Bild: Pixabay

Bibelauslegung – politisch UND fromm

Eine Auseinandersetzung mit zwei faszinierenden Büchern zur Bibel: Ton Veerkamp liest die Bibel als „Politische Geschichte der Großen Erzählung Israels“. Carel van Schaik und Kai Michel verstehen die Bibel als Ergebnis der „kumulativen kulturellen Evolution“ der Menschheit.

In ihrem eigenen Zusammenhang stelle ich beide Bücher hier ausführlicher dar: „Ton Veerkamp: Die Welt anders“ und „Die Bibel als Tagebuch der Menschheit“. (1) Sie haben mich angeregt, über die Art meiner Bibelauslegung nachzudenken: Wer ist eigentlich der Gott, von dem ich mich persönlich gehalten und getragen weiß? Ist es erlaubt oder sogar geboten, diesen Gott auch oder sogar in erster Linie als politisch befreiende und Gerechtigkeit herstellende Macht zu begreifen? Wie verhalten sich eine politische und eine fromme Bibelauslegung zueinander?

Auf einige meiner Anfragen ist Ton Veerkamp übrigens schon in seinem Gastbeitrag für die Bibelwelt „Gott“ – nur Stimme eingegangen.

Ein Wandbild auf einer schmutzigen Wohnhausfassade: Ein Mönch hält eine Bibel in der Hand, aus der Flammen schlagen
Ist die Bibel in der modernen Welt fehl am Platze wie dieses Wandbild eines Mönchs auf einer schmutzigen Wohnhausfassade? Oder schlagen aus ihr Flammen der Begeisterung für politische Veränderung und persönliche Frömmigkeit? (Bild: Hans BraxmeierPixabay)

Inhaltsverzeichnis

Vorrede: Warum dieser Text nicht nur elf Kapitel, sondern auch fünf Vorworte enthält

Vorwort 1: „Frommer, seelsorgerlicher, politischer und bunter“

Vorwort 2: Vom Ruhestand als Studienurlaub mit offenem Ende und der Lektüre zweier Bücher

Vorwort 3: Glaubenszweifel und „wahre Lügen“

Vorwort 4: Wie politisch darf ein Pfarrer predigen und handeln?

Vorwort 5: Von der „Bibel in gerechter Sprache“ zur Zeitschrift „Texte und Kontexte“

Kapitel 1: Götter helfen beim Sesshaftwerden in einer unübersichtlichen und bedrohten Welt

Kapitel 2: Ein Vulkangott macht Karriere: Vom altorientalischen Normalgott Jahu zum heiligen NAMEN

Kapitel 3: Ist die Tora vorwiegend herrschaftskritisch oder stützt sie Herrschaftsformen?

Kapitel 4: Die Tora und die Konzepte der Asabiya und der Nächstenliebe

Kapitel 5: Das „Murren“ gegen den Einen Gott der Tora

5.1 Das Murren als Widerstand der ersten Natur gegen „die da oben“ und ihre dritte Natur

5.2 Das Murren als Ausdruck der Konterrevolution gegen den NAMEN

5.3 Einen Gott, der nichts als eine unpersönliche Funktion ist, kann man nicht lieben!

Kapitel 6: Die Psalmen und das Gebet zum Gott der Tora

Kapitel 7: Drei von vielen gegensätzlichen Auslegungen des Buches Hiob

7a: Vom Knirschen bei der Fusion verschiedener Religionskonzepte

7b: Vom Widerstand gegen einen hellenisierten „Gott“, der nicht mehr mit der Tora identisch ist

7c: Jürgen Ebachs kosmologisch-ökologisch-sozialgeschichtliche Hiob-Auslegung

Kapitel 8: Von der Apokalyptik zum Messianismus des Paulus

Kapitel 9: Welche Rolle spielt Jesus im Spannungsfeld zwischen Frömmigkeit und Politik?

9a: Jesus als gescheiterter und doch siegreicher Messias und Weltrevolutionär

9b: Jesus als Apokalyptiker und Jesus als Freund – zwei Jesusbilder, die einander widersprechen?

Kapitel 10: Schlaglichter auf die Bedeutung der entstehenden christlichen Kirche

10a: Vom Gesellschaftsmodell „ecclesia und dilectio“ zur Platzzuweisung im Römischen Dominat

10b: Dogmatisches System und Wissenschaft

10c: Neuer Polytheismus unter christlichem Vorzeichen

Kapitel 11: Die Bedeutung der Bibel heute für Politik und Frömmigkeit

Anmerkungen

Vorrede: Warum dieser Text nicht nur elf Kapitel, sondern auch fünf Vorworte enthält

Hauptsächlich im Jubiläumsjahr der Reformation 2017 schrieb ich meine Gedanken auf, die mir beim Lesen der eben genannten Bücher in den Sinn kamen. Aber erst ein Jahr später ist es mir gelungen, den Text zu einem einigermaßen zusammenhängenden und hoffentlich auch verständlichen Ganzen zusammenzustellen. Er besteht aus elf unterschiedlich langen Kapiteln und fünf Vorworten, die man jedoch nicht alle lesen muss, um dem Gedankengang der Kapitel zu folgen.

Warum überhaupt so viele Vorworte?

Inhaltlich deswegen, weil ich mehrfach mit dem Schreiben begann und mich am Ende nicht für eines der inzwischen entstandenen Vorworte entscheiden mochte. Immerhin beleuchten sie verschiedene Aspekte meines persönlichen Hintergrundes, der für die Buchbesprechung eine Rolle spielt.

Formal habe ich mich durch Ibn Khaldūn aus dem 14. Jahrhundert dazu ermutigen lassen, alle Vorworte hintereinander stehen zu lassen. Wenn ein so berühmter Gelehrter die Einleitung seines großen Geschichtswerks unter dem Titel „Die Muqaddima“ mit einem Kapitel voller Vorworte beginnen konnte (2), warum sollte ich das in meiner viel bescheideneren Arbeit nicht auch tun dürfen?

↑ Vorwort 1: „Frommer, seelsorgerlicher, politischer und bunter“

In seiner Predigt zum Reformationsjubiläum 2017 entfaltete der Propst für Oberhessen, Matthias Schmidt, in der Johanneskirche Gießen seine Vision der Kirche von morgen: Sie wird frommer, seelsorgerlicher und politischer sein (3).

So wichtig war ihm dieser Ausblick in die Zukunft, dass er ihn am selben Tag beim festlichen Empfang von vier Dekanaten Mittelhessens in der Kongresshalle Gießen noch einmal aufgriff. Die Kirche werde „kleiner, frommer, politischer und bunter“ werden (4). Dort ließ er die Seelsorge aus, vielleicht weil sich darüber sowieso alle einig sind, und er fügte die Buntheit hinzu, die ein derzeitiges Markenzeichen der evangelischen Kirche zu sein scheint. Die beiden Themen Frömmigkeit und Politik, die durchaus nicht unumstritten sind, nannte er ganz betont am Morgen und am Abend. Die Kirche kann nach Matthias Schmidt nur dann bestehen, wenn sie fromm und politisch ist. Sie muss auf Gott vertrauen und zugleich Verantwortung für die Menschen im Gemeinwesen übernehmen. Sie ist also nicht nur für ihre Mitglieder da, sondern für die „polis“, innerhalb derer die Gemeinde der Christen lebt.

Wiederum zum selben Reformationsempfang hämmerte der Festredner Erik Flügge uns anwesenden Evangelischen ein, es Martin Luther in einer Hinsicht gleich zu tun: Zitate nicht dazu zu benutzen, um sich dahinter zu verstecken, sondern mutig „Ich“ zu sagen (5).

Ich zitiere viel. Auch in diesem Aufsatz, in dem ich mir Gedanken mache über die Art der Frömmigkeit und der politischen Impulse, die ich mir für die Bibelauslegung in der Kirche von heute und morgen wünsche. Ich fühle mich nicht so kreativ wie Martin Luther oder andere Geistesgrößen. Aber je mehr ich in meinem lebenslangen Lernen voranschreite, traue ich mich doch auch, meine eigenen Fragen ernstzunehmen und Antworten, die ich bei anderen lese, auf meine eigene Art und Weise in ein Gespräch miteinander zu bringen und neu auf meine Fragen zu beziehen.

↑ Vorwort 2: Vom Ruhestand als Studienurlaub mit offenem Ende und der Lektüre zweier Bücher

Bei meiner Verabschiedung nach 40jährigem Pfarrdienst freute ich mich darauf, mein „lebenslanges Lernen“ auch im Ruhestand fortsetzen zu können. Nachdem ich in den Jahren 1995 und 2011 zwei Mal einen dreimonatigen Studienurlaub in Anspruch genommen habe, fühle ich mich zur Zeit ein bisschen wie in einem dritten Studienurlaub – nur ohne den Zeitdruck, innerhalb von drei Monaten zu einem Ergebnis kommen und es abliefern zu wollen. Ich lese viel, nutze auch wieder den Leseausweis für die Gießener Uni-Bibliothek, stoße auf alte Bekannte wie Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik und Jürgen Ebach mit seinem Hiob-Kommentar, auf Erhard S. Gerstenberger und Wolfgang Stegemann als Autoren innerhalb der „Biblischen Enzyklopädie“, oder lerne mir bisher unbekannte Theologen wie Kornelis Heiko Miskotte und Dirk Evers, Ingolf U. Dalferth und Larry W. Hurtado kennen, ja sogar Historiker wie Achim Landwehr und Marcel Simon. Es macht mir Freude, querbeet zu lesen und es mir erlauben zu dürfen, auch interessanten Literaturhinweisen zu folgen, die von meinem ursprünglichen Thema weit wegführen.

Auf einige Themenschwerpunkte habe ich mich aber auch jetzt wieder konzentriert. Sie hängen zusammen mit zwei Büchern, die sich in unterschiedlicher Weise grundsätzlich mit der Bibel beschäftigen: Zum einen „Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät“ der Autoren Carel van Schaik und Kai Michel (6). Zum andern „Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung“ von Ton Veerkamp (7). Beide Bücher haben mich fasziniert und besonders zu eigenem Nachdenken herausgefordert.

Auf zwei der vier Merkmale der Kirche von morgen, die Propst Schmidt erwähnt hat, war ich bereits in meinen beiden Studienurlauben intensiv eingegangen: Dass sie seelsorgerlich ist, kam in meiner Studienarbeit „Missbrauchtes Vertrauen“ über den sexuellen Missbrauch als Herausforderung an Seelsorge, Kirche und Bibelauslegung zur Sprache. Mit ihrer Buntheit und Vielfalt im interreligiösen Dialog beschäftigte ich mich in meiner Studienarbeit „Geschichten teilen im multireligiösen Kindergarten“. Fragestellungen der Seelsorge kamen zudem in meiner psychotherapeutischen Zusatzausbildung und in Anregungen durch Eugen Drewermanns tiefenpsychologische Exegese zum Tragen, während sich die Vielfalt christlichen Lebens und des Lebens überhaupt in meinem Interesse für die innerchristliche Ökumene bzw. für die Philosophie Odo Marquards niederschlug.

An Hand der Bücher von Schaik/Michel und Veerkamp möchte ich mich nunmehr auch mit den anderen beiden Merkmalen, nämlich dass die Kirche politisch und fromm sein soll, intensiver beschäftigen.

Schaik/Michel lesen die Bibel als Dokument der Entstehung und Veränderung von Gottesbildern im Dienst der kulturellen Evolution des Menschen. Dabei stoßen sie auf gegensätzliche und sich schließlich ergänzende Vorstellungen von Gott, der zunächst für den Schutz der Gesellschaft vor Katastrophen zuständig ist, sich dann aber auch dem einzelnen Gläubigen widmet. So stellen sie im Alten Testament dem strengen Gott der Tora den verständnisvollen Gott der Psalmen gegenüber, und im Neuen Testament unterscheiden sie den Jesus der Apokalyptik von einem Jesus als Freund.

Nach Veerkamp zieht sich die Verbindlichkeit einer Tora der Befreiung und Gerechtigkeit durch die ganze Bibel, die immer eine klare Kante gegen Unterdrückung und Ausbeutung zeigt.

