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Wer ist Jesus nach dem Johannesevangelium?

Jesus wird im vierten Evangelium auf sehr unterschiedliche Weise benannt und charakterisiert, als Prophet und König, Wort und Brot, Menschensohn und Sohn Gottes. Sogar mit Gott selbst scheint Jesus sich gleichzusetzen. Günter Reims „Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums“ verwende ich, um der Frage nachzugehen, wie eine ganze Reihe dieser Hoheitstitel Jesu zu verstehen sind.

Was haben wir von Jesus zu erwarten? Auf dem Bild ist ein hervorgehobener Schriftzug "Jesus" als Relief zu sehen
Wer Jesus ist, das wird im Johannesevangelium in mehr als einem Dutzend von aufeinander bezogenen Hoheitstiteln beschrieben (Bild: floyd99Pixabay)

Inhaltsverzeichnis

0 Einführung

0.1 Günter Reims Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums

0.2 Wie baut die Christologie des Johannes auf der jüdischen Bibel auf?

0.3 Was ist überhaupt „Christologie“ – Lehre von Christus – Lehre vom Messias?

1 Davidssohn – ein Titel, der fehlt

2 König

2.1 Was ist größer als ein Königtum unter dem Feigenbaum?

2.2 Jesu Rückzug vom Königtum auf „den“ Berg

2.3 Der König auf einem Eselchen

2.4 Jesu Königtum ist nicht „wie bei allen Völkern“

2.5 Ein König, der dazu gezeugt ist, für die Treue Gottes Zeugnis zu geben

3 Weitere traditionelle Titel für Jesus

4 Logos – „Wort der Weisheit“ oder Wort des Lebens in Freiheit?

5 Sōtēr – „Heiland der Welt“ oder Befreier der Weltordnung?

6 Messias

7 Prophet wie Mose

8 Menschensohn

8.1 Ehre und Macht

8.2 Gericht

8.3 Abstieg und Aufstieg vom und zum Himmel

9 Knecht Gottes

10 Lamm Gottes

11 Brot vom Himmel

12 Sohn Gottes, Sohn, „eingeborener Sohn

12.1 Gottes Sohn und die Weisheit

12.2 Einziggezeugter Sohn – der zweite Isaak!

12.3 Der Sohn als der Gesandte des VATERS

13 Jesus als Gott?

14 Egō eimi – Jesus als die Verkörperung des befreienden NAMENS Gottes

Anmerkungen

0 Einführung

Dies ist der erste einer Reihe von Beiträgen, in denen ich mich mit den Forschungen meines Pfarrerkollegen im Ruhestand Günter Reim (Erlangen) zum Johannesevangelium auseinandersetzen möchte. Er hat einiges gemeinsam mit mir, doch an anderen Stellen unterscheiden sich unsere wissenschaftlichen Voraussetzungen und unsere Anliegen sehr stark.

0.1 Günter Reims Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums

Nachdem Dr. Günter Reim in den Jahren 1964-1967 am Mansfield College in Oxford seine Doktorarbeit verfasste, die im Jahr 1974 von der Cambridge University Press unter dem Titel „Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums“ veröffentlicht wurde, <1> gab er bis ins hohe Alter das Interesse an Johannes nicht auf. Seit einigen Jahren veröffentlicht er wissenschaftliche Arbeiten und auch Beiträge für Laien zu Johannes auf der Homepage http://www.evangelium-johannes.de, die ich zur Lektüre nur wärmstens empfehlen kann.

Ich dagegen habe nie promoviert und auch keine eigenen Forschungen zum Johannesevangelium unternommen. Doch auch mich lässt Johannes nicht mehr los, seit ich mich im Jahr 2020 dafür einsetze, die Wurzeln seiner Botschaft in der jüdischen Bibel und die Zielrichtung seiner noch nicht dogmatisch-christlichen, sondern jüdisch-messianischen Streitschrift als kritische Anfrage an uns Christen ernstzunehmen. <2>

Die größten Gemeinsamkeiten in unserem Herangehen an das Johannesevangelium bestehen darin, dass wir beide einer antijüdischen Auslegung und Verwendung der Aussagen des Johannes entschieden entgegentreten und das Alte Testament für außerordentlich wichtig zum Verständnis des vierten Evangeliums halten. Ich bin Günter Reim sehr dankbar für viele Hinweise auf Zusammenhänge des Evangeliums mit der jüdischen Heiligen Schrift, die mir bisher nicht aufgefallen waren.

0.2 Wie baut die Christologie des Johannes auf der jüdischen Bibel auf?

Worin wir uns grundlegend unterscheiden, das mag am besten deutlich werden, indem ich mich eingehender mit dem 6. Kapitel seines oben genannten Buches beschäftige. Unter der Überschrift (247) „Die alttestamentliche Grundlage der eigenständigen Christologie des Johannesevangeliums“ ist Günter Reim vor allem daran interessiert,

ob Johannes selbst unabhängig von den Hauptströmen urchristlicher Christologie eine eigenständige Christologie entwickelt hat und auf welchem alttestamentlichen Hintergrund sie zu sehen ist.

Diese Frage will Reim in drei Schritten beantworten:

Wir müssen zuerst die von Johannes nicht entwickelte, aus der Tradition übernommene Christologie ermitteln. Danach beschäftigen wir uns mit der von Johannes entwickelten, aber aus der Tradition stammenden ChristoIogie. Schließlich wird die Frage nach einer eigenständigen Christologie des Evangelisten beantwortet werden können.

Das heißt: Günter Reim legt besonderen Wert auf die Identifizierung verschiedener schriftlicher Quellen, aus denen Johannes bestimmte Traditionen geschöpft haben soll, insbesondere einer Sammlung von Wundergeschichten in der „Semeiaquelle“ <3> oder eines von ihm ins Gespräch gebrachten vierten synoptischen Evangeliums <4> mit ähnlichem Aufbau wie die ersten drei Evangelien. Inzwischen bezweifeln wohl die meisten Exegeten den Sinn solcher Spekulationen und sind dazu übergegangen, bei der Auslegung des Johannesevangeliums weitgehend von seiner Endgestalt auszugehen. Daher werde ich die Verweise auf diese vermuteten Quellen nicht näher kommentieren und lasse ihre Existenz dahingestellt sein.

Wichtiger als der Versuch, schriftliche Quellen zu rekonstruieren, für die es keinerlei Fundstücke als Beleg gibt, ist mir bei der Herkunft von Überlieferungen der ursprüngliche Bezug auf das Alte Testament, das ich aber lieber anders bezeichne: entweder als die jüdischen Schriften, die hebräische Bibel oder den TeNaK, <5> womit Tora, Propheten und Schriften abgekürzt zusammengefasst werden.

Für sehr wahrscheinlich halte ich es, dass Johannes die synoptischen Evangelien oder ihnen zugrundeliegende Überlieferungen zumindest teilweise gekannt hat. Auch hier geht es mir in erster Linie um die Frage, wie er dieses Material verwendet oder worauf er möglicherweise bewusst verzichtet. Mit Sicherheit hat er Erzählungen nicht einfach deswegen verwendet, weil sie in einer ihm vorliegenden Quelle standen; die Geschichte von der Einsetzung des Abendmahls lässt er jedenfalls weg, obwohl er sie mit großer Sicherheit gekannt hat, und ersetzt sie durch eine andere Erzählung, nämlich die von der Fußwaschung.

Dass Johannes Material aus den synoptischen Evangelien nur in geringem Maß und kaum in wörtlicher Zitierung aufgreift, spricht in meinen Augen nicht unbedingt dagegen, dass er eins oder mehrere von ihnen gekannt haben kann. Immerhin greift er auch auf die jüdischen Schriften sehr häufig nicht wortwörtlich zurück, sondern so, dass er auf mehrere Stellen zugleich eingeht, um ihren Sinn für eine neue Zeit fruchtbar zu machen.

0.3 Was ist überhaupt „Christologie“ – Lehre von Christus – Lehre vom Messias?

Eine Frage, die ich zusätzlich wichtig finde, die Reim aber nicht aufwirft, ist die Bedeutung des Begriffs „Christologie“ selbst. Wörtlich wird so die „Lehre von Christus“ bezeichnet. Dieses Wort ist für uns Christen jedoch so sehr mit „Jesus Christus“ verknüpft, bis zur Verwechslungsgefahr mit einem Eigennamen, dass es seinen Ursprung kaum noch erkennen lässt, nämlich als die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes maschiach, „der Gesalbte“ oder „Messias“. Meines Erachtens muss sorgsam geprüft werden, ob man die auf Jesus bezogenen Hoheitstitel schon im Sinne der späteren christlichen Dogmatik begreifen darf oder ob sie im Johannesevangelium nicht vielmehr noch ganz von der jüdischen Bibel her geprägt sind.

Wer ist nun Jesus nach dem Johannesevangelium? Jesus wird auf so vielfältige Weise benannt und charakterisiert sich selbst in unterschiedlichen Formen, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Ich gehe die einzelnen Titel und Formulierungen der Reihe nach durch und verzichte dabei auf die Vorgehensweise von Reim in drei Schritten, bei der manche Titel zunächst nur formal als aus der Tradition übernommen und erst später in ihrer Interpretation durch Johannes dargestellt werden.

1 Davidssohn – ein Titel, der fehlt

Als erstes geht Reim (247) auf den „fehlenden Titel ‚Sohn Davids‘“ im Johannesevangelium ein. Im Unterschied zu den synoptischen Evangelien weist Johannes zwar darauf hin, dass der Messias „aus dem Hause Davids und aus Bethlehem“ abstammen soll (247f.),

aber im Anschluß daran wird gezeigt, daß Jesus sich als Messias nicht durch seine davidische beziehungsweise bethlehemitische Abstammung ausweist, sondern dadurch, daß noch nie ein Mensch so geredet hat wie er (Joh 7,46). Daß Jesus von Gott ausgegangen ist (Joh 8,14), legitimiert ihn als Messias.

Für den konsequenten Verzicht auf den Titel „Davidssohn“ sucht Reim nicht weiter nach Gründen. Ton Veerkamp <6> geht davon aus, dass Johannes sich dadurch von den Zeloten abgrenzt, die im Judäischen Krieg und auch später noch die Überwindung der Römischen Weltordnung durch militärische Mittel für möglich gehalten haben. In den Augen des Johannes sind diese Zeloten jedoch nichts als Plünderer und Terroristen (kleptai kai lēstai, normalerweise übersetzt als „Diebe und Räuber“ 10,1.8); eine mörderische Weltordnung kann nicht durch die gleichen Mittel überwunden werden, sondern nur durch agapē, „solidarische Liebe“, die der Messias beispielhaft in der freiwilligen Selbstversklavung der Fußwaschung praktiziert und aus der heraus er am Kreuz sein Leben hingibt.

2 König

Zu Jesus als „König“ schreibt Reim zunächst (248), dass die Skepsis gegenüber dem „Davidsohntitel … ihren Schatten auch auf die Bezeichnung Jesu als ‚König‘“ wirft, womit er wohl meint, dass Johannes sich darunter überhaupt keinen König im irdisch-diesseitigen Sinn vorstellen kann. Stattdessen, so Reim, übernimmt Johannes zwar diesen Titel, aber er meint damit etwas anderes als die Tradition.

