singen abspielt:

1. Zwischen „Subjektivität“ und „Gemeinsamkeit“

Ich singe als Ich, und ich kann mich mit anderen zu einer singenden Gemeinschaft zusammenfügen. Das neue Gesangbuch enthält zwar mehr Texte als das bisherige auch für das stille Gebet des einzelnen, aber vor allem ist es für den Gebrauch im Gottesdienst, in Gemeindegruppen und auch in der Familie bestimmt: „Gott hat keine Einzelkinder“.

2. Zwischen „Spontaneität“ und „Wiederholbarkeit“

Jedes Lied wird in einer bestimmten Situation immer wieder anders gesungen, zugleich muß es von einer bestimmten Situation ablösbar sein, um immer wieder gesungen werden zu können.

3. Zwischen „Verstehbarkeit“ und „Geheimnis“

Ein Lied soll verstehbar, der Erfahrung zugänglich sein, zugleich aber soll es zum Fragen und Nachdenken reizen und offen bleiben für das „Du“ Gottes. Wenn verständliche Worte gesungen, nicht nur geredet werden, ist im gleichen Vorgang das Unsagbare damit verbunden. So kann das Singen eine Sprachschule für den Glauben werden. Und umgekehrt: Wenn Theologie wirklich eine Bemühung ist, sich Gott anzunähern, wird sie zum Gesang – nämlich wenn sie sich des „Du“ bewußt ist, dem wir gegenüberstehen. Die älteste biblische Lehre war immer ein Lied: Mirjamlied, Psalmen, Weihnachtsbotschaft der Engel, Hymnus des Philipperbriefs, Gesänge in der Offenbarung des Johannes. Das biblische Wort „Doxa“ bedeutet sowohl Lehre als auch Lobpreis, beides gehört zusammen.

4. Zwischen „Aktualität“ und „Tradition“

Ein Lied soll mich in meiner Situation abholen und anrühren – und es ist zugleich ererbt aus der Tradition vergangener Erfahrungen, die nicht weitergereichte tote Asche, sondern lebendiges Feuer sind. Lieder holen mich ab – und sie warten auf mich.

Dementsprechend wird trotz der Neuerungen das vertraute Liedgut auch in Zukunft überwiegen. 70 % der Lieder wurden aus dem alten Buch übernommen; der Aufbau des Gesangbuchs besteht aus vier Hauptteilen wie bisher: Kirchenjahr – Gottesdienst – Glaube / Liebe / Hoffnung – besondere Anlässe.

Dem modernen Empfinden entsprechend wird das neue Gesangbuch erstmalig Abschnitte über „Angst und Vertrauen“ und über die „Erhaltung der Schöpfung“ enthalten. „Die Kirche“ entfällt als Rubrik zugunsten der Überschrift „Sammlung und Sendung“ – Kirche wird nicht mehr als statische Größe, sondern als lebendige, weltzugewandte Gemeinschaft gesehen.

5. Zwischen „Pluralität“ und „Integration“

Jeder sollte im Gesangbuch Lieder finden, die seinem eigenen Frömmigkeits- und Musikstil entsprechen, zugleich aber auch dazu ermutigt werden, das Lied des anderen mitzusingen.

Neue Lieder mit Kehrversen und biblische Erzähllieder lassen Glaubensinhalte lebendig werden und prägen im Hin und Her der Stimmen biblische Geschichte ein – verständlich für Kinder, ohne die Erwachsenen auszuschließen. Die Zahl der Advents- und Weihnachtslieder wurde vermehrt -auch im Blick auf Familiengottesdienste. Für die Passionszeit wurden neue Lieder hinzugefügt, die zum Teil das Passionsgeschehen weniger dogmatisch als bildhaft darstellen. Nur das Fest der Himmelfahrt Christi hat die Phantasie der neueren Liederdichter offenbar kaum angeregt.

In gewissem Sinn wird das neue Gesangbuch jedoch auch „konservativer“ sein als das bisherige: Alte Formen des Psalmen-Singens, meditativer Gesang, wie er aus der Gemeinschaft von Taizé bekannt ist, und auch gefühlvolle Lieder des 19. Jahrhunderts, die im EKG verpönt waren, finden im EG wieder ihren Platz. So wird man nun „So nimm denn meine Hände“ oder „Stille Nacht“ wieder aus dem Gesangbuch singen können.

Nach dem beeindruckenden Vortrag verständigte sich die Dekanatskonferenz Alzey darauf, das neue Gesangbuch zu Beginn des neuen Kirchenjahres am 1. Advent 1994 in unseren Gemeinden einzuführen. Am 27. August 1994 kommt Kantorin Christa Reich noch einmal in unser Dekanat: Auf einem „Singetag“ in Armsheim von 9.30 – 13.00 Uhr gibt sie allen interessierten Gemeindegliedern im Dekanat Alzey Gelegenheit, sich ganz praktisch in das neue Gesangbuch einzusingen.

Dieser Artikel von Helmut Schütz stand in einer Druckvorlage für Gemeindebriefe im Organ der Öffentlichkeitsarbeit im evangelischen Dekanat Alzey „Der Kirchturmgucker“ im Frühjahr 1994.