In beiden Ansätzen geht es also um eine ursprünglich sehr große Bedeutung der Bibel für die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen. Heute ist diese allerdings in Frage gestellt, bei Schaik/Michel durch die moderne Wissenschaft (8), bei Veerkamp durch die globale Herrschaft einer neoliberalen Ideologie (9).

Die Bibel aus einer „frommen“ Perspektive im Sinne eines persönlichen Glaubens an Gott zu betrachten, hält ausgerechnet der Theologe Veerkamp für eine aus seiner Sicht unsinnige Option (10), während der Evolutionsbiologe Schaik und der Historiker Michel zwar selbst nicht an Gott glauben, aber der individuellen Spiritualität zur Bewältigung persönlicher und sozialer Probleme nach wie vor eine Zukunft einräumen (11).

Für mich werfen die beiden Bücher grundsätzliche Fragen in zwei verschiedenen Richtungen auf.

Zum einen folge ich ihrer Einsicht, dass die Bibel früher zur Bewältigung von Menschheitsproblemen bzw. zur Hoffnung auf die Überwindung von Unfreiheit und Unrecht beigetragen hat, insofern gerne, als ich der Bibel auch für die Gegenwart und Zukunft derartige politische Impulse zutraue und entnehmen möchte.

Zum andern nehme ich ihre Ansätze aber auch als grundsätzliche Infragestellung des Glaubens an einen Gott wahr, der mehr ist als das Produkt der kumulativ-kulturellen Evolution der Menschheit oder als ein gesellschaftlicher Funktionsbegriff. Dieser Herausforderung will ich mich stellen, um die Art und Weise meiner persönlichen Frömmigkeit zu klären.

↑ Vorwort 3: Glaubenszweifel und „wahre Lügen“

Bevor ich einen genaueren Blick in beide Bücher werfe, skizziere ich erst einmal die eigene Perspektive, von der aus ich das tue. Zunächst mit dem Schwerpunkt auf dem Stichwort „Frömmigkeit“.

Seit meiner Jugend setze ich mich so redlich wie möglich mit eigenen Glaubenszweifeln und atheistischen oder agnostischen Religionskritikern auseinander, ebenso mit der Herausforderung, die die historisch-kritische Bibelauslegung darstellt. Im Studium habe ich mich von Karl Barths Antwort auf die Religionskritik von Feuerbach, Marx und Nietzsche überzeugen lassen, den christlichen Glauben nicht als Religion im Sinne einer Projektion menschlicher Wünsche auf den Himmel zu begreifen, sondern ihn als von Gott durch Jesus Christus offenbarte Wahrheit zu erkennen, die wissenschaftlich weder beweisbar noch widerlegbar ist.

Schaik/Michel würden das sicher als Beispiel einer „Immunisierung gegen Widerlegung“ beurteilen (12), gehen sie doch bei aller Wertschätzung der Bibel als geniales, wichtiges und „verdammt gutes Buch“ (13) im Grunde davon aus, dass ein vernünftiger moderner Mensch sie kaum mit guten Gründen auf eine echte Offenbarung Gottes zurückführen könnte, sondern dass sie sich eben auf eine Weise erklären lässt, die den Glauben an einen persönlichen Gott als eine Lüge für „religiös musikalische Menschen“ entlarvt (14). Ich denke dagegen, man kann beides zugleich: an eine Offenbarung Gottes glauben und die Entwicklung spezifischer Gottesbilder auf den Ablauf der kumulativ-kulturellen Evolution der Menschheit zurückführen.

Eine größere Herausforderung sehe ich darin, dass auch der Theologe Veerkamp über den Glauben an Gott als ein „Wesen“ jenseits eines reinen Funktionsbegriffs das Urteil fällt: „Es existiert kein Wesen Gott, so wie es kein Wesen, sondern nur die Funktion ‚König‘ gibt.“ (15) Das heißt, er fasst den Begriff „Gott“ so, dass er auf der Ebene politisch-gesellschaftlicher Vernunft lediglich eine Funktion bezeichnet, nämlich das, was die tatsächliche (nicht die vorgeblich behauptete) Grundordnung einer Gesellschaft darstellt. Grundsätzlich gilt in jeder Gesellschaft, dass der jeweilige „Gott“ für sich die absolute Anerkennung beansprucht. Wo „Gott“ umstritten ist, wo mehrere Götter um Anerkennung ringen, da droht oder herrscht Bürgerkrieg (16).

In diesem Sinn definiert Veerkamp als den global mächtigsten Gott der Gegenwart die neoliberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung des Kapitalismus (17). Der biblische Gott stand dagegen für die Hoffnung auf eine Gesellschaftsordnung der Freien und Gleichen. Aus dieser „Großen Erzählung“ hat aber die bürgerliche christliche Religion „Große Lügen“ gemacht und zwar gerade dadurch, dass aus einem „Gott“, der keine Gestalt, kein persönliches Gegenüber, sondern nur Stimme ist, die für eine Gesellschaftsform der Autonomie und Egalität steht, ein religiös verstandener Gott geworden ist, wie ihn schon die Heiden hatten. Ihm geht es darum, durch seine politische Bibelauslegung der „Sehnsucht nach einem neuen Leben auf der Erde und vor dem Tod“ neue Nahrung zu geben (18).

Seit ich vor etwa 15 Jahren auf Veerkamps Ansatz stieß, habe ich mich in meinen Predigten sehr stark davon inspirieren lassen. Aber es widerstrebt mir, Gott ausschließlich als Funktionsbegriff zu verstehen. Das ist weder der Bibel in der Vielfalt ihrer Ausdrucksformen angemessen noch der real existierenden Frömmigkeit in mir selbst und in der mich umgebenden Welt.

Schon in meinem Studium konnte ich zwar mit den politischen Zielen der Kritischen Theorie viel anfangen, aber nicht mit ihrer Vernachlässigung des Glaubens an einen Gott, der mir persönlich gegenüber steht. Meine Examensarbeit spiegelte damals meine Auseinandersetzung mit diesem Thema wider. Mein Glaube mag zwar in vielem nicht orthodox sein, meine Frömmigkeit sich nur wenig in traditionellen Formen oder Ritualen ausdrücken – verzichten möchte ich dennoch nicht auf das Getragensein in der oft scheinbar so machtlosen Allmacht der Liebe, die ich in der Gestalt Jesu Christi erkenne und von der ich mich sowohl persönlich-moralisch als auch politisch-gesellschaftlich herausgefordert fühle.

Und da kommen wiederum Schaik/Michel ins Spiel. Ausgerechnet ein Buch zweier Agnostiker über die Bibel bestärkt mich darin, einen politisch-theologischen Ansatz wie den von Veerkamp durch den Aspekt des persönlich-religiösen Glaubens zu ergänzen. Zwar ist Gott in deren Augen nach den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie und der historischen Archäologie in einem ihr unbewussten Prozess von der Menschheit geschaffen worden, aber sie erkennen an, dass der Glaube an übernatürliche Wesen so sehr der ersten Natur unserer menschlichen Seele entspricht, dass die Religion vermutlich nie aussterben wird.

Schon der von Bert Brecht erdichtete Herr Keuner meinte, dass wir einen Gott brauchen, wenn sich unser Leben durch den Glauben ändern würde, egal, ob es Gott gibt oder nicht (19). Wenn ich also in diesem Sinne religiös musikalisch bin (20) – warum soll ich mich dazu nötigen lassen, nicht zu glauben? Zumal, wenn ich es tatsächlich für ein Wunder halte, wenn hier und da unter den Menschen ein Stück von dem aufscheint, was Veerkamp eine Gesellschaft von Freien und Gleichen nennt, und wenn ich dieses Wunder mit der Allmacht der Liebe verbinde, die sich in den vielen Geschichten der Bibel ausdrückt – welche allerdings auch wiederum die Widersprüchlichkeit der vielen menschlichen Geschichten widerspiegeln.

Auch Hoimar von Ditfurth fand es zumindest denkbar, dass das menschliche Bewusstsein nicht einfach aus dem Nichts kommt, sondern den Widerschein eines „jenseitigen“, alle menschlichen Vorstellungen übersteigenden (Selbst-)Bewusstseins darstellt (21). Könnte man vielleicht sogar etwas gewagt – in Abwandlung eines Begriffs aus den Büchern über die „Wissenschaft der Scheibenwelt“ – von „wahren Lügen“ (22) für religiös musikalische Menschen sprechen, und zwar in folgendem Sinn: Sie können zwar in keiner Weise wissenschaftlich bewiesen werden. Sie erzählen allerdings in bildhaft andeutender Sprache von den realen Wundern der Liebe und des Friedens, der Befreiung und der Gerechtigkeit Gottes im Diesseits. Sie geben die Wahrheit des jenseitigen Gottes insofern angemessen wieder, als er sich seinen menschlichen Geschöpfen in der von ihm geschaffenen Welt nur so offenbaren kann, dass sie diese Wahrheit mit den ihnen verliehenen Sinnesorganen und geistigen Fähigkeiten auch erfassen können.

Im Vorgriff auf Begriffe, die ich erst im Kapitel 1 erklären werde, möchte ich also sagen: Meine „erste Natur“, verbündet mit meiner zur „zweiten Natur“ gewordenen „dritten Natur“, sagt zur wissenschaftlichen Widerlegung Gottes: „Verwirre mich nicht mit Fakten, die in diesem Bereich keine Aussagekraft haben!“ Sie bleibt loyal, sie hält sich an das, was in ihr einmal angelegt ist. Darum also halte ich es, obwohl und weil Gott sich weder beweisen noch widerlegen lässt, dennoch für normal und legitim, an dem Glauben an einen persönlichen Gott festzuhalten.

Und weil ich Schaik/Michel glaube, dass Menschen im Lauf der Evolution, zuerst biologisch, dann kumulativ-kulturell, ihre Gottesgedanken in vielen unterschiedlichen Formen ausgeformt, insofern also zwar nicht Gott selbst, aber doch Gottesbilder für den in Wirklichkeit unverfügbaren Gott erfunden haben, sehe ich ihr Buch als eine wertvolle Hilfe auch für mich als christlichen Theologen und Pfarrer an, um über meinen Glauben wieder einmal ganz neu nachzudenken. Also: Warum Gottesvorstellungen auftauchen, zuerst Ahnen, dann Geister, dann Götter, das lässt sich evolutionsgeschichtlich erklären. Ich will also die Evolutionsgeschichte nutzen, um meine Gottesvorstellungen, meine Gedanken über Gott neu zu verstehen, meine Frömmigkeit neu zu fundieren.

Vorwort 4: Wie politisch darf ein Pfarrer predigen und handeln?

Zugleich will ich aber auch an eine Linie meiner Biographie anknüpfen, auf der ich schon früh die Bibel – nicht nur, sondern auch – als Buch mit einer politischen Botschaft verstanden habe.

Bereits als Oberstufenschüler setzte ich mich intensiv mit Fragen der Ostpolitik Willy Brandts, der Dritten Welt und der Kriegsdienstverweigerung auseinander. Und mein Theologiestudium in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts fiel in eine Zeit, die von ideologischen Auseinandersetzungen geprägt war. Mir war die gesellschaftspolitische Verantwortung der Kirche ebenso wichtig wie die Bereicherung der kirchlichen Seelsorge durch Erkenntnisse und Methoden der Gruppendynamik und Psychotherapie. Wichtig blieb mir zugleich immer die theologische Ausrichtung alles kirchlichen Denkens und Handelns an den Kriterien des Evangeliums von Jesus Christus (23). Helmut Gollwitzer, Karl Barth, Manfred Josuttis und Werner Kohler sind die Namen einiger Theologen, denen ich in dieser Hinsicht viel verdanke.

Meine erste Gemeindepfarramtstätigkeit in den Achtziger Jahren war unter anderem geprägt von der Frage: Darf die Kirche politisch Stellung beziehen? Gehört Politik auf die Kanzel? Und wenn ja, in welcher Weise? Die Existenz zweier deutscher Staaten bis zur Wende 1989 ließ es kaum zu, dass man nicht in irgendeiner Weise Stellung bezog in den Konflikten, die sich aus dem Leben in der bürgerlichen Republik hier und im real existierenden Sozialismus dort ergaben – bis hin zur Frage, ob der Dienst des evangelischen Pfarrers sich mit der Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei verträgt.