2.1 Was ist größer als ein Königtum unter dem Feigenbaum?

Als Nathanael ihn als „König Israels“ anspricht, „antwortet Jesus, indem er nicht vom Könige, sondern vom Menschensohn spricht (Joh 1,49-51).“ Was Reim in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, ist eine weitere Aussage, mit der Johannes das Königtum Jesu interpretiert, <7> nämlich (1,50) die Erwähnung des Feigenbaums, unter dem Jesus den Nathanael gesehen hat. Dieser Feigenbaum symbolisiert nach 1. Könige 5,4-5 (vgl. auch 1. Makkabäer 14,12) das Leben im Frieden für Israel. Indem Jesus außerdem auf den Menschensohn eingeht, legt er dar, worin das Größere besteht, das Nathanael sehen wird: nämlich in der weltweiten Friedensherrschaft des Menschensohns, die in Daniel 7,13-14 verheißen wird. Auch darin kann man eine Kritik an zelotischen Bestrebungen sehen; in römischer Zeit ist es nicht mehr möglich wie zur Zeit der Makkabäer, ein separates Königreich Israel zu errichten, in dem das Volk für sich im Frieden leben kann; die Voraussetzung für einen solchen Frieden ist nunmehr nichts Geringeres als der Weltfriede, den der johanneische Jesus tatsächlich denen, die auf ihn vertrauen, in Aussicht stellt!

2.2 Jesu Rückzug vom Königtum auf „den“ Berg

Zu Johannes 6,15 – wo Jesus „vor der Menge“ flieht, „die ihn zum Könige machen will“, vermerkt Reim lediglich, dass dieser „schon im Semeiabüchlein gestanden haben“ wird. Nicht geht er darauf ein, auf welche Weise Jesus denen ausweicht (anachōrēsen), die ihn offenbar gewaltsam (harpazein = „rauben“) für ein Königtum nach Art der bereits erwähnten Zeloten gewinnen wollen: Jesus ist, wie Ton Veerkamp sagt, zwar „kein frommer Einsiedler“, aber doch ein „Anachoret“, der sich „allein“, monos, „zu dem Berg hin“, eis to oros, zurückzieht. Offenbar wird Jesus hier von Johannes mit Mose gleichgesetzt, wie er in 2. Mose 24,2 „den Berg allein“ besteigt. <8> Gerade als Prophet, den die Menschen in Johannes 6,14 in ihm sehen, kann er in Israel nicht zugleich als ein König im Sinne der Zeloten agieren.

2.3 Der König auf einem Eselchen

Auch zum Titel „König Israels“, wie er (12,13) „in der Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem“ erwähnt wird, schreibt Reim lediglich, dass es sich um einen „traditionellen Abschnitt“ handelt und dass „der Titel von Johannes nicht interpretiert“ wird. Allerdings stimmt das wieder nicht, denn mit dem Finden des Eselchens, onarion, im folgenden Vers deutet der johanneische Jesus durchaus an, in welcher Weise sein Königtum zu verstehen ist, nämlich von Sacharja 9,9 und den folgenden Versen her, wo vom messianischen König die Rede ist, der den Kriegsbogen vernichtet und den Völkern Frieden gebietet. <9>

2.4 Jesu Königtum ist nicht „wie bei allen Völkern“

Zu Recht betont Reim, dass Johannes im „Bericht vom Verhör vor Pilatus und im Anschluß an diesen Abschnitt … die in der synoptischen Tradition vorhandene Bezeichnung Jesu als König“ näher entwickelt. Hier taucht er in der Form „König der Juden“ auf, die von Johannes Reim zufolge in zweifacher Weise interpretiert wird (250), zunächst in Johannes 18,33-36:

Nicht „König der Juden“ ist er, sondern sein Reich ist nicht von dieser Welt. Interpretiert wird also zuerst: „der Juden“.

Diese Interpretation ist jedoch grundlegend falsch. Jesus wendet sich ja gerade gegen das Königtum „von dieser Welt“, diesem kosmos, der zur Zeit des Johannes durch die Pax Romana nur scheinbar wohlgeordnet ist, in Wirklichkeit aber eine heillose Welt-un-ordnung darstellt. Der berühmte Satz (18,36) „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ ist also noch nicht jenseitsbezogen zu verstehen, sondern im Sinne der Kritik der Tora (5. Mose 17,14-20) und des Propheten Samuel (1. Samuel 8) an einem König, „wie ihn alle Völker haben“, nämlich kriegerisch, unterdrückend, ausbeuterisch. Gerade ein Königtum der Juden müsste in Jesu Augen also anders sein, nämlich gemäß Psalm 72,1-4 ausgerichtet auf die Freiheit und das Recht der Unterdrückten, Bedürftigen und Armen. <10> Ein wahrer König der Juden ist Jesus also gerade darin, dass er sich gegen die Auslieferung an diejenigen Juden, die als Kollaborateure der römischen Besatzungsmacht seinen Tod fordern, nicht mit zelotisch-militärischen Mitteln zur Wehr setzt. Roms Macht kann man nicht mit den Mitteln Roms bezwingen.

2.5 Ein König, der dazu gezeugt ist, für die Treue Gottes Zeugnis zu geben

Günter Reim sieht aber noch weitere Argumente für seine Auffassung, dass Jesu Königtum nicht politisch zu verstehen sein soll, denn in Johannes 18,37 folgt „eine zweite Interpretation, diesmal des Wortes ‚König‘ (18,37)“, als Jesus dem Pilatus folgendermaßen antwortet:

„Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ Hier haben wir nicht das von David herkommende Messiasbild. Jesus ist König als Zeuge der Wahrheit. Sein Volk wird aus denen gebildet, die aus der Wahrheit sind und seine Stimme hören. Jesus, der König, ist Zeuge der Wahrheit im Gericht (vergleiche Joh 7,7), wie auch der Paraklet als Geist der Wahrheit und die Jünger Zeugen sein werden (14,17; 15,26f). Bei dieser Aussage zeigt sich wieder der deuterojesajanische Gerichtshintergrund. Solche Gedanken hat also der Evangelist, wenn er den traditionellen Titel „König der Juden“ übernimmt.

Hier ist einiges zu klären. Erstens wissen wir zwar bereits, dass Johannes Vorbehalte gegenüber davidischen Messiasvorstellungen hat, aber es ist nicht das Thema der „Wahrheit“, griechisch alētheia, das Jesus von David unterscheidet. Immerhin sagt Salomo über seinen Vater (1. Könige 3,6), dass er vor Gott „gewandelt ist in Wahrheit und Gerechtigkeit und mit aufrichtigem Herzen“.

Zur Frage, was Günter Reim mit dem „deutero-jesajanischen Gerichtshintergrund“ meint, der sich in der Zeugenschaft Jesu für die Wahrheit zeigt, verweise ich auf den Abschnitt 14 dieses Beitrags, in dem es um die Art geht, ob und die Ich-bin-Worte Jesu auf Aussagen des zweiten Jesaja zurückzuführen sind.

Ton Veerkamp gibt zu bedenken, dass der Begriff der „Wahrheit“, alētheia, bei Johannes nicht einfach das meint, was wir Abendländer gewöhnlich darunter verstehen, die Unterscheidung von Richtung und Falsch, die faktengetreue Wahrnehmung dessen, was „ist“. In den jüdischen Schriften steht das Wort ˀemeth, ins Griechische mit alētheia übersetzt und so von Johannes übernommen, in aller Regel für die „Treue“ des Gottes Israels. Jesu Königtum ist also nach Veerkamp <11> geprägt vom „Zeugnis geben über die Treue“:

In Israel verkörpert der König von Psalm 72 die Treue Gottes zu Israel. Dazu ist er „gezeugt worden und in die Welt gekommen“, nämlich rechtschaffener, Recht schaffender Hirte des Volkes zu sein und die einzelnen Mitglieder des Volkes (die Schafe) zusammen zu halten. Die realen Könige der Völker und auch Israels taten und tun in der Regel das Gegenteil (vgl. Ezechiel 34).

Auf eine merkwürdige Doppelung am Anfang von Jesu Satz über seine Zeugenschaft geht Reim gar nicht ein. Jesus sagt nämlich wörtlich: egō eis touto gegennēmai kai eis touto elēlytha eis ton kosmon, „ich bin dazu gezeugt worden und dazu in die Welt gekommen“. Warum zweimal dieses betonte eis touto, „dazu“, und warum die Formulierung „gezeugt worden“?

Ton Veerkamp <12> sieht hier eine Anspielung auf Psalm 2,6f., wo der Gott Israels zum König Israels spricht: „Mein Sohn bist du. Heute habe ich dich gezeugt.“ Indem Johannes uns diesen Psalm mithören lässt, deutet er den Prozess, den Pilatus gegen den Messias Jesus führt im Licht weiterer Aussagen aus Psalm 2. Da ist in Vers 1 vom vergeblichen Toben der Völker die Rede, in Vers 2 von einer Versammlung der Herrschenden, die sich gegen den Gott Israels und seinen Messias auflehnt. Aber das ist nicht das letzte Wort über den Messias. In Vers 8 erhält er „die Völker als Erbteil, zum Besitz die Ränder der Erde“, womit in der Zeit Jesu und des Johannes das römische Imperium gemeint sein muss, und in Vers 9 heißt es: „du magst sie zerschmettern mit einem eisernen Stock, zerschlagen wie ein Gerät aus Ton.“ Veerkamp schreibt <13> dazu:

Das ist eine Sprache, die uns nicht gefällt. Aber die Erhöhung dieses Messias ist das Ende für Rom, die Zerschlagung dieses Reiches, die Vernichtung der mischpat ha-melekh, der Rechtsordnung des Königs. Dazu lässt uns Johannes Psalm 2 mithören. In Zeiten nach der katastrophalen Niederlage von 70 ist der zweite Psalm der Strohhalm, an dem sich die isolierte messianische Gemeinde des Johannes festklammert.

Aber kann es sein, dass Jesus so gewaltsam gedacht hat? Vielleicht muss man es anderes formulieren. Nein, Jesus hat die agapē, „solidarische Liebe“, verkündet und beispielhaft gelebt, in der Fußwaschung, im Einsatz für die Freilassung seiner Schüler, als er verhaftet wurde, in der Hingabe seines Lebens am Kreuz. Aber Johannes vertritt ein Vertrauen, das wir naiv nennen mögen, dass diese „Liebe“ dazu fähig ist, die menschenmörderische Weltordnung Roms aus den Angeln zu heben und tatsächlich wie einen Haufen unbrauchbarer Tongefäße auf den Schutthaufen der Geschichte zu werfen. Dass wir Christen uns daran gewöhnt haben, die Überwindung jeglicher Gewaltordnung in unserer Welt, die es ja bis heute gibt, für unmöglich zu halten, ist kein Wunder, wurde das Johannesevangelium doch schon sehr rasch nicht mehr von solchen Texten der Schriften her verstanden. Stattdessen sah man Jesu Reich tatsächlich als ein jenseitiges Königreich der Liebe, das nur in den Herzen der Gläubigen regiert und die Gläubigen nach ihrem Tod in den Himmel führt.

3 Weitere traditionelle Titel für Jesus

Dass die Hoheitstitel für Jesus gerade im Johannesevangelium vielfältig aufeinander bezogen werden, merkt man besonders (248) bei der „Bezeichnung Jesu als ‚… der da kommt‘“, die Günter Reim in folgenden vier Zusammenhängen „auf ihren alttestamentlichen Hintergrund hin“ bezieht (249): als „der kommende König“ in Johannes 12,13 (vgl. Psalm 118,25f.), im Blick auf den „kommenden Christus“ in Johannes 7,27.41.42 und 11,27 (vgl. Micha 5,1), den „kommenden Menschensohn“ in Johannes 3,31; 9,38; 12,47 und den „Propheten, der in die Welt kommen soll“, in Johannes 6,14 (alle Hervorhebungen im Abschnitt 3 von mir).

Johannes selbst legt vor allem Wert darauf, dass Jesus der von Gott Gesandte ist (7,28f.): „Und von mir bin ich nicht gekommen, sondern wahrhaftig ist, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Ich kenne ihn, denn ich bin von ihm und jener hat mich gesandt“. Dieser Gesandte ist nach Günter Reim „bei Johannes der deuterojesajanische Gottesknecht, der Prophet wie Mose oder der Sohn.“

Die Anrede mit Herr, kyrie, für Jesus kommt im Johannesevangelium oft vor, aber nur sehr selten (6,23; 11,2) wird Kyrios wie in den synoptischen Evangelien als „christologischer Hoheitstitel“ verwendet. Nur ein einziges Mal (6,69) wird Jesus „im aus der Tradition stammenden Petrusbekenntnis“ der Heilige Gottes genannt. In Johannes 1,34 findet Reim außerdem (250) eine Textvariante, in der Jesus an Stelle von „Gottes Sohn“ der Auserwählte Gottes genannt wird.