„Rucksäcke gibt’s dazu!“

Evangelischer Gesangbuchtag im Dekanat Alzey mit Frankfurter Kantorin Christa Reich

Armsheim. „Ich muss Ihnen nochmal sagen, dass der viertletzte Ton tiefer ist, aber sie können trotzdem so singen, wie es Ihnen gefällt!“ Kantorin Christa Reich aus Frankfurt stellte in der Armsheimer Kirche mit humorvollem Ton das bald neu erscheinende „Evangelische Gesangbuch“ (EG) vor.

Zu einem „Gesangbuchtag“ hatte die Arbeitsgemeinschaft Kirchenmusik im Evangelischen Dekanat Alzey eingeladen. Dreißig interessierte Gemeindeglieder, Organisten und Geistliche kamen im Chorraum der Kirche zusammen, um sich mit dem EG vertraut zu machen. Frau Reich ermutigte dazu, kurze Singsprüche, Kanons und Kehrverse auswendig zu singen – das neue Gesangbuch soll nämlich nicht dazu missbraucht werden, ständig „mit gesenktem Kopf am Text zu kleben.“ An neuen Singformen bietet die neue Liedersammlung eine reichhaltige Auswahl. Zum Wechselgesang zwischen verschiedenen Teilen der Gemeinde meinte Frau Reich: „Der Witz ist: die einen dürfen noch atmen, während die anderen schon singen.“

Beim Singen sei der ganze Mensch beteiligt: sein Körper, der die Atmung, die Stimmbänder, das Zwerchfell bereitstellt; sein Kopf, der die Worte zu verstehen sucht; sein Gemüt, auf das die Töne wirken; und auch sein Wille, der durch ein Lied verändert, motiviert und aufgebaut werden kann. Die Kantorin erwähnte in diesem Zusammenhang, dass in Vietnam Musikgruppen als Unterstützung der Therapie in Krankenhäusern eingesetzt werden.

Wichtig ist laut Christa Reich auch die Übereinstimmung zwischen einem Liedtext und der Art, wie er gesungen wird. Das aus der hebräischen Sprache übernommene Wort „Amen“ sollte zum Beispiel so nachdrücklich gesungen werden, wie es gemeint ist, nämlich als Antwort der Gemeinde auf ein Gebet: „So soll es sein, das will ich!“ Ein frohes Lied wird durch eine getragene Melodie erdrückt; die Melodie muss jeweils dem Text entsprechen.

So spiegelt das neue Lied 534 im neuen Gesangbuch, das das Sterben mit dem Gang über eine Brücke zu Gott vergleicht, schon im Notenbild das Bild der Brücke wider; und im Gegenüber zweier eigentlich nicht zueinander passender auf- und absteigender Dreiklänge (D- und Es-Dur) wird auf faszinierende Weise genau die Spannung erlebbar gemacht und aufgelöst, die der Text zu beschreiben versucht.

In einem Vortragsteil nahm Kantorin Reich zur Frage Stellung, wozu ein neues Gesangbuch überhaupt notwendig sei. Kein Gesangbuch habe in der Vergangenheit mehr als zwei Generationen überdauert, da jede Zeit ihre eigene Sprache spricht. Das jetzt neu erscheinende EG legt, 44 Jahre nach der Einführung des „Evangelischen Kirchengesangbuchs“, großen Wert auf Vielfalt – in den Singformen, im Frömmigkeitsstil und auch in der Herkunft der Lieder. „Die Welt ist heute kleiner geworden“: der millionenfache Hungertod von Menschen spiegelt sich daher genauso in manchen Liedern des Gesangbuchs wider wie die zum Teil ganz andere Eigenart, in der man in Afrika, Norwegen oder Holland christliche Lieder singt.

Lieder, die wir mit der katholischen Schwesterkirche gemeinsam haben, werden wie im katholischen „Gotteslob“ an einem „ö“ zu erkennen sein; die bürokratisch genauen evangelischen Deutschen klammern dieses „ö“ jedoch ein, wenn ein Lied, wie zum Beispiel das alte katholische Marienlied „Es ist ein Ros entsprungen“, nur zum Teil ins EG aufgenommen wurde.

Hinzugefügt wurden auch neue Lieder zu alten Themen, da man heute etwa über das „ewige Leben“ und den „Himmel“ ganz anders spricht als früher. Umgekehrt fallen achtzig Lieder aus dem alten Gesangbuch einfach weg, da sie nie gesungen wurden. Neue rhythmische Lieder stehen vor allem im neuen hessen-nassauischen Anhang, auch einige in den Gemeinden bereits liebgewonnene „Ohrwürmer, die man abschütteln will, aber sie krabbeln zum andern Ohr wieder rein“ (Reich).

Auf die Frage, ob zu dem erheblich umfangreicheren Buch auch gleich eine Tragetasche mitgeliefert werde, meinte Christa Reich schmunzelnd: „Ja, Rucksäcke gibt’s dazu!“

Zum Schluss der Veranstaltung ließen sich die Teilnehmer auf ein Experiment ein: durch die Kirche zu schreiten, dabei einen einfachen Kanon zu singen und den Kirchenraum dabei einmal ganz anders zu erfahren.

Dieser Artikel von Norbert Schütz stand im August 1994 in der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“, Lokalteil Alzey.

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