Meine Haltung in der Gemeinde blieb vermittelnder Art: die Förderung des persönlichen Glaubens und die Seelsorge waren mir genau so wichtig wie die politische Verantwortung der Christen. Meine Predigtzuhörer versuchte ich dazu zu ermutigen, sich mit politischen Themen in christlicher Verantwortung auseinanderzusetzen, ohne ihnen eine bestimmte politische Meinung aufzunötigen. Trotzdem kam es in einigen Einzelfällen dazu, dass Gottesdienstteilnehmer mir vorschlugen, ich solle doch „nach drüben gehen“, wenn ich etwa in einem Friedensgottesdienst zu bedenken gab, ob nicht weitere Aufrüstung das Risiko eines Dritten Weltkriegs in unermessliche Höhen treiben würde (24).

Nach der friedlichen Revolution in der DDR und dem Scheitern des Sozialismus im Ostblock gab es in den Kirchengemeinden immer weniger politisch motivierten Streit. Hat sich die Gesellschaft in ihrer überwiegenden Mehrheit damit abgefunden, dass es nur noch ein immerhin halbwegs funktionierendes und überlebensfähiges Wirtschafts- und Staatssystem gibt, nämlich das bürgerlich – liberal – kapitalistische? Und hat sich in den Kirchengemeinden eine Art bürgerlich – links – liberale staatstragende Haltung herausgebildet, die politische Unterschiede wie zwischen Merkel und Göring-Eckhardt kaum noch als Spannungen wahrnimmt, während sich diejenigen, die mit den politisch linken Pfarrern vor der Wende ihre Schwierigkeiten hatten, inzwischen weitgehend aus den Gemeinden zurückgezogen haben?

Wie dem auch sei – ich bin froh, seit 1998 in der Gießener Paulusgemeinde an einem kirchlichen Konzept beteiligt gewesen zu sein, das sich bewusst der Verantwortung für den Stadtteil mit einer großen Vielfalt in seiner Bevölkerungsstruktur gestellt hat. Besonders zu erwähnen sind dabei die Trägerschaft für eine Kindertagesstätte, die zum Familienzentrum wurde, die Mitverantwortung für das staatlich geförderte Projekt „Soziale Stadt“ und für ein gemeinsam mit der Stadt und dem CVJM getragenes Jugendzentrum. Das ist für mich gelebte Politik – und es war erfreulich, das es über diese Schwerpunktsetzungen nie zu kirchen- oder parteipolitischen Auseinandersetzungen kam.

Mit der Flüchtlingskrise und dem Erstarken populistischer Kräfte auch in Deutschland gewinnen politische Auseinandersetzungen wieder an Schärfe. Zur Zeit scheinen die tiefsten Gräben zwischen politischen Standpunkten aber nur im Ausnahmefall innerhalb der Kirchengemeinden zu verlaufen; die evangelisch-landeskirchliche Landschaft versteht sich, soweit ich das überblicken kann, als Hort der Vielfalt – neigt damit allerdings dazu, diejenigen auszuschließen, die selber Vielfalt einschränken wollen (25).

Ich bleibe mir weiterhin insofern treu, als ich keinem Christen eine parteipolitische Haltung vorschreiben möchte. Denn: Ob und wie die biblischen politisch-theologischen Leitlinien heutzutage in konkrete Politik umgesetzt werden können, darüber muss im demokratisch ausgetragenen Streit zwischen unterschiedlich akzentuierten Richtungen entschieden werden. Die Bibel schließt gewiss bestimmte politische Haltungen aus, aber sie schreibt nicht fest, auf welche Weise Ziele wie Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden oder überhaupt ein ausreichendes Wirtschaftsprodukt zur Versorgung der Bevölkerung erreicht werden können.

Außerdem bin ich – wie gesagt – einerseits davon überzeugt, dass die Bibel verkürzt wahrgenommen wird, wenn man ihre Botschaft ausschließlich politisch versteht. Andererseits ist es aber auch eine Verkürzung, wenn man die Bibel nur als Buch zur Befriedigung individueller religiöser Bedürfnisse benutzt. Insofern bleibt meine Leitfrage für diesen Aufsatz – angelehnt an die Reformationspredigt von Propst Matthias Schmidt: „Wie kann die Kirche politischer werden und zugleich fromm bleiben?“ Beides ist wichtig. Beides gehört zusammen.

↑ Vorwort 5: Von der „Bibel in gerechter Sprache“ zur Zeitschrift „Texte und Kontexte“

Aber wie kam es überhaupt dazu, dass ich die beiden Bücher las, die ich besprechen möchte?

Das Buch von Schaik/Michel wurde in der Zeitschrift Publik-Forum rezensiert und empfohlen; das machte mich neugierig.

Mit dem Buch von Ton Veerkamp war es komplizierter. Zu beschreiben, wie ich auf ihn und sein Buch kam, macht ein weiteres, letztes Vorwort notwendig.

In den ersten Jahren des Jahrtausends war es zunächst das Projekt „Bibel in gerechter Sprache“ (BigS), das mich faszinierte (und mit Ton Veerkamp nichts zu tun hatte). Zum einen ist die BigS daran interessiert, die in vielen Bibelübersetzungen unsichtbar gemachten Frauen deutlicher hervortreten zu lassen. Zum andern stellt sie in Frage, dass der biblische Gottesname im Deutschen in der Regel ausschließlich mit „HERR“ wiedergegeben wird, denn darunter versteht man, wenn das nicht näher erklärt wird, einen männlichen Herrscher, der von oben herab regiert. Der biblische Gottesname stellt Gott aber gerade nicht in eine Reihe mit anderen Herrschergöttern oder gar irdischen Tyrannen. Der Name JHWH steht für eine unsichtbare, unverfügbare Macht, die vor allem eins tut: sie befreit die Menschen! Als ich im Jahr 2004 mein 25-jähriges Ordinationsjubiläum feierte, wünschte ich mir daher von meiner Kirchengemeinde eine Vortragsveranstaltung und eine Spendenaktion zur Unterstützung der „Bibel in gerechter Sprache“.

Etwa zur selben Zeit stieß ich zufällig auf mehrere Bücher von Ton Veerkamp, dessen Namen ich bis dahin nur mit einem Zitat aus einer Veröffentlichung der Evangelischen Studentengemeinde in den 70er Jahren verbunden hatte: Wir können das Reich Gottes nicht mit Gewalt herbeizwingen, aber wir können „die Befreiung der Menschen tätig erwarten“ (26). Das Buch mit dem krassen Titel „Die Vernichtung des Baal“ (27) faszinierte mich mit seiner ungewöhnlichen, aber mir einleuchtenden politischen Exegese der Geschichten von Elia, dem gegenüber ich wegen seiner ins Grausame spielenden Glaubens-Entschiedenheit früher eine Art Hassliebe empfunden hatte, und meines Lieblingspropheten Elisa. Und das Buch „Autonomie und Egalität“ überraschte mich mit neuen Einsichten über die Bücher Esra und Nehemia, Daniel und Hiob (28).

Am Projekt „Bibel in gerechter Sprache“ kritisierten Ton Veerkamp und seine Mitstreitenden unter anderem den Hang zu einer political correctness, die die Bedeutung von Frauen in der Bibel auch dort sichtbar machen will, wo sie tatsächlich wegen der real existierenden patriarchalen Machtverhältnisse nun eben wirklich keine Rolle gespielt haben, und dass sie so tut, als gäbe es nicht auch schon in der Bibel selbst das Problem der „ungerechten“ Sprache, zum Beispiel wenn man sich Gott als männliche Herrschergestalt vorstellt (29). Die Bibel unter politisch-gesellschaftlichem Blickwinkel ernstzunehmen, bedeutete für Veerkamp auch, dass die biblischen Schriftsteller und die in ihnen dargestellten Akteure nicht immer Recht haben, sondern auch dort, wo sie im Unrecht sind, ernstgenommen zu werden verdienen – auch indem sie selbst an dem von ihnen in den Mittelpunkt gestellten Maßstab der Tora, der Wegweisung Gottes, kritisch zu messen sind.

Und dann nahm ich wahr, dass die von Ton Veerkamp kurz nach meinem Theologiestudium mitgegründete exegetische Zeitschrift „Texte & Kontexte“ sozusagen völlig an mir vorbeigegangen war. Ich besorgte mir alle Hefte, auch die vergriffenen, die es als Scan auf CD gab, und las sie alle. Monatelang waren sie meine Frühstückslektüre, die ich verschlang wie sonst Krimis oder Scheibenweltromane.

Und sie beeinflussten meine Predigten, ich verweise nur auf einige aus den Jahren 2006 bis 2015 – 14. April 2006: Blut über uns, 16. April 2006: Versteckte Ostererfahrungen im Markusevangelium, 1. Juli 2007: Politikverdrossenheit und die Ehebrecherin, 10. April 2009: „Damit die Schrift erfüllt werde“, 17. Oktober 2010: „Das ist der Wille Gottes: eure Heiligung“, 30. Januar 2011: Sturm und Wellen, 8. Februar 2011: Lydia: Purpurfärberin und Gemeindeleiterin, 2. November 2014: Gesichtskolter für Mose und 20. September 2015: Lazarus, der Freund Jesu.

In den folgenden Kapiteln will ich nun über Veerkamps politischen Gottesbegriff grundsätzlicher nachdenken, und zwar – wie gesagt – im Zusammenhang der evolutionsgeschichtlichen Beobachtungen von Schaik/Michel. Woher kann eine Kirche, die fromm und politisch sein will, im Rückgriff auf die Bibel wirklich Kriterien für politische Kritik hernehmen?

Damit genug der Vorworte. Schauen wir nun wirklich in die beiden Bücher von Schaik/Michel und Veerkamp hinein.

↑ Kapitel 1: Götter helfen beim Sesshaftwerden in einer unübersichtlichen und bedrohten Welt

Im ersten Kapitel geht es um Unterschiede. Erstens den Unterschied von genetischer und kultureller Evolution. Zweitens den Unterschied von drei Naturen des Menschen. Und drittens den Unterschied von Geistern und Göttern.

Carel van Schaik und Kai Michel gehen davon aus, dass die Menschen als eine fortgeschrittene Gattung des Tierreichs in ihrer Hunderttausende von Jahren andauernden Zeit als Jäger und Sammler genug Zeit hatten, um genetisch eine „erste Natur“ auszubilden, in der unsere „angeborenen Gefühle, Reaktionen und Vorlieben“ bis heute gespeichert sind (30).

Zu dieser „ersten Natur“ gehört auch ganz selbstverständlich eine grundlegende „Frömmigkeit“ oder „Spiritualität“. Denn Jäger und Sammler glauben an eine beseelte Natur, der gegenüber man zur Dankbarkeit für ihre Gaben verpflichtet ist, und an das Weiterleben ihrer Ahnen in Geistern und Dämonen, die man sich möglichst gewogen stimmen sollte. Denn sie macht man dafür verantwortlich, wenn einem einzelnen oder einem Clan etwas Außergewöhnliches zustößt (31).

Erst wenige Tausend Jahre ist es her, dass die Menschheit auf relativ engem Raum sesshaft wurde. Das war eine zu kurze Zeit, als dass wir uns an diese größte aller bisherigen Herausforderungen im Laufe unserer Evolution auf genetischem Wege hätte anpassen können (32). Und völlig bewältigt ist sie bis heute nicht. Nach Schaik/Michel gelang das ansatzweise nur dadurch, dass die Menschheit etwas im Tierreich völlig Neues erfand: die „kumulative kulturelle Evolution“ (33). Nur sie war sozusagen schnell genug, um innerhalb menschlich überschaubarer geschichtlicher Zeiträume auf Begleitumstände und Folgen zu reagieren, die mit der Sesshaftigkeit größerer Ansammlungen von Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft einhergingen.