4 Logos – „Wort der Weisheit“ oder Wort des Lebens in Freiheit?

Eine weitere Bezeichnung für Jesus erwähnt Günter Reim (249) nur nebenbei, nämlich den Logos, der vier Mal in den berühmten Eingangsworten des Johannesevangeliums (1,1.14) vorkommt:

Diese Bezeichnung findet sich nur in dem von Johannes übernommenen Logoslied. Sie hat im Johannesevangelium nur eine Brückenfunktion inne. Die Brücke soll von der Weisheit zu Jesus geschlagen werden: Jesus ist das Wort der Weisheit.

Indem Reim Jesus als den logos aber ohne weitere Begründung mit dem „Wort der Weisheit“ identifiziert, trifft er bereits eine wesentlich Vorentscheidung zur Interpretation des gesamten Johannesevangeliums. Die jüdischen Schriften der Weisheit tendierten nämlich bereits dazu, die Worte Gottes in der Tora und den Propheten als vernünftig im Sinne der griechischen Philosophie zu erweisen und legten weniger Wert auf das anhaltend befreiende Wirken des Gottes Israels, wie es sich im Exodus aus Ägypten oder in der Rückkehr aus der babylonischen Deportation gezeigt hatte. Ein weisheitlich verstandenes Johannesevangelium kann auf dieser Linie ohne jeden Bezug zur Situation Israels und der auf Jesus vertrauenden Gemeinden im ersten Jahrhundert unter der Weltherrschaft der Pax Romana verstanden werden.

Gegen eine vorschnelle Identifikation Jesu mit der Weisheit in diesem Sinne spricht schon, dass Jesus nicht sophia, „Weisheit“, genannt wird, sondern eben logos, „Wort“. Und diese Vokabel logos, die nach Johannes den bezeichnet, der – wie er sehr betont zwei Mal hervorhebt (1,1.2) –, „auf den Gott ausgerichtet“ ist, pros ton theon, also den Gott Israels, spielt nicht erst in der jüdischen Weisheit eine Rolle, sondern sie wird in der griechischen Übersetzung des TeNaK, der Septuaginta, immer wieder für das hebräische Wort davar verwendet. Davar heißt, auf Gott bezogen, zwar wörtlich „Wort“ oder „Rede“ Gottes, aber mit Gottes Worten, devarim, ist weitaus mehr gemeint als bloße Worte, sie bewirken Freiheit, Recht und Leben des Volkes Israel. Wie Johannes 1,4 Jesus als den logos mit dem Leben verbindet, so wird in 5. Mose 32,47 das Wort Gottes im Sinne seiner Wegweisung, thorah, mit dem Leben gleichgesetzt:

Denn es ist nicht ein leeres Wort an euch, sondern es ist euer Leben, und durch dies Wort werdet ihr lange leben in dem Lande, in das ihr zieht über den Jordan, um es einzunehmen.

Ähnlich stellt Johannes 1,18 die Tora des Mose der Art gegenüber, wie der Messias Jesus unter den veränderten Bedingungen seiner Zeit „die Liebe und Treue“ Gottes zu seinem Volk Israel Wirklichkeit werden lässt. In unseren Bibelübersetzungen steht zwar für die von mir eben mit „Liebe und Treue“ wiedergegebenen griechischen Worte hē charis kai hē alētheia in der Regel „Gnade und Wahrheit“. Wenn sich Johannes mit diesen Worten aber auf die hebräische Wendung chessed wɘˀemeth zurückbezieht, dann geht es ihm um die „solidarische Treue“ Gottes mit Israel auch unter den Bedingungen der erneuten Versklavung unter die weltweite Herrschaft Roms. Und der Messias Jesus bringt unter diesen neuen Bedingungen das Leben, indem er mit seinem Tod am römischen Kreuz eben dieser menschenmörderischen Herrschaft den entscheidenden Schlag versetzt, damit diejenigen, die auf ihn vertrauen, sie durch die Praxis der agapē, einer „solidarischen Liebe“, überwinden können. Jesus übersteigt Mose also nicht in dem Sinne, dass er politische Befreiung im Diesseits durch Befreiung von Verdammnis im Jenseits ersetzt, sondern dass Befreiung von menschenunwürdigen Lebensbedingungen nicht mehr durch den Auszug in ein Gelobtes Land, sondern nur noch durch eine grundlegende Veränderung der gesamten Weltordnung möglich ist.

5 Sōtēr – der „Heiland der Welt“ oder der Befreier der Weltordnung?

Noch ein letzter Hoheitstitel rangiert für Günter Reim (250) nur unter ferner liefen, nämlich (4,42) ho sōtēr tou kosmou, von ihm mit „der Heiland der Welt“ übersetzt. Auch diese Übersetzung legt heutzutage eine bestimmte Vorstellung nahe, nämlich dass Jesus die Seelen aller Menschen der Welt, die an ihn glauben, vom ewigen Verderben erlöst.

Wo allerdings das Wort „Heiland“ in der Lutherübersetzung im Alten Testament auftaucht, ist es in aller Regel auf die Rettung oder Befreiung aus Todesgefahr und Unterdrückung bezogen, insbesondere auf den Gott Israels als den Befreier aus der ägyptischen Sklaverei (Hosea 13,4; Psalm 106,21) oder aus der babylonischen Gefangenschaft (Jesaja 45,15.21).

Insofern liegt es nahe, sich auch für das Johannesevangelium zu fragen, ob mit dem Wort sōtēr bzw. sōtēria (in 4,22) nicht die Befreiung der Welt von der inzwischen römisch gewordenen Weltordnung, die auf ihr lastet, gemeint sein könnte. Dass Johannes davon nur im Zusammenhang mit dem Besuch Jesu in Samaria redet, mag damit zusammenhängen, dass eine Befreiung Israels, die auch die Versöhnung mit den verfeindeten Samaritanern – den ehemals zehn Nordstämmen Israels – einschließt, auf jeden Fall nur im weltweiten Maßstab möglich ist.

Zudem deutet (Johannes 4,16-19) die Symbolik der fünf Männer, die die Samaritanerin gehabt hat, darauf hin, dass Samaria seit der Eroberung durch die Assyrer von immer wieder anderen Völkern mit ihren Fremdgöttern, baˁalim, beherrscht wurden, bis hin zu dem jetzigen Mann, dem römischen Oberherrn, der ebenfalls nicht wirklich ihr Mann ist, sondern ein „Besitzer“, baˁal. <14> Mit der sōtēria, der Befreiung, die nach 4,22 ek tōn Ioudaiōn, „von den Judäern“ kommt, nämlich konkret vom judäischen sōtēr Jesus, kann Samaria, vereint mit dem judäischen Israel und seiner Diaspora, wieder einem Gott gegenübertreten, den es wie in Hosea 2,18 mit „‚mein Mann‘ und nicht mehr ‚mein Baal‘“ ansprechen wird.

In anderer Weise setzt Lance Byron Richey <15> den Titel sōtēr tou kosmou in eine Beziehung zu verschiedenen Titulierungen der römischen Herrscher von Julius Cäsar bis Kaiser Hadrian. Auch ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Johannes diese kaiserliche Selbstbezeichnung kannte. In ähnlicher Weise, wie er auch den Titel, den sich Kaiser Domitian selbst beilegte, Dominus ac Deus, im Munde des Thomas auf Jesus bezieht (Johannes 20,28): ho kyrios mou kai ho theos mou, „Mein Herr und mein Gott!“ (siehe Abschnitt 13), kann auch hier ein propagandistisch in der politischen Öffentlichkeit des römischen Weltreiches verwendeter Titel in einer radikalen Kritik an Herrschaftsansprüchen Roms auf den Messias Jesus übertragen worden sein.

6 Messias

Das Johannesevangelium ist das einzige der Evangelien, in dem zwei Mal die ins Griechische übertragene Form des hebräischen Wortes maschiach, Messias, verwendet wird; Günter Reim verweist dazu (250) lediglich darauf, dass diese Verse 1,41 und 4,25 „aus der Tradition“ stammen. Indem Johannes beide Male darauf hinweist, dass das Wort christos, „Gesalbter“, die Übersetzung dieses Wortes darstellt, mag er Menschen, die sich dessen nicht mehr bewusst sind, darauf hinweisen wollen, dass Jesus tatsächlich der zum König gesalbte Messias des Volkes Israel ist – wobei die Salbung dessen, der als der sich selbst versklavende Herr seinen Schülern die Füße wäscht, 13,14, als eine Salbung seiner Füße durch eine Frau erfolgt, 12,3.

Zu den Stellen im Johannesevangelium, die Jesus christos mit oder ohne bestimmten Artikel nennen, verweist Reim nochmals darauf (251), dass an drei Stellen „das von David herkommende Messiasbild“ kritisch beleuchtet wird. Jesus kommt aus Nazareth in Galiläa, nicht aus der Davidsstadt Bethlehem (1,45f.; 7,41f.), darauf war oben im Abschnitt 1 bereits hingewiesen worden. Weitaus schwerwiegender ist, dass Jesus einer Volksmenge in 12,32f. seine „Erhöhung von der Erde“ ankündigt, „um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde“. Das ist in ihren Augen inakzeptabel, und sie entgegnet ihm (12,34): „Wir haben aus dem Gesetz gehört, daß der Christus in Ewigkeit bleibt.“

Tatsächlich genügt es Johannes nicht, die Messianität Jesu von gängigen Vorstellungen her zu bestimmen. Ton Veerkamp <16> schreibt dazu:

Uns scheint, als ob Johannes sagen – oder besser: suggerieren – wollte, so etwas wie einen Messias als eine definitive Lösung all unserer Probleme gibt es nicht.

Darum greift Johannes auf andere Vorstellungen zurück, um die tatsächliche Bedeutung Jesu auszudrücken, auf die ich in späteren Abschnitten eingehen werde.

7 Prophet wie Mose

Günter Reim verweist darauf (251), dass das „davidische Messiasbild“ nicht nur durch die Rede vom Menschensohn, sondern auch „von dem Propheten (Joh 7,52)“ korrigiert wird.

Welcher Prophet damit gemeint ist, wird in der Aussage der Samaritanerin angedeutet (4,25): „Ich weiß, daß Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn derselbe kommen wird, so wird er‘s uns alles verkündigen“, denn sie gibt „richtig samaritanische Theologie wieder…, in der man den Messias/Taheb als neuen Mose erwartete“. Und es „zeigen auch andere Stellen im Johannesevangelium dieselbe Anschauung vom Propheten wie Mose bei der Interpretation des Messiastitels“. So spielt Johannes 7,31 auf die Zeichen an, „die Jesus als der Prophet wie Mose tut“. Schließlich wird auch in 20,31 „davon gesprochen, daß die im Evangelium berichteten Zeichen Glauben an Jesus als den Christus, den Sohn Gottes, hervorrufen sollen.“

Das heißt, was Johannes bereits im Prolog im Blick auf den logos und die Tora des Mose angedeutet hatte (siehe oben Abschnitt 4), wird im Evangelium selbst immer wieder konkret ausgeführt: Jesus erweist sich als ein neuer Mose, der unter den Bedingungen einer neuen weltweiten Versklavung neue Zeichen und Wunder zur Befreiung Israels vollbringt.