Diese nicht-genetische Evolution führt nun zu „neuen Gewohnheiten, Konventionen und Mentalitäten“, die „nicht vererbt“, sondern, „wenn sie sich bewähren, tradiert und jeweils neu erlernt werden. Die Menschen verinnerlichen sie schon in der frühen Kindheit – und zwar so sehr, dass sie ihnen zur zweiten Natur werden.“ (34)

Und schließlich unterscheiden Schaik/Michel von der natürlichen ersten Natur und der kulturellen zweiten Natur noch eine dritte Natur, die „Vernunftnatur“, die auf Grund der bewussten Analyse einer Situation Regeln entwirft, die zu ihrer Bewältigung als geeignet erscheinen. Solche Regeln „können zur Gewohnheit und damit zur zweiten Natur werden“, allerdings „misslingt ihre Umsetzung“ oft, da sie „eben nur vernünftig“ sind und „im Widerspruch zu den Bedürfnissen unserer ersten Natur“ stehen (35).

Nach Ton Veerkamp wurden in der Kultur der Menschheit „Große Erzählungen“ geschaffen, um in ihnen „wohnen“ zu können, also nicht nur körperlich irgendwo eine Behausung zu haben, sondern zu wissen, wohin man gehört und welchen Sinn das eigene Leben innerhalb der jeweils auf verschiedene Weise organisierten Gesellschaft hat (36).

Beide Herangehensweisen an die Bibel haben es mit ähnlichen Stichworten zu tun: „Sesshaftigkeit“ und „Wohnen“. Ich glaube nicht, dass das nur zufällige Berührungspunkte sind. Die Autoren beider Bücher fragen ja nach Bewältigungsmechanismen von Grundproblemen der Menschheit; an vielen Stellen ergeben sich Überschneidungen und Berührungen. Fragen und Antworten werden zwar durchaus unterschiedlich gestellt und gegeben, aber manche Fragestellungen können sich gegenseitig befruchten, manche Antworten ergeben erst, indem sie sich in ihren Stärken ergänzen, ihren vollen Sinn.

Eine weitere Gemeinsamkeit beider Ansätze ist, dass für sie das Problem des Eigentums zentral ist.

Ton Veerkamp, der von 1970 bis 1998 Studentenpfarrer in Berlin war, lässt sich seit langem darauf ein, die Bibel politisch zu lesen – also im Kontext ihrer gesellschaftlichen Hintergründe. Er tut dies, indem er u. a. auf eine an Karl Marx geschulte Analyse der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln in den verschiedenen historischen Zusammenhängen zurückgreift (37).

Für Schaik/Michel entsteht mit der Sesshaftwerdung der Menschheit auch das Eigentum als ethisches Problem. Im Wertekanon der Jäger und Sammler musste der Schutz des eigenen und der Respekt vor fremdem Eigentum noch nicht besonders verankert werden. Erst mit dem Kultivieren eigenen Ackerlandes geraten die Früchte der Arbeit durch Nachbarn und Fremde, die nicht dafür gearbeitet haben, in Gefahr (38). Als Folge der Entstehung und der Erhaltung von Grundbesitz wächst dann auch strukturell die Gewaltanwendung sogar unter Brüdern im Streit um das, was man besitzt oder erben will. Und Frauen verlieren ihre Gleichberechtigung. Ja, sie werden in einer zunehmend von Männern beherrschten Gesellschaft sogar zum Besitz der Männer (39).

Im Zuge der Sesshaftwerdung ändert sich nach Schaik/Michel auch die Frömmigkeit, und zwar deswegen, weil häufiger Katastrophen auftreten, die eine große Zahl von Menschen gleichzeitig betreffen. Zum Beispiel Kriege durch räuberische Eroberer, epidemisch auftretende Krankheiten oder Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder Hungersnöte durch Dürre oder Heuschreckenplagen. Um solche Katastrophen zu erklären, reicht die Macht der Geister aus der vertrauten Jäger-und-Sammler-Kultur nicht mehr aus. Wer – aus Gründen, die für die Menschen in vorwissenschaftlichen Zeiten nicht erkennbar waren – einen ganzen Volksstamm vernichtend schlagen kann, muss über eine übermenschliche Kraft verfügen: Aus Geistern mit begrenztem Einfluss nur auf einen Sippenverband werden (all-)mächtige Götter eines ganzen Stammes oder Volkes. Und es sind die Schamanen und Priester, die mit Hilfe der Vernunft – ihrer „dritten Natur“ – ein ausgefeiltes kulturelles System von Geschichten und Ritualen entwickeln, um die Ursache für Katastrophen herauszufinden und künftige Katastrophen möglichst abzuwenden. Auf dem Weg der Erziehung wird allmählich ein solches religiöses Gebäude zum Inhalt der „zweiten Natur“ des Menschen (40).

Wenn uns modernen Menschen der Gedanke zuwider ist, dass Gott in der Bibel oft auf gewalttätige Weise straft und zerstört, dann bleibt zu bedenken: Es gibt in den Zeiten, die sich in solchen Erzählungen widerspiegeln, keine andere Erklärung für gewaltige Katastrophen, als dass gewaltige Götter am Werk sein müssen, um sie hervorzurufen – und das wiederum muss Gründe im Verhalten der Menschen haben, denn warum sonst sollten Menschen so gestraft werden? Dieses Gefühl, zu Recht oder Unrecht gestraft zu sein, gibt es ja bis heute, wenn Menschen von großem, oft unerklärlichem Leid getroffen werden. Indem die Religion die Regeln herausfindet, nach denen die für die Katastrophen verantwortlichen Götter beeinflusst werden können, um das Schicksal berechenbarer zu machen, hat sie nach Schaik/Michel mehr Ähnlichkeit mit dem, was wir heute Wissenschaft nennen, als mit dem, was wir unter Religion verstehen (41).

↑ Kapitel 2: Ein Vulkangott macht Karriere: Vom altorientalischen Normalgott Jahu zum heiligen NAMEN

Im zweiten Kapitel geht es um die Frage: Wie kommt es in dem geographischen Bereich, den die Bibel dokumentiert, zum Glauben an nur einen Gott, wenn es für unsere erste Natur normal ist, an viele Geister und Götter zu glauben?

Schaik/Michel orientieren sich an archäologischen Daten, die nachweisen, dass sich die beiden Staaten Israel und Juda aus friedlichen Ansiedlungen im unwegsamen Bergland Palästinas herausgebildet haben (42). In den Gruppierungen dieser Siedler gibt es eine bunte Vielfalt mündlicher Überlieferungen, die später zusammengefügt werden, um eine einheitliche Volksgeschichte zu erzählen und eigentlich erst dadurch ein Volk mit einer bestimmten Identität zu schaffen (43). In diesem Zusammenhang bekommen übrigens auch die scheinbar langweiligen Geschlechtsregister der Bibel einen nachvollziehbaren Sinn; sie dienen dazu, in einer anonymer werdenden Gesellschaft das Gefühl der Familienzusammengehörigkeit aufrechtzuerhalten (44).

Die midianitische Vulkangottheit Jahu, auf die sich eine mit der Gestalt des Mose verbundene Erzähltradition bezieht, scheint nach Schaik/Michel von den leidgeprüften Israeliten und Judäern als stark genug empfunden worden sein, um mit den Katastrophen fertigzuwerden, die ihnen widerfahren (45).

Doch auch Jahu, der Gott Israels und Judas, ist für lange Zeit nur ein Gott unter vielen, und zunächst wird er nicht anders verehrt als andere damalige Staatsgötter. Sie verlangen zum Beispiel das Opfer der Erstgeburt nicht nur von Tieren, sondern auch von Kindern (46). Jahu wird in Israel als Goldenes Kalb verehrt, neben ihm gibt es die Verehrung der Aschera-Göttin und die in den Haushalten gepflegten Kulte der Hausgötter (47). Für diese sind die Frauen zuständig, was man in der Bibel gut in der Geschichte von Jakobs Lieblingsfrau Rahel erkennen kann, die ihrem Vater einen Hausgott stiehlt und sich vor der Aufdeckung des Diebstahls rettet, indem sie sich einfach auf den Gott draufsetzt (1. Buch Mose – Genesis 31, 34).

Veerkamp verweist zur Einführung der Gottheit Jahu auf die Erzählungen von Elia und Elisa aus der Zeit der historisch nachweisbaren Dynastie des Königs Omri im Israel des 8. Jahrhunderts, als Namen mit der Vor- oder Nachsilbe „jo“ oder „ja“ auftauchen. Der legendenhaft ausgestaltete Elia-Elisa-Erzählzyklus der Königebücher mag allerdings zwar einen bereits damals spürbaren prophetischen Widerstand gegen die Verehrung der Unterdrücker-Gottheiten Ba‘al/Aschera widerspiegeln, aber ob die Machtübernahme des Königs Jehu tatsächlich als eine religiöse Revolution mit dem Sieg des Gottes der Tora betrachtet werden kann, muss nach archäologischen und auch anderen biblischen Zeugnissen bezweifelt werden. Sowohl nach der „Dan-Stele“ als auch nach dem Propheten Hosea (1, 4) ist Jehu ebenfalls ein altorientalischer Despot, der wohl nur den einen altorientalischen Normalgott Ba‘al durch einen anderen namens Jahu austauscht (48).

Ein überragend mächtiger einzelner Gott kann Jahu nach Schaik/Michel nun deswegen werden, weil er zwei Leben hat. Er wird nämlich in zwei Königreichen verehrt, in Israel und Juda, und beide konkurrieren um die richtige Art und Weise seines Kultes (49). Während der Zeit des assyrischen Reiches, so vermuten sie, hat dieser Gott auch Züge der Macht des assyrischen Königs angenommen; so brutal, so mächtig wie den stellen sie sich ihren Gott vor, um als kleine Völker gegenüber der Großmacht bestehen zu können. Für diese These spricht auch, dass die Geburtsgeschichte des Mose der Geburtslegende eines assyrischen Königs sehr ähnlich ist (50).

Dann wird Israel vom assyrischen Reich erobert und von der Landkarte ausgelöscht. Aber erstaunlicherweise ist damit nicht das Schicksal des Gottes Israels besiegelt, eben weil Jahu noch ein zweites Leben hat. Es gibt ein zweites Volk, Juda, das jetzt noch mehr an ihn glaubt. Und zwar deswegen, weil man sagt: Jahu ist so mächtig und zugleich so gerecht, dass er sogar sein eigenes Volk vernichtend straft, wenn es ihm nicht gehorcht. Juda soll jetzt endlich anfangen, Jahu wirklich zu gehorchen, damit diesem Staatsvolk nicht dasselbe passiert (51).

Für Veerkamp ist der Aspekt der zwei Leben des Gottes Jahu kein Thema; entscheidend wichtig ist für ihn, dass der altorientalische Normalgott Jahu sich im Bewusstsein der Propheten in revolutionärer Weise wandelt. Er mag in seiner Macht und Unduldsamkeit nach wie vor assyrische Züge tragen. Aber von einer prophetischen Opposition (besonders von Hosea) wird er zentral mit anderen Zügen versehen, die sich gegen den bisherigen Staatskult und die durch ihn gestützte Ungerechtigkeit der Eigentumsverhältnisse wenden (52). Statt Menschen zu unterdrücken und ausbeuterische Herrscher im Sinne des hebräischen Wortes Ba‘al zu legitimieren, eifert er umgekehrt gerade für die Befreiung seines Volkes.

So hört Jahu auf, ein Gott wie Ba‘al zu sein, und er wird zu einem gestaltlosen Gott, dessen Namen man nicht einmal aussprechen will, um ihn nicht mit einem der handelsüblichen Götter zu verwechseln; trotzdem ist sein Name wichtig, weil er das Programm der Opposition gegen alle Unterdrückung und Ausbeutung verkörpert. Veerkamp bezeichnet den Gott, der seinen Namen im Prozess der Befreiung und Aufrichtung von Rechtlosen offenbart, daher auch einfach mit dem Namen „der NAME“ (53).