Da die Befreiung zur Zeit Jesu und des Johannes aber nicht durch einen bloßen Exodus in ein Gelobtes Land erfolgen kann, sondern die Überwindung der gesamten Weltordnung erfordert, muss Jesus als der von Mose vorausgesagte Prophet (5. Mose 18,18) mehr als nur „Zeichen“ vollbringen. Nach Günter Reim verweist Jesus in 10,24f. selbst „auf die Werke, die er getan hat, als Ausweis seines Messiastums“. Damit ist allerdings die Vorstellung von einem Propheten wie Mose überstiegen, denn mit diesen Werken sind Schöpfungswerke gemeint, die nach den Schriften dem Gott Israels vorbehalten sind, die aber gemäß Johannes 5,17 auch Jesus als der Sohn Gottes vollbringen soll und kann. Verbunden ist damit auch die Idee, dass die Schöpfung Gottes erst dann vollendet ist, wenn das Leben der kommenden Weltzeit des Friedens für Israel inmitten der Völker endlich angebrochen sein wird.

8 Menschensohn

Günter Reim nimmt an (252), dass Johannes „das Danielbuch nicht gekannt“ und den „Titel ‚Menschensohn‘ … aus der (mündlichen) Tradition übernommen“ hat. Wenn Johannes allerdings ein Jude war, der in den Überlieferungen des TeNaK lebte, weil er sie in den Versammlungen der Synagoge in sich aufgenommen hatte, dann muss er zwar nicht alle diese Schriften sozusagen in Griffweite neben seinem Schreibtisch liegen gehabt haben, aber er hatte ihre wesentlichen Vorstellungen im Kopf. Dazu gehört mit Sicherheit auch die Vision Daniels vom Menschensohn.

8.1 Ehre und Macht

Ein erster Grund, weshalb Reim die Kenntnis des Danielbuchs durch Johannes ausschließt, ist in seinen Augen, dass dieser nur auf wenige Elemente der Menschensohnvorstellung ausdrücklich zurückgreift, nämlich das „Gericht“ (Daniel 7,10) und das „Kommen des Menschensohnes“ (Daniel 7,13). Auf die „Ausstattung des Menschensohnes mit Macht, Ehre und Reich“ und darauf, „dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten“ (Daniel 7,14), geht Johannes ihm zufolge nicht wortwörtlich ein. Das stimmt allerdings gar nicht, denn in Johannes 17,1f. ist durchaus von doxa, „Ehre“, und exousia, „Macht“, die Rede, also von genau der Ehre und Macht, die der VATER dem Sohn übergibt, damit dieser wiederum den Menschen zōēn aiōnion, „äonisches Leben, Leben der kommenden Weltzeit“, geben kann.

8.2 Gericht

Zweitens will Reim aber auch die Rede vom Gericht des Menschensohns in Johannes 5,27-29 auf eine bloße Übernahme aus der Tradition (des von ihm vorausgesetzten 4. Synoptikers) zurückführen, weil nämlich angeblich „Johannes in Joh 5,28f eine ihm sonst fremde Eschatologie bringt.“ Ich sage angeblich, denn es kann ja auch unserem paulinisch-lutherisch geprägten Vorurteil entsprechen, dass das johanneische Vertrauen auf den Messias Jesus im Widerspruch zu Daniel 12,2 stehen soll, worauf sich Johannes 28f. ziemlich wortgetreu bezieht:

Wundert euch darüber nicht. Es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden, und es werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Im Übrigen widerspricht nicht einmal bei Paulus das Vertrauen auf Jesus einem Gericht nach guten oder bösen Werken, wie aus 2. Korinther 5,10 unmissverständlich hervorgeht. Nirgends in der Bibel, weder in den jüdischen (AT) noch in den messianischen (NT) Schriften gibt es eine billige Gnade, überall gilt der Grundsatz aus Psalm 130,4:

Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.

8.3 Abstieg und Aufstieg vom und zum Himmel

Drittens geht Günter Reim (253) auf die Art ein, wie Johannes das „Kommen des Menschensohns“ in sein Reden vom Messias einbaut. Dabei betont er zunächst:

Die Aufwärtsbewegung des Menschensohnes wird bei Johannes mit anderen Worten als bei Daniel wiedergegeben. Der Uralte wird nicht erwähnt.

Genau genommen ist allerdings in Daniel 7 weder von einer Aufwärts- noch von einer Abwärtsbewegung des Menschensohnes die Rede. Davon spricht erst Johannes. Indem Johannes aber auch von der Übergabe des Gerichts durch den Vater an den Sohn spricht (5,22), spielt er unausgesprochen auch auf den Uralten an, der in Daniel 7,9-10 auf einem Thron Platz nimmt, um Gericht zu halten.

Wer ist dieser Menschensohn in Daniel 7 überhaupt? Das dort verwendete aramäische Wort bar enosch bedeutet eigentlich einfach „Mensch“ und bezeichnet eine Herrschergestalt mit menschlichem Gesicht, die eine lange Reihe bestialisch herrschender Weltmächte ablösen wird. Dieser „Mensch“ kommt nicht von unten, aus dem Meer, sondern mit den Wolken des Himmels. Wichtig ist weiterhin, dass nach Daniel 7,18 das dem Menschensohn übertragene Reich dem Volk der „Heiligen des Höchsten“, also dem Volk Israel, übergeben wird. Wie das geschieht, bleibt offen.

Genau auf diese Frage des „Wie“ versucht Johannes in seinem Evangelium zu antworten. Was Johannes zu diesem Zweck an diesem Bild ändert, ist nicht die Art der Aufwärtsbewegung des Menschensohnes, sondern, dass der Menschensohn vom Himmel überhaupt erst einmal absteigen, Fleisch werden muss (1,14), um wieder in den Himmel aufsteigen zu können.

Ton Veerkamp <17> drückt das in seiner Auslegung von Johannes 3,13: „Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen, denn der, der vom Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn“, folgendermaßen aus:

Der in den Himmel aufgestiegen ist, der also vor dem „Fortgeschrittenen an Tagen“ steht, ist jetzt der, der aus dem Himmel abgestiegen ist. Das ist das Neue bei Johannes. Der sogenannte „Menschensohn“ ist bei Johannes zu einer irdischen Gestalt, eben „Fleisch geworden“, heißt es im Prolog.

Bei Daniel ist die Erhebung des MENSCHEN die Ausstattung mit der „Regierungsmacht, der Würde und dem Königtum“. In der Vision wird nicht gesagt, wie das geschehen wird. Es wird lediglich angedeutet, dass dieser bar enosch identisch ist mit „dem Volk der Heiligen der Höchsten“, Israel. Johannes beschreibt das Wie. Prinzipiell wird die Erhebung oder der Aufstieg des bar enosch, des MENSCHEN, als Abstieg geschehen, als „Fleischwerdung“, als konkrete politische Existenz, die am Kreuz der Römer endet und enden muss. So wie die Lage jetzt ist, kann die Erhöhung des MENSCHEN, also Israels, nur durch die Niederlage hindurch gedeutet werden. Die Verfremdung von Daniel 7 ist die Aktualisierung der Vision: Aufstieg ist Abstieg, Abstieg ist Aufstieg.

Günter Reim (253f.) zählt eine ganze Reihe von Stellen im Johannesevangelium auf, in denen er „den Gedanken der Aufwärtsbewegung“ des Menschensohnes erblickt, nämlich wo von der Erhöhung der Schlange in der Wüste (3,14) die Rede ist und weiter vom Hinaufsteigen (6,62) und Erhöhen (8,28; 12,34) des Menschensohnes.

Erst nachträglich (254) geht Reim dann doch darauf ein, dass der Aufstieg des Menschensohnes zunächst seinen Abstieg vom Himmel voraussetzt:

Die Anschauung vom Aufsteigen des Menschensohnes ist jedoch von Johannes noch weiterentwickelt worden: Wenn der Menschensohn gemäß der Schrift gen Himmel aufsteigen soll (Joh 3,13a), so muß er, der bei Gott im Anfang war (Joh 1,1f), zuerst vom Himmel herniedergekommen sein (Joh 3,13b). <18> Er war also erst im Himmel und fährt nur dahin zurück, wo er zuvor war (Joh 6,62).

Großen Wert legt Günter Reim auf die Feststellung (254), dass nicht nur die Erhöhung, sondern auch „das Wort ‚verherrlichen‘“ (12,23.34; 13,31-32) mit dem „Gedanken der Aufwärtsbewegung“ des Menschensohnes verbunden ist:

Ist die Kreuzigung, von den Menschen her gesehen, ein Akt der Erhöhung, so ist sie, von Gott her gesehen, ein Akt der Verherrlichung. Deswegen spricht Johannes auch an manchen seltenen Stellen von der Verherrlichung des Menschensohnes und hat die Aufwärtsbewegung vor Augen.

Und es ist diese Verherrlichung des Menschensohnes, die nach Günter Reim ganz und gar nicht in einem Zusammenhang mit Daniel 7 zu sehen ist, sondern vielmehr mit einem anderen Buch des Alten Testaments, auf das Johannes auch sonst häufig zurückgreift, nämlich dem Buch Jesaja.

9 Knecht Gottes

Damit gelangt Günter Reim (254) zu einer Beobachtung, die mir bisher nicht aufgefallen war und für die ich ihm sehr dankbar bin, dass Johannes dort, wo er Jesus den Menschensohn nennt, ihn offenbar auch als den Knecht Gottes aus dem Buch Jesaja sieht, allerdings ohne Jesus diesen Titel ausdrücklich beizulegen:

An fünf von den sieben aufgeführten Stellen (3,14; 8,28; 12,23; 12.34; 13,31) sehen wir, wie es Johannes möglich ist, mit Hilfe des traditionellen Titels ‚Menschensohn‘ den nicht so geeigneten deuterojesajanischen Titel ‚Knecht‘ zu ersetzen. <19> Hieß es in Jes 52,13: ‚Siehe … er [mein Knecht] wird erhöht und sehr hoch erhaben sein‘, so hören wir dasselbe nun bei Johannes nicht vom Knecht, sondern vom Menschensohn ausgesagt.

Reim geht allerdings nicht darauf ein, dass es im Buch Jesaja ähnlich ist wie bei Daniel, wo der Menschensohn einerseits eine einzelne Person ist, dann aber auch mit dem Volk Israel gleichgesetzt zu werden scheint. So identifiziert sich der „Knecht“ Gottes, hebräisch ˁeved, griechisch doulos (an anderen Stellen auch pais), durch den sich der Gott Israels verherrlichen will, in Jesaja 49,3 selbst mit Israel:

Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.

Nur zwei Verse weiter, Jesaja 49,5, redet derselbe Sprecher von seiner Beauftragung durch Gott,

der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde…

Versteht Johannes den Menschensohn Jesus auf diesem Hintergrund, dann sieht er Jesus zugleich als die Verkörperung seines Volkes Israel wie auch als denjenigen, der die Sammlung und Befreiung Israels bewirken wird. Genau darin, was nach Jesaja zu Gottes doxa, „Verherrlichung, Ehre“, dient, besteht ja nach Johannes 11,51-52 Jesu Aufgabe. Sogar die mehrfache Erwähnung Jakobs fehlt im Johannesevangelium nicht, als sich Jesus am Jakobsbrunnen (4,5ff.) um die Versöhnung Judäas mit Samaria (den verlorenen Stämmen Nordisraels) bemüht.

Warum man, wie Reim sagt (255), „die Bezeichnung Jesu als Knecht gern vermied“, begründet er nicht. Sie widerspricht jedenfalls nicht Jesu Haltung als „Herr und Lehrer“, kyrios kai didaskalos, der dennoch seinen Schülern wie ein Sklave die Füße wäscht (13,14). Jesus mag (13,16) das Wort doulos, „Knecht, Sklave“, sogar andeutungsweise auf sich selbst beziehen, indem er diesen dem kyrios, „Herrn“, genau so gegenüberstellt wie den „Gesandten“ demjenigen, „der ihn gesandt hat“. Aus 8,33-35 geht allerdings hervor, dass Jesus im Verhältnis zu Gott mehr ist als ein Knecht, nämlich der Sohn; und auch seine Schüler, die durchaus als Knechte bezeichnet werden können (13,16; 15,20), will er lieber seine „Freunde“ nennen (15,15).

10 Lamm Gottes

Vom Knecht Gottes in Jesaja 52,13 ist es kein weiter Weg zum Lamm Gottes in Jesaja 53,7. So wird Jesus in Johannes 1,29 und 36 zwei Mal ausdrücklich von Johannes dem Täufer genannt. Darauf geht Günter Reim nicht in diesem Kapitel ein, wohl aber begründet er an anderer Stelle seines Buches ausführlich (179), in welcher Weise Johannes den Titel „Lamm Gottes“ auf Jesus bezieht:

Johannes gibt in seinem Evangelium zwei ursprünglich voneinander unabhängige Traditionen vom Lamm Gottes (Joh 1,36) und vom Passahlamm (Joh 19,36) wieder und entwickelt zugleich beide Traditionen: die vom Lamm Gottes durch den Zusatz aus Jes 53, daß das Lamm der Welt Sünde trägt (Joh 1,29) und die vom Passahlamm dadurch, daß er den Todestag Jesu auf den Vortag des Passahfestes verlegt.

Was in diesem Zusammenhang immer wieder Schwierigkeiten bereitet, ist das Wort Sünde, hebr. chetˀ, griechisch hamartia. Wir beziehen das Wort in der Regel entweder auf moralische Verfehlungen des einzelnen Menschen oder (vor allem in einem Christentum, das sich auf Paulus in lutherischem Verständnis beruft) auf eine Trennung von Gott, die durch unseren Unglauben bedingt ist. Schaut man sich jedoch den TeNaK genauer an, so besteht die grundlegende Verfehlung oder Verirrung des Volkes Israel, die mehrfach das Gericht Gottes hervorruft, vor allem darin, dass die gesamte Gesellschaft und insbesondere ihre Führung den Weg des Rechts und die Disziplin der Freiheit verlassen und den Weg des Unrechts, der Unterdrückung und Ausbeutung beschritten hat.

Vor diesem Hintergrund bezieht Ton Veerkamp Johannes 1,29 nicht nur auf Jesaja 53, sondern auch auf die Bestimmungen des Großen Versöhnungstages im 3. Buch Mose (Leviticus) 16. In seinen Augen hebt der Messias durch seinen Tod am römischen Kreuz „aktiv die Verirrungen einer ganzen Weltordnung auf. Johannes ändert die Dimensionen; es geht nicht um die ‚Verirrungen der Söhne Israels‘, sondern um die ‚Verirrungen der Weltordnung, kosmos‘.“ <20>

11 Brot vom Himmel

Schließlich sind nach Günter Reim (255) auch noch

zwei weitere Ereignisse mit dem Menschensohn in Verbindung zu bringen: Mannaspeisung und Abendmahl. Der herabsteigende Menschensohn ist zugleich das rechte Brot vom Himmel, das vom Himmel ‚herabsteigt‘ und der Welt das Leben gibt (Joh 6,32f).

Die Frage ist aber, was mit diesem Leben gemeint ist: nach Veerkamp wird er die kommende Weltzeit anbrechen lassen und so den Hunger Israels für immer stillen.

Günter Reim hat andere Ideen zu den Überlegungen des Evangelisten (255f.):

Der Menschensohn war zuvor im Himmel und hat ‚himmlisches‘ (Joh 3,12) Wissen, das er beim Heruntersteigen mit sich bringt und dem man glauben soll (Joh 3,12). Es ist die Speise, die in das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn geben wird (Joh 6,27), das wahre Brot aus dem Himmel, das Leben gibt (Joh 6,32f). Dieses Brot ist mit Jesus identisch (Joh 6,35), der vom Himmel gestiegen ist (Joh 6,38). Mit dem Herabsteigen dieses Brotes wird die Verheißung aus Jes 54,13 erfüllt: ‚Alle werden von Gott gelehrt sein‘. Denn Jesus, der lehrt, hat den Vater gesehen und kommt von ihm (Joh 6,46). Auf das himmlische Wissen des Menschensohnes wird außer in Joh 3,12 und Joh 6 auch noch in Joh 1,51 angespielt. Mit Hilfe dieses Wissens – so interpretiert Johannes durch das Hinzusetzen von Joh 1,51 zum traditionellen Material – erkennt Jesus Nathanael, den er vorher unter dem Feigenbaum gesehen hatte, als wahren Israeliten, in welchem kein Falsch ist (Joh 1,47f). Die auf den Menschensohn auf- und absteigenden Engel unterhalten die Verbindung, die vorher da war, als der Menschensohn noch bei Gott war.

Aber wird Jesus auf diese Weise nicht zu einer nur scheinbar menschlichen Gestalt gemacht? Wandelt er nicht wie ein Halbgott über diese Erde, indem er von Informationen zehrt, die er von seinem Vorleben aus dem Himmel mitgebracht hat? Muss man wirklich das, was Jesus über andere Menschen weiß, etwa über Nathanael, auf diese Weise als übernatürliche Fähigkeit erklären?

Vergleicht man das Johannesevangelium etwa mit dem Ersten Henochbuch, so fällt auf, dass die im Letzteren ausführlich dargebotenen Schilderungen des Himmels im Ersteren vollständig fehlen. Nirgends stellt Johannes den Himmel auch nur ein einziges Mal mit irgendwelchen Einzelheiten als einen Ort dar, an dem sich der Mensch Jesus vor oder nach seinem irdischen Leben aufgehalten hätte. <21>

Für das Johannesevangelium besagt die himmlische Herkunft des Menschensohns nichts anderes, als dass dieser konkrete Jude Jesus eben derjenige ist, den der Gott Israels zu seinem Gesandten bestimmt hat. Er ist und bleibt Mensch in seiner Eigenschaft als sarx, „Fleisch“, nämlich sterblich, verwundbar, vergänglich in dem Sinne, dass sich eine ganze Weltordnung und ihre judäischen Kollaborateure an ihm vergehen können. Der Himmel bezeichnet im TeNaK die Unzugänglichkeit und Unverfügbarkeit des Gottes Israels, der sich aber dennoch in seiner Wegweisung, thorah, mit seinem ebenso unverfügbaren NAMEN <22> als der Befreier Israels zureichend offenbart hat. Indem Jesus als der Menschensohn von diesem Himmel kommt, drückt Johannes nichts anderes aus, als dass er in seinem Willen und Wirken vollkommen auf diesen befreienden NAMEN ausgerichtet ist, sich von ihm bestimmen lässt, ihn vollkommen verkörpert. Sein himmlisches Wissen ist daher alles andere als ein übernatürliches Vorauswissen: es stammt aus dem Wissen um die befreiende Macht des NAMENS, genährt durch eine von der Treue Gottes inspirierte Auslegung der Schriften. In diesem Sinne sahen wir bereits, dass Jesu Sehen des Nathanael unter dem Feigenbaum mit dessen Sehnsucht nach dem Frieden für Israel zusammenhängt.

Zu guter Letzt (256) wird nach Günter Reim „auch in der an die Mannarede angefügten Abendmahlsrede vom Menschensohn gesprochen“. Dabei versteht er die Verse 6,51-58 als einen „Bericht vom Abendmahl aus dem 4. Synoptiker“, den Johannes in der Weise in die Mannarede eingearbeitet hat, dass man das „Brot, das vom Himmel gestiegen ist“, nicht nur hören, sondern auch essen kann. Mit der Frage, ob man aus diesen Versen tatsächlich schließen kann, dass das Ritual des Abendmahls in der johanneischen Gemeinde selbstverständlich gefeiert wurde, habe ich mich andernorts ausführlich auseinandergesetzt. <23>

12 Sohn Gottes, Sohn, „eingeborener“ Sohn

Kommen wir nun (256) zur „Bezeichnung Jesu als Sohn Gottes“, die Günter Reim den „beherrschenden christologischen Titel“ des Johannesevangeliums nennt.

12.1 Gottes Sohn und die Weisheit

Für Johannes eignete sich Reim zufolge (256f.) der

in der Tradition vorgegebene Sohnestitel … einzigartig, um das Verhältnis, das zwischen Weisheit und Gott bestand und das von Christen auf Jesus übertragen wurde, zu bezeichnen. Ersetzte der Logostitel in Joh 1 die Weisheit, so ersetzt der Sohnestitel Weisheit und Logos. Dieser Vorgang wird sich schon in dem vorjohanneischen Logoslied ereignet haben (vergleiche Joh 1,14). <24>

Merkwürdigerweise wird in allen von Reim angegebenen Stellen aus den Büchern der Sprüche oder Weisheit Salomos und Jesus Sirach jedoch kein einziges Mal überhaupt das Wort hyios, „Sohn“, im Zusammenhang mit Gott erwähnt; nur in Sprüche 8,32 redet die Weisheit ihre Söhne (hebräisch banim) oder ihren Sohn (griechisch hyie) an, die ihre Wege wahren sollen.

Dabei gibt es durchaus in Weisheit 2,18 eine Stelle, in der mächtige Gewaltherrscher gegen einen „Gerechten“ vorgehen wollen, den sie „Gottes Sohn“ nennen:

18 Ist der Gerechte Gottes Sohn, so wird er ihm helfen und ihn erretten aus der Hand der Widersacher.

19 Durch Schmach und Qual wollen wir ihn auf die Probe stellen, damit wir sehen, wie es mit seiner Sanftmut steht, und prüfen, wie geduldig er ist.

20 Wir wollen ihn zu schändlichem Tod verurteilen, denn er selbst sagt ja, es werde ihm Rettung zuteil.

Genau diese Stelle, die Matthäus 27,39-43 ausführlich aufgreift, erwähnt Johannes in seinem Kreuzigungsbericht jedoch mit keiner Silbe.

Auch inhaltlich ist fraglich, wie bereits oben in Abschnitt 4 angedeutet, ob sich etwa das Wirken der Werke des Vaters durch den Sohn in Johannes 17 tatsächlich durch den Rückbezug auf Weisheit 9,9-10 erklären lässt:

9 Und bei dir ist die Weisheit, die deine Werke kennt und die dabei war, als du die Welt schufst, und die weiß, was dir wohlgefällt und was recht ist nach deinen Geboten.

10 Sende sie herab von deinem heiligen Himmel, und von dem Thron deiner Herrlichkeit. Sende sie, dass sie bei mir sei und mit mir arbeite, dass ich erkenne, was dir wohlgefällt.

Jedenfalls ist im Weisheitstext noch nicht wie bei Johannes davon die Rede, dass Gott weiterhin Werke im Sinne von noch nicht vollendeten Schöpfungswerken wirken muss (vgl. den letzten Absatz im Abschnitt 7), vielmehr geht der Sprecher (den sich der Text als König Salomo vorstellt) von einer vollendet geschaffenen Welt aus, innerhalb derer es darauf ankommt, durch die von Gott herabgesandte Weisheit zu erkennen, was Gott nach seinen Geboten wohlgefällt. Johannes dagegen versteht die Welt, kosmos, als eine durch die römische Gewaltherrschaft total in Unordnung geratene Weltordnung, die überwunden und durch den Anbruch des kommenden messianischen Zeitalters, zōē aiōnios, abgelöst werden muss.

Auch die von Reim auf Worte im Buch der Sprüche (3,17; 4,11; 8,32) zurückgeführte Selbstbezeichnung Jesu als Weg, Wahrheit und Leben lässt sich nach Ton Veerkamp <25> besser auf die Übereinstimmung des Messias mit dem befreienden Gott Israels beziehen, der nach 5. Mose 30,15-16 und 32,4 „Weg, Treue und Leben“ für Israel ist.