Veerkamp interessiert sich also nicht für die Entwicklung von Gottesbildern allgemein, sondern für die Erzählung von einem ganz bestimmten Gott, der nur Stimme ist und für das politische Konzept von „Autonomie und Egalität“ steht (54). Es geht um eine Gesellschaft, die sich selbstbestimmt einer Disziplin der Freiheit unterwirft, die allen Mitgliedern dieser Gesellschaft gleiche Rechte garantiert.

Das heißt: Dieser unverfügbare Gott ist gerade nicht unerforschlich! Er ist von seinem Willen und seinen Absichten her durchaus berechenbar. Das betont besonders ein Prophet wie Hesekiel. Darin, dass die Propheten und überhaupt die gesamte Tora in diesem Sinne keine irrationale, sondern eine verstandesbetonte Theologie pflegen, sind sich also Schaik/Michel und Veerkamp einig (55).

Besonders interessant ist nun für Veerkamp die Geschichte, wie bei Renovierungsarbeiten im Tempel im Jahr 622 v. Chr. das Buch der Tora wiedergefunden wird (2. Könige 22-23). Ob es sich dabei wirklich um ein „Wiederfinden“ handelt, bezweifelt er; vieles deutet darauf hin, dass König Josia wohl erstmals versucht, das Staatswesen in Juda nach den Prinzipien eines Gesetzbuchs umzugestalten, unter der man sich zu dieser Zeit nur Vorformen des 5. Buchs Mose vorstellen darf. Erst im Rückblick stellen die Verfasser der Bibel viele altüberlieferte Geschichten unter dem Gesichtspunkt zusammen, dass die Tora schon seit Mose gültig gewesen ist und die Könige seit Salomo bis auf wenige Ausnahmen von ihr abgewichen sind. Josias Tora-Revolution von oben, eine regelrechte Kulturrevolution, 20 Jahre vor dem babylonischen Exil, die den NAMEN ins Zentrum des Staatskultes rücken will, scheitert jedoch, als er vom ägyptischen Pharao Necho getötet wird; denn Josias Söhne kehren in die Spur der altorientalischen Normalität zurück (56).

Am Anfang des 6. Jahrhunderts v. Chr. zerstören die Babylonier Jerusalem mitsamt dem Tempel und deportieren die judäische Elite ins Exil. So entsteht in Juda ein machtpolitisches Vakuum. Veerkamp vermutet, dass die zurück bleibenden Judäer möglicherweise erst in dieser Zeit die Vorstellungen einer herrschaftskritischen Tora ohne maßgeblichen Einfluss von Priestern und eines Königs formulieren und im Deuteronomium zusammenfassen (57).

Erst nach dem Zusammenbruch des babylonischen Reiches entsteht dann unter dem Druck des von der neuen persischen Oberherrschaft entsandten Beauftragten Nehemia und mit der Autorität des Priesters und Schriftgelehrten Esra in Jerusalem und Juda tatsächlich eine Torarepublik, in der die Tora als neue göttlich festgelegte Grundordnung des Staates allen verständigen Staatsangehörigen, einschließlich der Frauen, vorgelegt und erklärt wird (Nehemia 8, 3 und 8). Dass in diesem Fall neben den Heranwachsenden, die schon in der Lage sind, die Tora zu verstehen, auch die Frauen als Teil der Versammlung des Volkes erwähnt werden, nennt Veerkamp einen seltenen Fall der Geschlechtergerechtigkeit in der Bibel (58).

Nach Veerkamp wird in der Tora den Menschen also ein ganz bestimmter Gott erkennbar. Dabei versteht er „Gott“ bewusst nicht-religiös und rein politisch als „Funktionsbegriff“, nämlich als Inbegriff dessen, was eine Gesellschaft zusammenhält: „als zentrales Organisationsprinzip für Autorität und Loyalität“ (59). Das hat eine gewisse Ähnlichkeit zur Definition Gottes durch Martin Luther: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“ (60). Aber Veerkamp würde das Verhältnis zum Gott der Tora nicht als Frömmigkeit im Sinne einer gefühlsbetonten Bindung an ein übernatürliches Wesen beschreiben, sondern als Gehorsam gegenüber einer absolut verbindlichen Gesellschaftsordnung, die Freiheit und Gerechtigkeit für das ganze Volk will. Woher also die Stimme „Gottes“ ertönt, die Veerkamp hört, woher ihr Inhalt kommt, ob eine absolute Autorität dahinter steht, scheint für Veerkamp gleichgültig zu sein. Der Inhalt ist entscheidend, Freiheit und Gerechtigkeit „sind Gott“; wer davon abweicht, betreibt Götzendienst.

Wie schon gesagt, kann nun die Zeit kommen, in der die Verantwortlichen des neu errichteten Tempels der Torarepublik alle der hebräischen Bibel zu Grunde liegenden Überlieferungen im Sinne des Gottes der Tora, des NAMENS, umgestalten und zu einer (vielschichtigen) Einheit zusammenfügen (61). Grundsätzlich sehen das Schaik/Michel ganz ähnlich; ihnen zufolge integriert die Bibel dabei auch die Heroen anderer Kulturen wie Gilgamesch, Achilleus oder Herakles in ihren Erzählzusammenhang, um „den universalen Anspruch der Genesis, Weltgeschichte darzubieten“ (62), zu unterstützen. Aber ich denke, dass die Götter und Helden anderer Völker nur beiläufig oder ironisch erwähnt werden, um ihre Lächerlichkeit bloßzustellen, wie zum Beispiel in den Versen Genesis 6, 1-4, dem Auftakt zur Sintflut-Geschichte, oder in Genesis 1, 14-18.21, wo die babylonischen Götter auf eine Existenz als Himmelslampen oder Meeresungeheuer reduziert werden.

Im übrigen dient nach Veerkamp genau dieser erste Schöpfungsbericht in Genesis 1 nicht zur Erklärung der Weltentstehung, sondern er stellt eine politische Schöpfungstheologie dar. Auf dem Hintergrund und in Abgrenzung zur persischen dualistischen Gut-Böse-Theologie wird die Welt von Gott als „sehr gut“ erschaffen. „Das Böse kam in die Welt durch die freie Entscheidung der Menschen“, nicht durch einen bösen Gegengott, und das Böse „bleibt unter der Macht Gottes“. Die Welt ist politisch veränderbar! (63)

↑ Kapitel 3: Ist die Tora vorwiegend herrschaftskritisch oder stützt sie Herrschaftsformen?

Im dritten Kapitel gehe ich auf den Inhalt der Tora ein, die sowohl von Schaik/Michel als auch von Veerkamp als Wegweisung des Einen Gottes Israels verstanden wird und die in den Erzählungen und Rechtstexten der fünf Bücher Mose aufgezeichnet ist.

Natürlich wurden in die Tora viele Rechtsgrundsätze aus polytheistischen Kulturen übernommen; nach Schaik/Michel ist die Tora aber die erste „Hausordnung“, die ein Gott mit der Schöpfung der Welt quasi gleich mitliefert. Sonst sind es die Könige, die das Recht für die von ihnen Beherrschten setzen, dem sie selbst aber nicht unterworfen sind. Eine Besonderheit der Tora besteht auch darin, dass sich ein einziger Gott auch um Bereiche kümmern muss, die die Götter in anderen Kulturen vernachlässigen (64). So hat Gott zum Beispiel auch eine „Leidenschaft für Körperflüssigkeiten“ (65) und schreibt den Latrinenbau außerhalb des Heerlagers vor (66).

Die Hauptzielrichtung der Tora besteht nicht nur nach Veerkamp, sondern auch nach Schaik/Michel darin, dass sie in einer kompliziert gewordenen und vom Eigentum geprägten Zeit eine Gesellschaft der Freien und Gleichen fordert, sozusagen eine Wiederherstellung der Verhältnisse in der Jäger-und-Sammler-Gesellschaft. „Das Leben der Menschheit spielte sich die längste Zeit weitgehend egalitär und demokratisch ab. Das hat sich tief in unsere Psyche eingebrannt und bestimmt die Wahrnehmung und lnterpretation unserer sozialen Umwelt bis heute.“ (67) Der Wunsch, in einer von Autonomie und Egalität geprägten Gesellschaft zu leben, scheint somit weitgehend mit der Psychologie unserer ersten Natur übereinzustimmen. Insofern verbündet sich die Tora mit der ersten Natur des Menschen.

Allerdings enthält die Tora auch Bestimmungen zum Schutz des Eigentums, und es ist unübersehbar, dass sie die in der Kultur der Sesshaftigkeit entstandene Vorherrschaft der Männer und die Benachteiligung der Frauen nicht grundsätzlich überwindet. Insofern hat die Tora auch Anteil an den krisenhaften und problematischen Folgen der Sesshaftwerdung des Menschen (68). Vielleicht kann man sogar sagen, dass hier immer wieder die gewaltbereiten Seiten der Primatennatur des Menschen durchbrechen, die ja der ersten Natur noch vorausliegen (69).

Nach Schaik/Michel kommt die Eigentumsproblematik bereits in der Geschichte von Adam und Eva zum Ausdruck, die in Genesis 2, 4a – 3, 24 erzählt wird. Der Baum der Erkenntnis spiegelt nämlich ihnen zufolge das durch die Sesshaftwerdung entstandene Problem des Privateigentums wider; die Menschen verstoßen gegen das Gebot, etwas wegzunehmen, was Gott ausschließlich für sich selbst beansprucht (70), ähnlich wie in polytheistischen Traditionen eines Delikts der Menschen am Eigentum der Götter, zum Beispiel des Diebstahls des Feuers durch Prometheus.

Gegen Schaik/Michel möchte ich allerdings einwenden, dass die biblischen Erzähler bei der Übernahme dieser Tradition ihre Bedeutung vollkommen auf den Kopf stellen! Mögen die Menschen in anderen Kulturen geschaffen werden, um die Götter zu versorgen, ist in der Bibel Gott selbst der „Malocher“ (71), der die Welt als Lebensraum für die Menschen erschafft. Und er stellt den Menschen alle Bäume des Gartens – außer einem einzigen! – zur Verfügung, was eher der Jäger-und-Sammler-Kultur entspricht, und gerade der Zweifel an der Versorgung der Menschen durch Gott wird durch die Einflüsterung der Schlange (Genesis 3, 1: „sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“) zum Grund für den Übergriff auf den einzig verbotenen Baum. Die Botschaft ist also: Die Menschen sollten das Misstrauen gegenüber Gottes sehr guter Schöpfung überwinden und wieder lernen, auf die allumfassende Versorgung durch Gott zu vertrauen, indem sie auch aufeinander vertrauen (Genesis 2, 25: „sie waren beide nackt … und schämten sich nicht“). Dann würden sie nicht mehr übereinander herrschen (Genesis 3, 16: die Frau wird dem Mann untertan sein), und der Baum des Lebens würde sich nicht in den Baum von Gut-und-Böse verwandeln, in den Baum der Versuchung zum Bösen. Auch die Herrschaft von Männern über Frauen ist daher in der Bibel von Anfang an nicht gottgewollt, sondern Folge des eben beschriebenen „Sündenfalls“.

Zum Thema einer angeblichen Frauenfeindlichkeit der Tora und der Bibel überhaupt ziehen sich noch weitere problematische Aussagen durch das Buch von Schaik/Michel. Zum Beispiel stimmt es nicht, dass die Bibel über das „Leid der Frauen“ schweigt (72), wenn man zum Beispiel an Davids Schwester Tamar und die zerstückelte Nebenfrau in Richter 19 denkt.

Richtig sehen Schaik/Michel, dass die Sündenfall-Geschichte erst in der Auslegung durch Jesus Sirach, Paulus und Augustin die Verantwortung für die Erbsünde allein den Frauen zuschiebt (73), während in der Endredaktion von Genesis 2-3 die Unterdrückung der Frau aus dem Sündenfall der Verfehlung der Eintracht zwischen Mann und Frau erklärt wird.

Wenn nach Schaik/Michel allerdings erst Jesus die Frauenausgrenzung ansatzweise überwindet, frage ich mich, wie das mit ihrer Einschätzung zusammenpasst, dass die Frauen schon im Alten Testament die Verantwortung für die häusliche Religion tragen (74). Der Satz aus der Schöpfungsgeschichte: „Ein Mann wird Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen“ (1. Buch Mose – Genesis 2, 24) erinnert jedenfalls an die Jäger-und-Sammler-Gesellschaft und formuliert eine Utopie der Aufhebung der Unterdrückung der Frauen, statt eine ewige Eheordnung unter den Bedingungen der Sesshaftigkeit und des Besitzrechtes der Männer an den Frauen zu zementieren.

↑ Kapitel 4: Die Tora und die Konzepte der Asabiya und der Nächstenliebe

Im vierten Kapitel gehe ich auf die Frage ein, wie universal die Nächstenliebe ist und wie sie mit der Asabiya zusammenhängt, auf die ich durch das „Tagebuch der Menschheit“ aufmerksam wurde.

Schaik/Michel bringen nämlich die Grundsätze der Tora mit dem Konzept der Asabiya in Verbindung, wie es der arabische Geschichtsphilosoph Ibn Khaldūn (1332-1406) entwickelt hat (75). Asabiya versteht dieser als die Kräfte, die eine Volksgruppe zusammenhalten: Verwandtschaftsgeist, gegenseitige Verteidigung, lange Vertrautheit, Kameradschaft, Hinwendung zur Wahrheit statt Rivalität und Neid. Asabiya würde als tragende Grundhaltung zu den aus frühen Stammeskulturen entstehenden Staatsgebilden Israel und Juda passen, die sich im unwirtlichen Bergland Palästinas gegen die Angriffe der alteingesessenen kanaanäischen Stadtstaaten der Ebene durchsetzen müssen. Auch in der Asabiya spiegeln sich Verhaltensweisen der ersten Natur aus der Jäger-und-Sammler-Zeit wider. In der Tora muss der Grundsatz: „Liebe deinen Nächsten“ ausdrücklich formuliert werden (Levitikus 19, 18), der unter Jägern selbstverständlich war. Auch dass der König der Tora unterworfen ist, passt zur Asabiya (76).

Doch auf wen bezieht sich nunmehr das zentrale Gebot der Nächstenliebe, nur auf die eigenen Volksgenossen oder auf alle Menschen?

Veerkamp erwähnt den urzeitlichen Priesterkönig Melchisedek als einen Vertreter der Völker, der positiv gewertet wird, ebenso die Moabiterin Ruth als Urgroßmutter des Königs David und den persischen Gottkönig Kyros als Werkzeug Gottes (77). Überhaupt versteht sich im Rahmen der Erzählstruktur der fiktiven Verwandtschaft in den Völkerstammbäumen (78) Israel zwar als „Erstgeborenen unter den Völkern“ (79), als kleines, von Gott auserwähltes Volk, aber nicht im Sinne von „Israel first!“, sondern im Sinne von: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (Genesis 12, 3). Dem Prinzip der „Trennung von den Völkern“ liegt keine ethnische Fremdenfeindlichkeit zugrunde. Es hat vielmehr damit zu tun, dass das politische Konzept von Autonomie und Egalität – wenn überhaupt – nur durch völlige Abgrenzung von der altorientalischen Normalität durchgeführt werden kann (80).

Schaik/Michel verstehen die Nächstenliebe bis hin zur Bergpredigt Jesu als Ausdruck einer „Binnenethik“, die sich (einschließlich der Feindesliebe!) nur auf die Angehörigen der eigenen Volksgruppe bezieht. Auf der anderen Seite bilden auch ihnen zufolge schon die Tora-Gebote gegenüber den Fremdlingen eine Ausweitung der Nächstenliebe (denn „ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen“) (81). Zu diesem Thema wird im Kapitel 9b noch mehr zu sagen sein.

↑ Kapitel 5: Das „Murren“ gegen den Einen Gott der Tora

Nach dem kurzen vierten folgt ein sehr langes fünftes Kapitel. In ihm geht es um einen merkwürdigen Widerspruch.

Einerseits stimmen viele Inhalte der Tora mit der ersten Natur des Menschen überein, die sich nach Fairness und Solidarität im Miteinander der Menschen sehnt. Der Eine Gott der Tora, von Veerkamp als NAME bezeichnet, tritt insofern als Anwalt oder Verbündeter der ersten Natur auf.

Aber warum „murren“ andererseits die Israeliten nach den Büchern Exodus und Numeri fortwährend gegen diesen Gott und gegen Mose und Aaron, seinen Propheten und Priester? Warum ist der Widerstand gegen die Tora in der Bibel so stark, wenn es in ihr doch um Befreiung und Gerechtigkeit geht?

Nach Schaik/Michel murrt die erste Natur der Leute gegen die dritte Natur derer, die sie angeblich mit Vernunft beherrschen, ihnen dabei aber ihre vertraute Spiritualität wegnehmen wollen.

Veerkamp sieht das Murren einerseits als Widerstand der Konterrevolution gegen die Stimme des NAMENS, als Götzendienst im Dienste der Götter der Unterdrückung und des Einverständnisses mit dem Unterdrücktwerden.

Andererseits sieht auch er das Problem, dass die Priesterschaft trotz der Staatsverfassung einer Tora der „Autonomie und Egalität“ das Volk unterdrückt und ausbeutet. In einer solchen gesellschaftlichen Realität ist das Murren des Volkes gegen „die da oben“, die Freiheit und Gerechtigkeit nur im Munde führen, aber nicht durchsetzen, verständlich und legitim.

Über diese Andeutungen hinaus möchte ich auf dieses Murren in drei Unterabschnitten ausführlicher eingehen.

↑ 5.1 Das Murren als Widerstand der ersten Natur gegen „die da oben“ und ihre dritte Natur

Schaik/Michel machen für das Murren des Volkes Konflikte zwischen den menschlichen Naturen verantwortlich. Denn auch wenn die Tora darauf ausgerichtet ist, Bedürfnisse der ersten Natur zu erfüllen, ist sie doch ausdrücklich ein Produkt der dritten Natur und muss dem Volk in Form religiöser Bildung beigebracht werden, so dass sie allmählich zu ihrer kulturellen zweiten Natur werden kann. So wird der strikte Jahwe-Monotheismus im nachbabylonischen Jerusalem und Juda durch die heimgekehrte Priesterschaft mit Billigung der persischen Oberherrschaft von oben eingeführt, um – in der Nachfolge der Propheten Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia und Hesekiel – hauptsächlich gesamtgesellschaftliche Ziele zu verwirklichen, nämlich Katastrophen zu verhüten und die zukünftige Existenz des Volkes sicherzustellen (82).

Das stößt nach Schaik/Michel auf den Widerstand gerade der einfachen Leute des Volkes, weil der staatlich verordnete Glaube an nur einen Gott dem Geister- und Götterglauben ihrer ersten Natur und insbesondere der von den Frauen praktizierten „household religion“ keinen Raum mehr lassen will (83).

Wenn schließlich in der real existierenden Torarepublik der Tempel mit der regierenden Priesterkaste zu einem neuen Goldenen Kalb wird, ist es noch verständlicher, dass die erste Natur der Menschen der priesterlichen Propaganda gegenüber skeptisch bleibt, zumal, wie auch Veerkamp einräumt, sich die Menschen einen einzigen obersten Gott, auch wenn er die Freiheit und Gleichheit aller will, nicht anders vorstellen können als einen absolut herrschenden Monarchen (84).

Die unterschwelligen Spannungen zwischen der Spiritualität der ersten Natur und dem theologisch korrekten Glauben der dritten Natur erinnern mich an heutige Glaubensvorstellungen in der Volkskirche. Viele Menschen auch unserer Zeit können mehr mit dem Glauben an Engel anfangen als mit dem Glauben an einen unsichtbaren Vatergott. Es ist kein Zufall, dass Psalm 91, 11 von den behütenden Engeln Gottes der beliebteste aller Taufsprüche ist. Und wie oft haben mich meine Konfirmandinnen verwundert gefragt, warum ich nicht an Geister glaube!

Auch dass immer noch eine Mehrheit kirchenferner Gemeindemitglieder ihre Kinder zum Konfirmandenunterricht schickt, passt in das Bild einer theologisch nicht völlig korrekten Art zu glauben. „Das gehört dazu“, sagen viele; und so verweigern sie sich zwar einer bewussten Entscheidungsreligiosität, aber sie halten intuitiv an der Ahnung ihrer ersten Natur fest, dass es mehr gibt als einfach nur das materielle Dasein.

Für den Konflikt der Tora-Verkündigung der Propheten mit der Volksfrömmigkeit vor allem der Frauen interessiert sich Veerkamp gar nicht. Aber auch er sieht, dass die Geltung der Tora schon bei ihrer Einführung als Staatsverfassung auf Vorbehalte stößt. Das erste Gefühl, das die Leute ihr gegenüber aufbringen, ist Furcht – die Ehrfurcht muss noch wachsen. Dazu führen Esra und Nehemia ein neues Fest ein, das Laubhüttenfest Sukkot mit dem Abschluss der „Simhat Tora“, der Freude an der Tora. Mit fettem Essen und süßen Getränken soll das Volk die Tora feiern! (85) In der Begrifflichkeit von Schaik/Michel ausgedrückt, versucht die Vernunft der staatlichen Führung (dritte Natur), der ersten Natur des Volkes einleuchtend zu machen, dass die Tora nicht in erster Linie etwas zum Fürchten, sondern zum Feiern ist, und diese Einsicht ihrer zweiten Natur mit Hilfe eines regelmäßig gefeierten Festes einzuprägen.

Weiterhin bemüht sich die priesterliche Führung des Volkes nach Schaik/Michel, in einem groß angelegten Projekt die erste Natur des Volkes mit massiver Propaganda anzusprechen und für die Glaubwürdigkeit des nun strikt monotheistisch gewordenen neuen Jahweglaubens zu werben. Sie tun dies vor allem mit Hilfe des großartigen „Befreiungsepos“ im Buch Exodus, „das in seiner Despotenkritik die Menschen über die Zeiten hinweg begeisterte“ und das zusätzlich durch eine Unzahl von Wundergeschichten unangreifbar gemacht werden soll (86).

In diese Sichtweise ordnen Schaik/Michel auch die Schriftpropheten ein; sie stehen mit ihrer Persönlichkeit für die Glaubwürdigkeit der Tora in historischer Zeit ein, in der es keine Wunder zum Anfassen mehr gibt (87). So gesehen sind die Propheten zwar einerseits diejenigen, die durch ihre Opposition gegen den altorientalischen Normalstaatskult und die Gründung der Torarepublik dem Glauben an den NAMEN und seine Tora zum Durchbruch verhelfen (88). Sie werden aber andererseits zumindest im Nachhinein auch als außergewöhnliche Persönlichkeiten dargestellt, die der Tora ein Gesicht geben.

↑ 5.2 Das Murren als Ausdruck der Konterrevolution gegen den NAMEN

Wie gesagt, Veerkamp ist weniger an einem Konflikt innerer Naturen der Menschen interessiert. Sein Interesse macht sich an den gesellschaftlichen Konflikten fest, die eine Verwirklichung der Tora behindern. Auch er ist realistisch, was die Durchführung der Tora angeht. Die Realität hinkt immer hinter den Forderungen der Tora hinterher. Wie ja auch die Geltung der Tora für die Vergangenheit im Rückblick zwar vorausgesetzt wird, zugleich aber alle Propheten und das sogenannte „deuteronomistische Geschichtswerk“ feststellen, dass sie nie eingehalten worden ist, was dann auch zum Untergang beider Staaten im Norden und im Süden geführt hat (89). Folgendermaßen bringt Veerkamp seine Sichtweise auf den Punkt: „Im Wesentlichen gab es in der Zeit der Torarepublik immer den Kampf zwischen der Normalität und dem eigenen Weg, zwischen einem Leben nach den Gesetzen der jeweils herrschenden Weltordnung und der Autonomie, dem Leben unter dem eigenen Gesetz (autos nomos).“ (90)

Bedroht bleibt die Tora von außen, so dass nirgends so deutlich wie in den Büchern Esra und Nehemia die Trennung von den Völkern propagiert wird, nicht – wie gesagt – aus Gründen ethnischer Arroganz, sondern weil die Grundordnung des NAMENS die Grundordnungen aller anderen Völker ausschließt (91).