12.2 Einziggezeugter Sohn – der zweite Isaak!

Erstaunlicherweise geht Günter Reim in seiner Besprechung des Sohnestitels für Jesus nur ganz am Ende seiner diesbezüglichen Ausführungen in zwei kurzen Sätzen auf seine Charakterisierung als monogenēs, wörtlich „einziggeboren, einziggezeugt, einzig“, ein, was in unseren Bibeln meist als „eingeboren“ übersetzt wird:

Vermutlich geht die Bezeichnung Jesu als eingeborener Sohn (Joh 3,16 l, 18 vl) <26> auf die Tradition zurück. Alttestamentlicher Hintergrund für Joh 3,16 scheint die Parallele zu Rö 8,32 Gen 22,12 zu sein. <27>

Nun ist Johannes 3,16 nicht gerade eine nebensächliche Stelle für das Verständnis des Johannesevangeliums, und es ist nicht einmal die erste im Evangelium, an der das Wort monogenēs erscheint. Auch in den für das Verhältnis zwischen Gott und Jesus so wichtigen Stellen 1,14 und 18 im Prolog taucht es auf.

Zu Recht weist Reim auf die Parallele zu 1. Mose (Genesis) 22,12 hin, die im Hebräerbrief 11,17 noch deutlicher als in Römer 8,32 hervortritt, weil dort der monogenēs sogar ausdrücklich erwähnt wird.

Eben von 1. Mose 22 her begreift Ton Veerkamp <28> die Rede von Gottes einziggezeugtem Sohn, von dem es in Johannes 3,16 heißt: ōste ton hyion monogenē edōken, „dass er den Sohn, den Einziggezeugten, gab“:

Johannes bietet im zweiten Satz wiederum einen Midrasch [hebräisch: Auslegung], den über die „Bindung Isaaks, des Einzigen“, Genesis 22. Dort wird von Abraham gefordert, seinen Sohn, „seinen Einzigen“, als Opfer zu erheben. Dann sagte der Bote des NAMENS zu Abraham, Genesis 22,11ff.:

Der Bote des NAMENS rief ihm vom Himmel her zu.
Abraham sagte: „Hier, ich!“
Er sagte:
„Schicke deine Hand nicht aus gegen den Knaben,
tue ihm gar nichts;
jetzt erkenne ich:
du hast Ehrfurcht vor Gott,
denn du hast mir deinen Sohn, deinen Einzigen, nicht vorenthalten.“
Abraham hob seine Augen,
er sah, wie ein Widder sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hat.
Abraham ging, nahm den Widder,
erhob ihn als Hebeopfer statt seines Sohnes.

Mit dem Wort monogenēs, jachid, ruft Johannes diese Schriftstelle auf. Christen denken dabei immer an das Trinitätsdogma, Jeschua als der ewige Sohn des VATERS, genitum non factum, „gezeugt, nicht gemacht“. Nein; hier ist der SOHN nicht die Gestalt von Daniel 7, sondern die Repräsentation Isaaks. Auf diesen Sohn hatte Abraham ein Leben lang gewartet; er ist seine Zukunft. Der Gott Abrahams muss Abraham in einer boshaft-drastischen Weise klar machen, dass dieser Isaak nicht der Sohn Abrahams, sondern der Sohn seines Gottes ist, des VATERS von Israel, dem Volk, das dazu bestimmt ist, Erstgeborenes unter den Völkern zu sein. Bleibt Isaak nicht am Leben, hat Abraham keine Zukunft. Er muss am Leben bleiben, aber nur als Gottes Sohn.

Johannes stellt hier Jeschua vor als die Repräsentation Isaaks. Wie damals Isaak ist jetzt Jeschua die Zukunft. Im hebräischen Text steht, dass Abraham seinen Sohn „erheben“ muss als Hebeopfer (haˁala le-ˁola). So weit kam es nicht; die Bindung Isaaks wird gelöst, die Schlachtung Isaaks unterbunden, weil Abraham nachweislich seinen Sohn nicht mehr als seine eigene, partikulare Zukunft sieht, sondern als die Zukunft „Gottes“ anerkennt. Die Solidarität Gottes mit Abraham zeigte sich damals in der Verhinderung der Opferung Isaaks. Bei Johannes muss der Gott Israels etwas tun, was von Abraham nie verlangt wurde. Hier wird Jeschua/Isaak erhöht, blutig. Hier geht der Gott Israels den ganzen blutigen Weg mit der Welt der Menschen, weil es keinen anderen Weg gibt, um mit ihnen solidarisch zu sein.

Johannes verfremdet die Erzählung von der Bindung Isaaks. Führt die Zukunft Abrahams über die Lösung der Bindung Isaaks, so führt hier die Zukunft über die Schlachtung des Messias, so brutal muss man das Wort edōken, „hingegeben“, deuten. „Gott“ geht den ganzen blutigen Weg nach unten, weil die Weltordnung den Gott sozusagen zwingt, seinen Einzigen töten zu lassen.

Wir hatten bereits gesehen, dass sowohl der Menschensohn im Buch Daniel als auch der Knecht Gottes im Buch Jesaja das Volk Israel repräsentieren können und zugleich als eine bestimmte Person vorgestellt werden. Noch deutlicher ist die Identität des Einziggezeugten, monogenēs, mit dem Volk Israel, denn über Jakob führt dieses sich auf Isaak zurück. Und indem Jesus mit Isaak = Israel identifiziert wird, ist er zugleich Gottes „erstgeborener Sohn“ (2. Mose 4,22).

Nur von dieser Vater-Sohn-Beziehung zwischen dem Gott Israels und seinem Volk Israel her ist es zu begreifen, dass die Bezeichnung Jesu als „Sohn“ alle anderen Titulierungen in ihrer Bedeutung übertrifft.

12.3 Der Sohn als der Gesandte des VATERS

Umgekehrt spricht Johannes nach Günter Reim (258) mit

Vorliebe … von Gott als dem Vater, der seinen Sohn gesandt hat. Auch hier ist von Johannes ein ihm überkommener Begriff weiterentwickelt worden, so daß das für das Johannesevangelium bezeichnende Sohn-Vater-Verhältnis entsteht.

Aber worauf genau greift er zurück und wie entwickelt er den Vater-Begriff weiter? <29> Ton Veerkamp <30> findet eine Antwort auf diese Frage im „Gleichnis vom Vater und Sohn“ in Johannes 5,19-21:

Eine Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums ist die Bezeichnung des Gottesnamens JHWH mit der Vokabel VATER. Hier verrät uns Johannes, wie er auf diese Titulatur gekommen ist. Er geht von jener gesellschaftlichen Sozialstruktur aus, in der die Kette Väter-Söhne das tragende Gerüst bildet. Wir haben es mit einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft zu tun. Der Sohn setzt die Lebensgeschichte – die Schrift sagt: den NAMEN – des VATERS fort. Er tut nur das, was er den VATER tun sieht, heißt es bei Johannes.

Dass der Sohnestitel für Johannes so wichtig ist, erklärt sich also vor allem daher, dass er Jesus nicht anders begreifen kann als vollkommen ausgerichtet auf eben diesen Gott Israels, pros ton theon, was gleich in den ersten beiden Sätzen seines Evangeliums zweifach betont wird. Eine so enge Beziehung mit einem zugleich deutlichen Autoritätsgefälle kann in seinen Augen offenbar nicht besser ausgedrückt werden als in der Vater-Sohn-Beziehung.

13 Jesus als Gott?

Die Frage ist allerdings, ob tatsächlich, woran Günter Reim (259) keinen Zweifel gelten lässt, „die Bezeichnung Jesu als Gott schon in der Tradition vorgegeben“ war, und zwar im Logoslied Joh 1,1.“ Tatsächlich steht dort aber nicht ho theos, „der Gott“, wobei der bestimmte Artikel klar den Gott Israels bezeichnen würde, sondern theos ohne bestimmten Artikel. Das kann auch so übersetzt werden: „göttlich, gottbestimmt, war das Wort“ – also wie ich eben schon sagte: in einer Weise, in der das Autoritätsgefälle zwischen dem unverfügbaren Einen Gott Israels, der auch durch seinen NAMEN nicht verfügbar gemacht werden kann, und dem Messias und Sohn dieses Gottes, der ganz und gar Mensch bleibt, nicht aufgehoben wird.

Zwei weitere Stellen gibt es, „an denen im Johannesevangelium von Jesus als von Gott gesprochen wird“; sie stammen Reim zufolge vom Evangelisten: Johannes 1,18 und 20,28.

Die erste Stelle legt Reim entsprechend seinen Ausführungen zum weisheitlich interpretierten Brot vom Himmel aus (siehe oben Abschnitt 11). Indem in Johannes 1,18 nach den inzwischen als ursprünglicher eingeschätzten Textversionen nicht vom eingeborenen Sohn, sondern vom eingeborenen Gott, monogenēs theos, die Rede ist, wird in diesem Vers

das Ziel des ganzen Hymnus sichtbar: Exegese Gottes durch den im Sohn Fleisch gewordenen Logos, Exegese Gottes durch Gott selbst. Der Logoshymnus gibt Antwort auf die Frage der Weisen: Wer hat ihn gesehen und erzählt es (uns) und wer macht ihn groß, wie er ist? (Sir 43,31)

Da allerdings ebenso wie in Johannes 1,1 auch hier das Wort theos in den zuverlässigsten Lesarten des Textes ohne den bestimmten Artikel steht, wird auszuschließen sein, dass Johannes Jesus vollständig mit dem Gott Israels identifizieren will. Richtig ist, dass es in den Augen des Evangelisten keinen Exegeten Gottes geben kann, der dessen Willen und Wirken getreuer ausführen – und das heißt: in seiner befreienden Kraft tatsächlich geschehen lassen kann. <31>

In der Thomasgeschichte findet sich schließlich die einzige Stelle, an der Jesus als ho theos, also „Gott“ mit bestimmtem Artikel, bezeichnet wird. Nach Günter Reim stammt zwar die Erzählung „aus der Tradition“, in dem am Ende stehenden Bekenntnis wird ihm zufolge (260) jedoch zwar

vom Kyrios die Rede gewesen sein, aber kaum vom ‚Gott‘. Jesus wird im NT äußerst selten als Gott bezeichnet. Anders das Johannesevangelium, das von der Bezeichnung Jesu als Gott ausgeht (Joh 1,1) und zu ihr wieder hinführt (20,28), und somit exemplarisch die Exegese Gottes durch Gott aufzeigt.

Aber in welchem Sinne mag Johannes nicht nur von Jesus als „dem Herrn“, ho kyrios, sondern auch „dem Gott“, ho theos, geredet haben? Auffällig ist, dass die Zusammenstellung beider Bezeichnungen genau dem Titel entspricht, mit dem sich der römische Kaiser Domitian anreden ließ: dominus ac deus. Wenn Thomas dem von Rom gekreuzigten Jesus mit seinen Wundmalen also den kaiserlichen Titel zulegt, dann gibt er ein politisches Statement ab: nicht der Beherrscher des weltweiten Imperiums verdient diese Anrede, sondern dieser Jesus, der den Gott Israels in seiner befreienden Macht verkörpert und der eben in seiner Erhöhung ans römische Kreuz den endgültigen Sieg über die römische Weltordnung errungen hat.

Günter Reim dagegen findet den „Ausgangspunkt für die Bezeichnung Jesu als Gott“ im Schöpfungsbericht in 1. Mose 1, den er als „das Grundkapitel für alle Weisheitstheologie und damit auch das Grundkapitel des Logoshymnus im Johannesevangelium“ betrachtet. Im gleichen weisheitlichen Zusammenhang versteht er auch die Aussage „Ich und der VATER, eins sind wir“ in Johannes 10,30 als zusätzlichen Beleg für die Identität Jesu mit Gott (358):

Die Aussagen über die Einheit des Sohnes mit dem Vater (Joh 10,30 und andere) sind wahrscheinlich mit Hilfe des Verhältnisses der Weisheit zu Gott, des Knechtes zu Gott und des deuterojesajanischen Ego eimi entwickelt worden.