Aber auch in der eigenen Bevölkerung selbst ist die Versuchung, sich deren Normalkultur (zurück) zu wünschen, unausrottbar. Nach Veerkamp liegt das vor allem an den Ausbeuterschichten des Volkes, die von den Unrechts- und Unterdrückungsstrukturen profitieren. In den Büchern Esra und Nehemia werden die Wohlhabenden und Verwaltungsbeamten (chor wseganim) entmachtet (92). Aber was geschieht mit ihnen? Wo leben sie? Sind sie rechtlos? Sind sie verjagt? Werden sie sich nicht wieder ihren Einfluss zu sichern versuchen? Werden sie nicht dem sozialen Experiment nachzuweisen versuchen, dass es sowieso nicht funktionieren kann? Und haben wir nicht im inzwischen gescheiterten real existierenden Sozialismus östlicher Prägung erlebt, dass am Ende „die da oben“ von der Parteiführung doch wieder gleicher waren als die anderen?

Ein Teil der politischen Konflikte in der Torarepublik geht nach Veerkamp auf die von Anfang an bestehenden Spannungen zwischen der zurückgekehrten Oberschicht der Priester und der im Land gebliebenen Unterschicht zurück. Diese Differenzen schlagen sich in der Bibel darin nieder, dass neben den von der aaronitischen Priesterschaft redigierten ersten vier Büchern Mose das Deuteronomium als 5. Buch Mose in die Tora mit aufgenommen wurde. Letzteres vertritt mit seiner Zurückhaltung gegenüber der Macht eines Königs eine radikalere Form der Tora, denn im Land hat es ja über viele Jahre keinen König gegeben. Wie das Deuteronomium sind auch die Kapitel 32-34 im Buch Exodus, die vom Goldenen Kalb handeln, aus der Perspektive der levitischen Oppositionsbewegung gegen die Priesterkaste geschrieben (93).

Unterschiedliche Arten und Weisen des „Murrens“ gegen den Gott der Tora bzw. seine Vertreter auf Erden spiegeln sich nach Veerkamp in den Büchern Exodus und Numeri wider. Ja, es gibt auch einen rechtmäßigen Protest gegen Gott. Im 2. Buch Mose – Exodus klagt das Volk zum Beispiel sein Menschenrecht auf Trinkwasser ein, und Gott reagiert positiv darauf, indem er als Arzt und Versorger des Volkes handelt und Wasser bereitstellt. Man darf gemäß der Tora auch gegen Gott einen Rechtsstreit führen und die Tora in Frage und auf die Probe stellen, um die mit dem Leben in Freiheit zusammenhängenden Probleme zu lösen (94). Im 4. Buch Mose – Numeri aber führt „die problematische Versorgung zu politischen Katastrophen“; dort wird die Konterrevolution versucht, die Befreiung total in Frage gestellt (95).

In diesem Zusammenhang möchte ich über Veerkamps Satz nachdenken: „Der TeNaK, übersetzt oder nicht, gehört ins Lehrhaus.“ (96) Zu allen Zeiten mussten und müssen theologisch ausgebildete Menschen auslegen, was die Tora damals unter bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen gemeint hat und was sie heute unter veränderten Bedingungen meinen kann. Das ist im Sinne von Schaik/Michel dritte Natur pur. Ich habe meine Aufgabe als Gemeindepfarrer durchaus unter anderem auch so verstanden. Ich verstehe Veerkamps Argumentation, da die Bibel, naiv gelesen, wirklich massiv missverstanden werden kann. Mangelnde Bildung macht zum Beispiel auch anfälliger für Populismus.

Aber auch eine Haltung von linksintellektuellen Bildungsbürgern, die besser über die Befreiung benachteiligter Bevölkerungskreise Bescheid zu wissen glauben als diese selber, hat etwas Elitäres. Sie erinnert an die Studentenbewegung der 68er, deren Versuch, die Arbeiter zu politisieren, nicht nur ein leichtes Geschmäckle der Entmündigung hatte. Odo Marquard sah die Gefahr, dass Ideologen der Gleichheit und Freiheit sich in einem totalitären Tribunal zu absoluten Richtern über diejenigen aufspielen, die diese Ideologie nicht teilen, und jede nicht politisch korrekte Sicht der Dinge streng verurteilen (97).

Diese Gefahr ist um so größer, weil es mit der Tora ganz so einfach nun eben doch nicht ist. Heutzutage spricht sich ja jede demokratische Partei für Gerechtigkeit und Freiheit aus, aber alle definieren und verfolgen diese Ziele auf verschiedenen, sogar gegensätzlichen Wegen. Und wenn die idealen Ziele nicht ohne Zwang und Gewalt erreichbar sind, schaden ihre Verfechter mit ihrer Durchsetzung womöglich genau denen, deren Freiheit und Recht sie angeblich erreichen wollen.

Wichtig ist für mich als Pfarrer, nicht meine Herkunft zu vergessen. Meine Eltern brachten aus ihren Erfahrungen mit schwerer körperlicher Arbeit in der Landwirtschaft und später in der Fabrik, meine Mutter außerdem als Hausmädchen und später als Hausfrau, eine bodenständig fromme und vernünftige Weisheit mit, die mich gegenüber ideologisch abgehobenen studentischen Wolkenkuckucksheimen immun machte.

Wichtig ist für mich auch, neben dem Gespür für politische Themen keinesfalls meine seelsorgerliche Aufgabe und Kompetenz zu vergessen. Auch nicht, was ich von Eugen Drewermann über die tiefenpsychologische Interpretation der Bibel (98) und von Odo Marquard über den von vielen Geschichten geprägten und in vielen Geschichten lebenden Menschen gelernt habe (99). Es geht zu weit, nein, es führt in eine zu enge Sackgasse, den unverfügbaren NAMEN auf die eine Erzählung von Autonomie und Egalität zu reduzieren.

↑ 5.3 Einen Gott, der nichts als eine unpersönliche Funktion ist, kann man nicht lieben!

Ich gehe noch einen Schritt weiter. Dass sich die Israeliten so schwer tun mit dem Gott der Tora – liegt das vielleicht genau an dem, was Veerkamp am Gott der Tora so gut findet? Gott lieben bedeutet nach Veerkamp nicht, eine Gottheit zu fürchten, die absolut regiert und die man sich „essenzialistisch“ vorstellt, also als eigenständiges übernatürliches persönliches Wesen. Nein, für ihn ist „Gott lieben“ gleichbedeutend damit, eine Gesellschaftsform zu lieben und als absolute Forderung anzusehen, in der Freiheit und Gleichheit regieren (100). Ich meine allerdings: ein solcher Funktionsbegriff „Gott“ mag manchen aufgeklärt wissenschaftlich denkenden Neuzeitmenschen entgegenkommen, widerspricht aber der ersten Natur des Menschen.

Ohne Zweifel: Der NAME als Gegengott gegen absolut herrschende Könige und Eliten, als Befreier der Sklaven, als Garant für Freiheit und Gleichheit – das ist ein gutes Konzept. Eine solche Rede vom NAMEN kann aber auch zur Ideologie werden, sei es im Interesse „real-sozialistischer“ Systeme, in denen die Parteibonzen gleicher sind als andere oder die Parteikader genauer wissen, was die Interessen „des Volkes“ sind als das Volk selbst, oder sei es in der Negation der religiösen oder spirituellen Bedürfnisse der ersten Natur des Menschen. Ich bezweifle, dass man eine Gesellschaftsform lieben kann wie ein persönliches Gegenüber, ganz im Sinne von Gustav Heinemanns Zitat: „Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau.“ (101)

Lieben kann ich den NAMEN, wenn er mir zwar unverfügbar und unvorstellbar, aber real wie eine Person gegenübersteht: der unergründliche Urgrund der Welt, der Freiheit schenkt, der Gerechtigkeit für alle Menschen will, der nichts von mir fordert, als meinen Nächsten zu lieben wie mich selbst. Dass die Menschen der Bibel den Gott der Tora abstrakt als Personifizierung einer Grundordnung verstanden haben sollten, nimmt auch Veerkamp nicht wirklich an (102). Ja, vielleicht ist gerade die Tendenz der A-Personalität des NAMENS, der sich jeder bildlichen Festlegung verweigert, der entscheidende Grund dafür, dass sich gegen den NAMEN immer wieder ein so beharrliches Murren erhebt? Muss sich der Tora-Glaube mit der ersten Natur verbünden, um zustimmungsfähig zu werden?

Dass Veerkamp den Gott der Bibel auf die Stimme reduziert, die Tora verkörpert und verkündet, hat mich fasziniert (103). Und diese Reduktion im Sinne von Klärung, was wirklich Sache ist, dass es also nicht um „Religion“ geht, die gegen andere Religionen steht, sondern um das Eintreten für die Freiheit und Gleichheit der Menschen, hat mich in den Predigten der letzten anderthalb Jahrzehnte sehr inspiriert. Allerdings kann und will ich nicht nur einen unpersönlichen Gott predigen. Das wäre meinem eigenen Empfinden und dem meiner Predigthörer nicht angemessen, das entspricht auch nicht dem Anliegen von Karl Barth, auf den sich Veerkamp immer wieder beruft (104).

Recht hat Veerkamp damit, dass Gott nicht verfügbar ist, sich unseren Vorstellungen radikal, von der Wurzel her, entzieht. Aber ist es nicht auch eine Festlegung Gottes, wenn man ihn zu einer reinen Funktion erklärt, die den Menschen Freiheit und Gleichheit verschafft? Was ist mit dem Bedürfnis nach Frieden und Sicherheit, nach Schutz vor Krankheiten und Kriegen? Was mit dem Bedürfnis, sich anzuvertrauen, lieben und geliebt zu werden? Was ist mit dem Umgang mit Gefühlen, Trauer, Wut, Zorn, Freude, Angst, Vertrauen, Dankbarkeit, Schuld usw.?

↑ Kapitel 6: Die Psalmen und das Gebet zum Gott der Tora

Im sechsten Kapitel geht es um das Recht der ersten Natur, einen persönlichen Gott auch um individuellen Beistand anrufen zu können, mithin um das bleibende Recht der Frömmigkeit gegenüber einer Rede von Gott, die sich nur politisch verstehen will.

Ich gebe Veerkamp Recht, dass das biblische Gebet zu Gott eingebettet bleibt in die Geschichte des NAMENS mit seinem Volk, bezweifle aber, wie gesagt, dass man zu einem Funktionsbegriff beten kann. Spätestens hier wird klar, dass Veerkamp den biblischen „Gott“ doch verkürzt begreift, wenn er ihn auf einen Funktionsbegriff reduziert und ihm jede transzendente Realität, wie unverfügbar auch immer, nimmt.

Nach Schaik/Michel fordert die erste Natur in den Psalmen ihr Recht ein, die in Situationen existentieller Not den Beistand übernatürlichen Personals braucht. Sie wendet sich nunmehr an denselben einzigen Gott, der zuvor das Jenseits von anzurufenden Ahnen geleert hatte. Er wird zum Heiler, zum Schützer des einzelnen, zum Seelsorger, zum Gott für alle Sphären des Lebens, schließlich sogar zum Vater als Ersatz für den verstorbenen Vater oder Urahn (105).

Während Gott durch die Tora als Schutz für die Gesellschaft funktioniert, wirkt er durch die Psalmen auch als individuelles Unheilabwehrsystem. Insofern verstehen Schaik/Michel die Frömmigkeit der Psalmen als gegensätzliche Ergänzung des Gottesbildes der Tora; der Gott der Psalmen ist praktisch ein anderer als der Gott der Tora. Denn sie meinen, dass der „Komplex von Sünde, Zorn Gottes, Strafe und Vergebung“, der die ersten beiden Teile der hebräischen Bibel dominierte, in den Psalmen kaum eine Rolle spielt (106).