Aber hat Johannes in seiner Vorstellung von Jesu Einheit mit Gott wirklich, wie Reim meint (259), auf „das Verhältnis der Weisheit zu Gott als innergöttliches Verhältnis“ zurückgegriffen, „wie wir es in Weish 8,3f und 9,9 dargestellt finden“? Dort ist die Weisheit, sophia, in Gottes Wissen eingeweiht und hat an seinen Werken teil, insbesondere an der Schöpfung der Welt; in Weisheit 8,3.9.16 wird sie die Gefährtin Gottes, symbiōsis theou, genannt. Aber der Begriff sophia kommt (siehe Abschnitt 4) im Johannesevangelium gar nicht vor. Zudem ist die weisheitliche Gefährtin Gottes nicht als Wesenheit zu verstehen, die mit Gott auf Augenhöhe stünde, sondern als symbolische Repräsentation eines göttlichen Wesenszuges.

Weiter führen in meinen Augen aber tatsächlich die Überlegungen Reims zur „Einheit des Sohnes mit dem Vater“ auf Grund der Vorstellungen vom Gottesknecht und des egō eimi im Buch Jesaja. Was genau er damit meint, erläutert er aber erst in seinem letzten Abschnitt seiner Ausführungen.

14 Egō eimi – Jesus als die Verkörperung des befreienden NAMENS Gottes

Zusammenfassend urteil Günter Reim (260) über die Christologie des Johannes, dass er vor allem „die Begriffe Menschensohn, Sohn und Prophet“ stark weiterentwickelt:

Wie Johannes die gerade genannten drei christologischen Titel zusammensehen kann, so ist es ihm auch möglich, andere, für seine Christusdarstellung weniger bedeutende christologische Titel einfach zu übernehmen oder sie nach gründlicher Interpretation in sein Bild einzufügen.

Im Sinne einer „eigenständigen johanneischen Christologie“ versteht Reim dagegen nur die Selbstbezeichnung Jesu als des Egō eimi, die (261) Johannes seiner Überzeugung nach von den „deuterojesajanischen Gerichtsreden“ her entwickelt hat.

War es das Ziel des deuterojesajanischen Gerichts, Gott am Ende als den Ego eimi aufzuzeigen, weil er als einziger dem Volk die Zukunft, die eingetroffen ist, vorausgesagt hatte (Jes 43,10), so ist dieser Aufweis auch das Ziel des von Johannes geschilderten Gerichtes: Die Voraussage der Kreuzigung/Erhöhung durch Jesus (Joh 8,28) trifft ein und zeigt damit zugleich, daß Jesus der Ego eimi ist. Genauso verhält es sich auch mit der Voraussage des Verrats durch Judas, die, wenn sie eintrifft, darauf hinweist, daß Jesus der Ego eimi ist (Joh 13,18f vergleiche weiter 15,18ff). Ist Jesus einmal als der Ego eimi auf dem Hintergrund von Deuterojesaja gezeichnet worden, so ist damit zugleich die Möglichkeit gegeben, das ego eimi in anderen Zusammenhängen als dem des Gerichts zu verwenden.

Ich halte es jedoch für völlig ausgeschlossen, dass sich Johannes in seiner Verwendung der Formulierung egō eimi im Munde Jesu ausschließlich auf die von Reim angegebenen Stellen in den Gerichtsreden Jesajas stützt. Zudem ist das, was Reim in seiner Analyse des Zusammenhangs zwischen Jesaja 43,10 und mehreren Johannes­stellen zur Hauptsache macht, nämlich das Eintreffen von Zukunftsvoraussagen, in beiden Büchern eine nebensächliche Begleiterscheinung dessen, worum es jeweils eigentlich geht.

Dass sich Reim selber in seiner Bezugnahme des egō eimi auf Jesaja gar nicht uneingeschränkt sicher ist, zeigt seine einschränkende Bemerkung (261, Anm. 20),

daß ein altes Wort aus der markinischen Apokalypse (Mk 13,6) zeigt, wie das Ego eimi als Messiasprädikation in neutestamentlicher Zeit verstanden wurde. Auch die Ego-eimi-Worte der Offb scheinen darauf hinzuweisen, daß das Ego eimi aus der Apokalyptik kommt.

Unverständlich erscheint mir, dass Reim offenbar nicht wahrnimmt, welche grundlegende Bedeutung die Formulierung egō eimi als die griechische Übersetzung des hebräischen Gottesnamens JHWH in der gesamten jüdischen Bibel hat. Insofern gebe ich Günter Reim Recht, was die Bedeutung des egō eimi angeht, allerdings nicht nur in Bezug auf Deuterojesaja und auch im Blick auf die von ihm angegebene Stelle in einem grundlegend anderen Sinn.

Entscheidend wichtig ist nämlich im Kontext von Jesaja 43,10, dass der Gott Israels im folgenden Vers eine klare Definition seines NAMENS gibt. Genau dieser NAME drückt schon in 2. Mose 3,14 das befreiende Wirken des Gottes Israels aus der ägyptischen Sklaverei aus. Derselbe NAME offenbart sich selbst in Jesaja 43,11 erneut als der einzige „Befreier“ Israels: hebräisch moschiaˁ, griechisch sōzōn, was in der Lutherübersetzung mit „Heiland“ wiedergegeben wird (siehe oben Abschnitt 5). Dass es wie damals im 2. Buch Mose auch hier im Jesajabuch nicht um eine Erlösung der Seelen geht, wird in 43,14 deutlich, wo der NAME als „Löser“ auftritt, der Israel aus dem babylonischen Gefängnis befreit.

Das heißt: Wo Jesus im Johannesevangelium die Worte egō eimi, „ICH BIN“, aus­spricht, da verkörpert er tatsächlich voll und ganz den befreienden NAMEN des Gottes Israels.

  • Wie der egō eimi, der NAME, sich einst Mose offenbarte, um Israel aus Ägypten ins Gelobte Land Kanaan zu führen,
  • wie der NAME, egō eimi, sich zu Jesajas Zeit erneut als der Befreier Israels offenbarte, indem er sogar den persischen Herrscher Kyros (Jesaja 45,1) in seinen Dienst als christos stellen konnte, um seinem Volk in der Provinz Jehud eine weitgehend autonome Existenz zu ermöglichen,
  • so verkörpert sich jetzt der NAME, egō eimi, vollkommen in der sterblichen Existenz (sarx, „Fleisch“) des Judäers Jesus – anders ausgedrückt: der VATER in seinem Sohn –, um durch seinen Tod am Kreuz die weltweit herrschende Sklaverei unter der römischen Weltordnung zu überwinden.

Das heißt nicht, dass der Mensch Jesus mit Gott identisch wäre. Johannes genügt es zu sagen: In Jesu Wort und Wirken geschieht Befreiung (sōteria) durch die solidarische Liebe (agapē) und Treue (alētheia) des NAMENS. In seinem Tod am Kreuz übergibt er den Geist (pneuma) des Gottes Israels an seine Schülerinnen und Schüler, damit dieser Geist als Inspiration und Anwalt (paraklētos) sie dazu ermutigt und befähigt, den Anbruch der kommenden Weltzeit von Freiheit, Recht und Frieden für Israel inmitten der Völker auf dieser Erde unter dem Himmel in der Praxis der agapē als des neuen Gebots Jesu tätig zu erwarten.

Anmerkungen

<01> Im Jahr 1995 wurde eine 2. Auflage des Buches, erweitert durch 13 Aufsätze, in Erlangen veröffentlicht: Günter Reim, Erweiterte Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, die auch im Internet zugänglich ist: Das Buch JOCHANAN – erweiterte Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums von Günter Reim Erlangen 1995.

Die im folgenden Text in runden Klammern (…) angegebenen Seitenzahlen oder Verweise auf Anmerkungen ohne weiteren Hinweis beziehen sich auf die jeweils folgenden Zitate aus diesem Buch, 247-281. Sind solche Zitate als eigener Absatz eingerückt, werden sie blau hervorgehoben. Wörter in griechischer Schrift gebe ich – auch in zitierten Texten – mit einer einfachen deutschen Umschrift wieder.

<02> Dabei berufe ich mich vor allem auf die Auslegung von Ton Veerkamp: Solidarität gegen die Weltordnung. Zitate aus diesem Werk erhalten eine rote Hervorhebung und werden durch einen Link zum jeweiligen Abschnitt in der Internetpublikation belegt (mit der Angabe des jeweiligen Absatzes, wobei der gesamte dem Abschnitt vorangestellte Bibeltext als 1. Absatz gezählt wird). Zusätzlich weise ich auf eine der folgenden ursprünglichen Quellen hin, auf Grund derer das Gesamtwerk zusammengestellt ist: Veerkamp 2006 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, in: Texte & Kontexte 109-111, 2006, Veerkamp 2007 = Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, II. Teil: Johannes 10,22-21,25, in: Texte & Kontexte 113-115, 2007, und Veerkamp 2015 = Ton Veerkamp, Das Evangelium nach Johannes. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen, 2., grundlegend überarbeitete Auflage, in: Texte und Kontexte Sonderheft Nr. 3 (2015).

<03> Vgl. Günter Reim, JOCHANAN, 206-209.

<04> Vgl. Günter Reim, JOCHANAN, 209-216.

<05> Die Abkürzung steht für die hebräischen Anfangsbuchstaben der thora = 5 Bücher Mose, der neviim = Vordere und Hintere Propheten (erstere entsprechen in unserem Alten Testament den vier Büchern Josua, Richter, Samuel und Könige, letztere den Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und dem Zwölfprophetenbuch) und der khetuvim („Schriften“, nämlich einerseits Psalmen, Sprüche, Hiob und Fünf Rollen [Hohelied, Ruth, Klagelieder, Prediger, Esther] und andererseits Daniel, Esra, Nehemia und Chronik).

<06> Er schreibt im Abschnitt Vom Messias, 7,11-52, Abs. 27 (Veerkamp 2006, 135), zur davidischen Messiasverheißung Micha 5,1 über Bethlehem Ephrata:

Der Messias wird wie David aus diesem Ort kommen, wird also die Rolle eines David spielen. Gerade dieses Gerücht um den Messias bekämpft Johannes. „David“ ist ein neues Königreich für Israel, und ein solches davidisches Messiasprojekt war in Jerusalem im Jahr 70 in einem katastrophalen Massaker geendet. Weiter erwähnt er David in seinem Evangelium mit keiner Silbe. Der Messias ist der leibliche Sohn Josephs – Jeschua ben Joseph – und eben nicht der Sohn Davids. Wenn überhaupt, ist er „Sohn Gottes“, einer wie Gott. Blaues davidisches Blut hat er bei Johannes nicht.

<07> Vgl. zu den folgenden Ausführungen in diesem Abschnitt Ton Veerkamp, Der vierte Tag. Der MENSCH, 1,43-51, Abs. 10-21 (Veerkamp 2006, 41-44).

<08> Damit verbindet Ton Veerkamp in seiner Auslegung weitere Schlussfolgerungen, die auf die unmittelbar anschließende Erzählung der sich ohne den Messias auf dem Meer abmühenden Schüler Jesu bezogen sind: Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 12-15 (Veerkamp 2006, 112) und lCH WERDE DASEIN, 6,16-25, Abs. 1-8 (Veerkamp 2006, 112-114).

<09> Vgl. Ton Veerkamp, Der messianische König, 12,12-19, Abs. 11-15 (Veerkamp 2007, 29-30).

<10> Vgl. dazu Ton Veerkamp, Was ist schon Treue? 18,28b-38a, Abs. 11-28 (Veerkamp 2007, 87-90).

<11> Ebenda, Abs. 30 (Veerkamp 2007, 90).

<12> Ebenda, Abs. 31-34 (Veerkamp 2007, 90).

<13> Ebenda, Abs. 34 (Veerkamp 2007, 90).

<14> Vgl. dazu Ton Veerkamp, Der Mann, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann, 4,16-19, Abs. 2-8 (Veerkamp 2006, 79-81).

<15> Lance Byron Richey, Roman Imperial Ideology and the Gospel of John, Washington 2007, 82-91. Mit diesem spannenden Buch werde ich mich noch ausführlicher beschäftigen.

<16> Wer ist dieser bar enosch, MENSCH? 12,34-36, Abs. 8 (Veerkamp 2007, 35).

<17> „Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht?“, 2,23-3,21, Abs. 22-23 (Veerkamp 2006, 57-58).

<18> Die Annahme (255, Anm. 6) von Siegfried Schulz, Untersuchungen zur Menschensohn-Christologie im Johannesevangelium, Göttingen 1957, zu Johannes 3,13-15, „daß die Katabasis-Vorstellung gnostischen Ursprungs sei“ hält Reim „nicht für notwendig, zumal Johannes in der Weisheit (vgl. Weish 9,9f) der Gnosis vergleichbare Vorstellungen vorgegeben waren.“

<19> ln ursprünglicher Form finden wir die bei Johannes geänderte Aussage in Apg 3,13.

<20> Der zweite Tag. Einer wie Gott, 1,29-34, Abs. 3-14 (Veerkamp 2006, 31-33):
Als Jesus auf Johannes den Täufer zukommt, kann Johannes sagen:

„Siehe, das Mutterschaf (rachel, amnos) von Gott her, das die Verirrung der Weltordnung aufhebt.“ Hier verknüpft Jochanan zwei entscheidende Stellen aus den Propheten und aus der Tora. In Jesaja 53,7.12 hören wir:

Er ließ sich treiben, er, er beugte sich, öffnete nicht seinen Mund.
Wie ein Lamm, zur Schlachtbank geführt,
wie ein Mutterschaf (rachel, amnos), verstummt vor seinen Scherern,
öffnete nicht seinen Mund.

Er, Verirrungen der vielen trug er,
unsere Abtrünnigkeiten trafen ihn.

Die zweite Stelle ist aus Leviticus 16,21f.:

Und Aaron drücke seine beiden Hände
auf den Kopf des lebenden Bocks,
er bekenne über ihm alle Verbrechen der Söhne Israels,
all ihre Abtrünnigkeiten, all ihre Verirrungen,
er gebe sie auf den Kopf des Bocks,
er schicke ihn weg durch die Hand eines Mannes in die Wüste.
Der Bock trägt mit sich alle Verbrechen weg (naßaˀ) ins Land der Abtrennung.
Er schicke den Bock weg,
in die Wüste …

Beide Stellen werden in diesem Agnus Dei miteinander verbunden. Es geht um einen definitiven jom kippur. Der Messias ist das Mutterschaf von Jesaja 53 und als Bock von Leviticus 16 trägt er die Verirrungen der Weltordnung weg, hebt sie auf: das bedeutet jenes hebräische naßaˀ, das fast immer durch das griechische airein übersetzt wird [In der griechischen Version von Jesaja 53,12 steht nicht das Verb airein sondern anapherein. Jedoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass Johannes bei airōn an das naßaˀ von 53,12 denkt, so wie amnos bei ihm zweifellos für rachel, „Mutterschaf“, aus Jesaja 53,7 steht. In Leviticus 16,21 wird „Tragen der Verbrechen“ mit lēmpsetai, dem Futur von „annehmen“, übersetzt.]. Der Messias trägt nicht nur passiv die Verirrungen, sondern er hebt aktiv die Verirrungen einer ganzen Weltordnung auf. Johannes ändert die Dimensionen; es geht nicht um die „Verirrungen der Söhne Israels“, sondern um die „Verirrungen der Weltordnung, kosmos“ [Das Wort kosmos kommt 76mal bei Johannes vor, mehr als in allen anderen Schriften des sogenannten „Neuen Testaments“ zusammen, allein 38mal in den „Abschiedsreden“ Johannes 13-17, wo es um die Existenz der messianischen Gemeinde unter den realen Bedingungen der herrschenden Weltordnung (kosmos) geht.].

Kosmos, „Welt“, ist sowohl Lebensraum der Menschen als auch die gesellschaftliche Ordnung, mit der dieser Raum ausgestattet, „geschmückt“ ist, wie bei der Besprechung von 1,9 angedeutet wurde. …
Nun hat im Umfeld des TeNaK kosmos ein weiteres Bedeutungsfeld. Das apokryphe Buch „Weisheit Salomons“ wurde ungefähr am Anfang unserer Zeitrechnung in Alexandrien geschrieben. Der Autor muss ein jüdischer Toragelehrter mit einer gediegenen Ausbildung in griechischer Philosophie gewesen sein. Für ihn ist das Wort kosmos deckungsgleich mit dem, was er ktisis nennt; dieses Wort bedeutet für ihn Schöpfung.

Er schuf das Sein des Ganzen,
befreiend sind die Zeugungen [Ursprünge] der Welt.
Nicht gab es in ihnen das Gift der Verwesung,
der Hades trug auf der Erde keine Königskrone (Weisheit Salomos 1,14).

Dann heißt es:

Gott schuf die Menschheit zur Unverderblichkeit,
er machte sie zum Bild seiner eigenen Dauerhaftigkeit.
Durch den Neid des Widersachers kam der Tod in die Welt
[erhielt die Welt eine Todesordnung],
er brachte sie in Versuchung, damit sie seinen Anteil erhielten
(Weisheit Salomos 2,23-24).

Das Wort hamartia, chataˀ, bedeutet Verfehlung eines Ziels. Die Menschheit wurde nicht „sündig“ geschaffen. Sie verfehlte ihr Ziel und verläuft sich seitdem. Erbsünde ist das nicht, die Menschheit kann auf ihren Weg zurückfinden, wie das Volk Israel der Menschheit vormacht. Die Erbsündetheorie der christlichen Orthodoxie verdeckt die Sicht auf das, was Johannes sagen will. Freilich kann die Menschheit unter den gegebenen Umständen, unter der herrschenden Ordnung der Welt, nur in die falsche Richtung gehen. Die Weltordnung (kosmos) selbst ist die Verirrung. Was also Jochanan auf sich zukommen sieht, ist die Aufhebung dieser Weltordnung. Die Menschen können sie von sich aus nicht aufheben. Die Übersetzung: „Lamm Gottes, das die Sünden der Welt wegnimmt“, ist nicht falsch; aber sie ist abgegriffen, zumal sie mit dem Wort „Sünde“ die Assoziation eines persönlichen moralischen Defizits weckt. „Verirrung/Sünde“ ist keine anthropologische Kategorie, sie ist keine Eigenschaft einer (gefallenen, sündigen) menschlichen Natur. Das Wort, das wir hier hören, ist eine „kosmologische“, also politische und daher keine ethische Kategorie. Die Weltordnung als solche zerstört nach Johannes und den anderen Messianisten alles Zusammenleben der Menschen und bewirkt alle Perversitäten, allen Verrat, alles Unrecht, das einzelne Menschen aneinander begehen, begehen müssen. Die Zukunft ist nun, dass dies nicht mehr sein wird. Das sieht Jochanan.

Die „Sünde“ des einzelnen Menschen ist bei Johannes immer nur Symptom einer perversen Ordnung, unter der dieser Mensch leben muss; für diese persönliche Verirrung hat er zwar selber die Verantwortung zu übernehmen und kann sie nicht auf eine anonyme Ordnung abschieben. Überwinden kann er sie letztlich nur dann, wenn die Ordnung, deren Ausfluss die persönliche „Sünde“ ist, abgeschafft wird. Kosmos, Weltordnung, Rom, ist für Johannes geradezu eine Obsession. Nirgendwo sonst kommt das Wort so oft vor wie bei ihm. Diese Sicht des Römischen Reiches muss man nicht teilen, aber sie ist die Sicht des Johannes.

<21> Die einzige Ausnahme wäre Johannes 14,2, wenn sich das Wort monai, „Orte von Dauer“, auf himmlische Wohnungen beziehen sollte.

<22> Ich verwende das in Großbuchstaben geschriebene Wort „NAME“ (entsprechend der hebräischen Bezeichnung ha-schem = „der Name“), um das Tetragramm JHWH zu umschreiben, das wegen der Unverfügbarkeit Gottes nicht ausgesprochen wurde. In gleichem Sinn schreibe ich auch das Wort „VATER“ in Großbuchstaben, wo Johannes in seinem Evangelium das griechische Wort patēr für den Gott Israels als den Vater des Messias Jesus verwendet.

<23> Vgl. meine Besprechung des Buches von Esther Kobel, Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context, Leiden: Brill 2011, unter dem Titel Jesu Fleisch kauen – wie beim Gott Dionysos?, insbesondere in Kapitel 5. Anspielungen auf das Abendmahl im Johannesevangelium und Abschnitt 7.3 Übertreibt Johannes rituelle Abendmahlspraktiken in polemisch-ironischer Absicht?

<24> Ergänzend schreibt Reim (357), dass ein solcher Vorgang auch schon im Matthäusevangelium stattgefunden hat:

Er hat aber auch seine Spuren in dem der Weisheit und dem Johannesevangelium nahestehenden Wort Mt 11,27 hinterlassen. Mt 11,27 ist ja von aus der Weisheit herkommenden Worten (11,25f; 11,28-30) eingerahmt.

<25> Der erste Einwand: Wir wissen nicht, wo du hingehst, 14,1-7, Abs. 10-18 (Veerkamp 2007, 48-49).

<26> Durch den Buchstaben „l“ hinter Vers 16 weist Reim darauf hin, dass es sich um die als ursprünglich akzeptierte Lesart handelt; durch „vl“ kennzeichnet er Vers 18 als varia lectio, „abweichende Lesart“. Er selbst schreibt (258, Anm. 13):

Ich halte die Lesart ‚eingeborener Gott‘ für ursprünglich.

<27> Immerhin verweist Reim (258, Anm. 14) auf die Würdigung des Bezugs von monogenēs auf Isaak durch Adolf Schlatter: Der Evangelist Johannes, Stuttgart 1948, S. 26:

„Die Erinnerung an den einzigen Isaak und seine Opferung mag dazu beigetragen haben, dass monogenēs zum Namen Jesu geworden ist.“

<28> „Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht?“, 2,23-3,21, Abs. 38-42 (Veerkamp 2006, 60-61). Wo in diesem Zitat in verfremdender Weise von „Jeschua“ die Rede ist, ist Jesus gemeint.

<29> Günter Reim wird darauf Jahrzehnte später in seinem Aufsatz Wie der Evangelist Johannes gemäß Joh 12,37ff Jesaja 6 gelesen hat (ursprünglich in: ZNW 92. Bd., 2001, 33-46; ab 2010: Das Wort ward Fleisch. Gesammelte Aufsätze…) eine eigene Antwort unter Bezug auf Jesaja 6 geben:

Der Evangelist Johannes legt Jes 6 so aus, dass der Prophet Jesaja einem Gespräch zwischen Gott und dem Messias zugehört hat. In diesem Gespräch erklärt der Messias seine Bereitschaft, sich von Gott senden zu lassen. Die ‚Herrlichkeit’ Jesu war dem Propheten Jesaja sichtbar.

Es würde zu weit führen, hier im einzelnen auf diese Interpretation einzugehen.

<30> Das Gleichnis von Vater und Sohn, 5,19-21, Abs. 2 (Veerkamp 2006, 100).

<31> Ob es einen ursprünglichen „Logoshymnus“ gegeben hat, dessen Dichter „die Bezeichnung der Weisheit als ‚eingeboren‘ (Weish 7,22), gekannt haben wird“, lasse ich dahingestellt sein. Zu Recht sieht Reim die dortige Beschreibung des der Weisheit innewohnenden Geistes als unter anderem monogenes und polymeres, „einzigartig, vielfältig“, nicht als Hintergrund für Aussageabsichten des Johannes selbst, der monogenēs ja, wie bereits gesagt, von 1. Mose 22 her begreift.

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