Damit, so meine ich, haben Schaik/Michel allerdings nicht Recht; auch in den Psalmen wird um Vergebung gebetet, auch hier wird Gott für seine Machttaten am Volk Israel gepriesen. Daher denke ich, dass Veerkamp die Psalmen mit Recht als die Fortsetzung der Tora mit anderen Mitteln ansieht. Hier kommt keineswegs ein anderer Gott zum Zuge als in der Tora. Im Gegensatz von zaddiq und rasch‘a bestätigt sich der Anspruch der Tora, eine Gesellschaftsordnung der Freien und Gleichen aufrechtzuerhalten und gegen diejenigen zu verteidigen, die die Rechte der Armen und Gebeugten mit Füßen treten (107).

An Veerkamp richte ich allerdings die Anfrage, ob das Gebet der Psalmen wirklich nur abstrakt als Herbeiwünschen tora-gemäßer Zustände verstanden werden kann, ohne dass ein personales Gegenüber angeredet wird, das tora-gemäße Zustände herbeiführen kann. Ich kann einen barmherzigen, liebenden, solidarischer und zur Solidarität aufrufenden Gott dazu aufrufen, „aufzustehen“ (hebräisch quma); aber ein so leidenschaftliches persönliches Gebet lediglich als „personale Vorstellung der gesellschaftlichen Grundordnung der Tora“ zu begreifen, aus Ausdruck der Hoffnung: „Möge sich doch diese Ordnung wieder durchsetzen, möge sie sich doch mächtig genug erweisen, sich gegen ihre Feinde zu behaupten“, finde ich unangemessen (108).

Bezeichnenderweise hält Veerkamp es selbst für schwierig, in den Psalmen die Bezeichnung NAME für Gott durchzuhalten, wenn dieser NAME persönlich angeredet wird; er kommt nicht umhin, das Wort „Du“ zu verwenden, um eine in seinen Augen unpersönliche Gesellschaftsordnung, einen reinen Funktionsbegriff anzureden (109). Natürlich kann er als Mensch der Neuzeit jegliche Existenz eines in irgendeiner Form dem Universum gegenüberstehenden göttlichen „Wesens“ als voraufgeklärt verneinen. Allerdings stellt er sich damit sicher gegen die subjektive Auffassung der biblischen Beter der Psalmen, auch des Hiob, Daniel, Paulus und Jesus, die keinen selbsterdachten himmlischen Götzen, aber doch gerade den unverfügbaren Gott der Tora, der nur Stimme ist, anzubeten gewiss waren – gerade ihn erfuhren sie in einer gewaltigen Kraft und Herrlichkeit, indem er alle menschliche Macht durch Recht, Befreiung, Liebe überwindet.

Die Stärke Veerkamps liegt darin, die Einheit der Bibel in Tora, Propheten und Schriften klar zu benennen (110). Bei Schaik/Michel finde ich stark, dass sie, indem sie die Vielschichtigkeit der menschlichen Naturen und ihre Widerspiegelung in der Bibel herausarbeiten, das kalte Dritte-Natur-Denken Veerkamps mit den Bedürfnissen des Erste-Natur-Denkens nach Geborgenheit und Liebe in Einklang zu bringen vermögen. Sicher sind die Psalmen eine bleibende Herausforderung, sich am Kampf der Tora gegen das Unrecht der Rechtsbeuger zu beteiligen, doch sie dürfen mit gleichem Recht als persönliche Gebete einzelner Menschen verstanden werden, die sich in ihrer individuellen Situation lobend, dankend, bittend und fürbittend an einen Gott wenden, der sich um ihre persönlichen Anliegen kümmert.

Nochmals im Klartext: Ich halte Veerkamps Reduktion des biblischen Gottesbegriffs auf eine in besonderer Weise durch die Stimme von „Autonomie und Egalität“ gefüllte Funktion durchaus für eine legitime Gottesvorstellung, jedenfalls aus der rückblickenden Sicht der Neuzeit. Aber sowohl aus der Sicht der biblischen Beter als auch aus der Sicht der auch heute immer noch über die menschlich erste Natur verfügenden Neuzeitmenschen ist das wirklich nur eine und nicht die biblisch vertretbare Vorstellung von Gott.

↑ Kapitel 7: Drei von vielen gegensätzlichen Auslegungen des Buches Hiob

Im siebten Kapitel geht es um das Buch Hiob. Schaik/Michel äußern Vorbehalte gegen einen Gott, der zwar vor Katastrophen schützt, aber nach dem Buch Hiob beim Schutz einzelner Menschen versagt. Veerkamp übt scharfe Kritik an dem Gott, gegen den Hiob rebelliert und der sich in den Reden Elihus und den Gottesreden aus dem Wettersturm als hellenistischer Götze entlarvt. Noch überzeugender als Veerkamps Hiob-Auslegung finde ich allerdings die Interpretation von Jürgen Ebach in ihrer Vielschichtigkeit.

Das Buch Hiob ist bekannt dafür, besonders schwer auslegbar zu sein. Einen Teil dieser Probleme versuchen sowohl Schaik/Michel als auch Veerkamp dadurch zu lösen, dass sie das Buch nicht als einheitliche Komposition begreifen. In diesem Fall halte ich es für angebracht, mich nicht auf die Besprechung dieser beiden Positionen zu beschränken, sondern eine dritte zu berücksichtigen, und zwar diejenige von Jürgen Ebach. Er lässt nicht locker in seiner Bemühung, das Hiob-Buch als literarisch stimmige Einheit mit einer vielschichtigen Aussageabsicht zu verstehen (111).

↑ 7a: Vom Knirschen bei der Fusion verschiedener Religionskonzepte

Nach Schaik/Michel kommt im Buch Hiob zum Ausdruck, dass die Fusion der beiden Religionskonzepte der intellektuell-institutionellen und der intuitiv-individuellen Religion nicht ohne Knirschen funktioniert (112).

Sie gehen von zwei verschiedenen Hiob-Figuren aus. Hiob 1, als Vertreter der ersten Natur, fühlt sich von himmlischen Mächten verraten und rebelliert gegen sie, weil seine Reputation ohne Fehl und Tadel ist; da die streitenden Götter an seinem Unglück schuld sind, müssen sie zum Schluss das von Hiob erlittene Unrecht ausgleichen. Hiob 2, als Repräsentant der dritten Natur, erhält vom Schöpfergott statt Mitleid nur „drei Stunden Naturkunde“. Er erduldet und akzeptiert sein Leiden mit dem Eingeständnis, dass er wohl doch schuldig ist. Die Gemeinsamkeit beider Geschichten sehen Schaik/Michel im Gesetz der Reziprozität, also der Gegenseitigkeit. Im sozialen Miteinander muss die Beziehung zwischen Gott und Mensch ins Gleichgewicht finden. Und zwar im Hier und Jetzt. Intuitiv ist Gott schuld, er muss die Schuld ausgleichen. In der intellektuell-institutionellen Variante ist Hiob schuld, denn Gott ist gerechter Vergelter, deshalb muss Hiob gestehen, obwohl er sich keiner Schuld bewusst ist (113).

Auf diese Weise wird nach Schaik/Michel das Hiob-Problem in dem Augenblick akut, als die Bibel die intuitive Religion zu integrieren versucht und Jahwe mit einer neuen Gerechtigkeitserwartung konfrontiert wird. Wenn Jahwe zum persönlichen Schutzgott des einzelnen Menschen wird, muss sich seine Gerechtigkeit im Leben jeden einzelnen Menschen realisieren. „Das ist das Knirschen der kulturellen Evolution.“ (114)

Die Sache mit dem Knirschen mag stimmen, aber die Zuordnung der Texte nicht. Dem 1. Hiob sollen sowohl die Wette und das neue Glück Hiobs in der Rahmengeschichte als auch die Anklagen Hiobs gegen Gott in den Reden entsprechen, dem 2. Hiob die Argumente der Freunde Hiobs, die Gottesreden, das Sich-Ergeben Hiobs in sein Schicksal in der Rahmengeschichte und Hiobs Reue in Sack und Asche. Das passt alles nicht zusammen. Hiob, der Rebell, weiß nichts von der Wette im Himmel, und gerade der Hiob des Anfangs der Rahmenerzählung ist der Dulder, während das Buße-Tun Hiobs nach den rebellischen Reden eigentlich nicht passt und von Veerkamp ja auch mit guten Gründen bestritten wird. Außerdem passt die Naturkunde gerade nicht zum Gott der Tora, sondern höchstens zu einem der polytheistischen Unterdrückergötter.

Interessant scheint mir, dass Schaik/Michel im Buch Hiob Ansätze für die Entwicklung religiöser Lehren finden, die später im Christentum bestimmend sein werden. Versteht man Hiob im Sinne der Ergebung in den Willen eines unerforschlichen allmächtigen Gottes (Hiob 2), wird der Weg zur christlichen Erbsündenlehre erklärlich: „Der Mensch hatte sein Unglück verdient. Er musste ein Sünder sein, selbst wenn er sich keines Vergehens bewusst war. Eine fürchterliche Vorstellung – die aber im Christentum Karriere machte.“ Weiterhin sehen Schaik/Michel im Hiob-Buch einen Keim des Auferstehungsglaubens. Denn der rebellische Hiob (Hiob 1) findet es unmöglich, dass der Gerechte wie der Ungerechte miteinander in der Erde liegen. Das Jenseits muss (wieder-)entdeckt werden (115). Und schließlich finden sie es bezeichnend, dass nach der Entvölkerung des Jenseits durch den einzigen monotheistischen Gott jetzt doch wieder Satan und Co. als Himmelspersonal auftauchen (Hiob 1). Für die erste Natur ist die Welt „viel zu komplex, als dass nur eine Kraft für alle Erscheinungen verantwortlich sein könnte.“ (116)

↑ 7b: Vom Widerstand gegen einen hellenisierten „Gott“, der nicht mehr mit der Tora identisch ist

Nach Veerkamp spiegelt das Buch Hiob wider, wie sich unter den Bedingungen des Hellenismus „Gott“ selbst verändert hat; er ist nicht mehr mit der Tora identisch, sondern hat sich in einen absoluten Tyrannen verwandelt. Seiner Auffassung nach geht es daher auch nicht allgemein um das Thema eines einzelnen leidenden gerechten Menschen, sondern Hiob repräsentiert das Volk Israel, dass im hellenistisch globalisierten Herrschaftssystem keine Gerechtigkeit mehr erfährt. „Die Bösen werden nicht bestraft, die Guten nicht belohnt“ – das gilt individuell wie gesellschaftlich (117)

Um Veerkamps Hiob-Auslegung in seiner Zuspitzung zu begreifen, zitiere ich ihn hier einmal ausführlicher:

„Die Gelehrten reden seit Generationen über den Zusammenbruch des sogenannten Tun-Ergehen-Schemas. Hier wird suggeriert, dass die Ansicht, Tugend werde belohnt, Verbrechen bestraft, reichlich primitiv sei, das Leben sei nun einmal kompliziert. Das ist aber nicht das Problem Ijjobs. Er will Recht. Er kann die ‚Schicksalsschläge‘, Wetterunbilden, feindlichen Überfälle u.Ä. hinnehmen: ‚der Name des EWIGEN bleibe gesegnet‘ (1.21). Aber die Tatsache, dass er, der in seiner Gesundheit Geschlagene, sich als von allen Menschen – und so von ‚Gott‘ – Verlassener auf einem Müllhaufen wiederfindet, das sei nicht hinnehmbar, hier werde sein Recht auf Menschlichkeit unheilbar verletzt, jetzt sei nicht länger das Recht, sondern das Unrecht der ‚Gott‘. Die Menschen von damals und die von heute antworten gewöhnlich mit einem Achselzucken: ‚Das ist nun mal so, da kann man nichts machen. Bleibe du standhaft‘; so in etwa die Einlassung von Elihu (Hi 32-37). ‚Gott‘ ist im Grunde genommen ‚unerforschlich‘. Ijjob denkt nicht daran, sich damit abspeisen zu lassen. Da er nun keine Alternative sieht – die Umkehrung der gesellschaftlichen Verkehrung als solcher, eben die Bekehrung ‚Gottes‘ selber, seine Rückverwandlung in das, was ‚Gott‘ einmal war -, zieht er es vor, zu schweigen, das Ganze zu verwerfen, 42.5:

Mit Ohren zum Hören habe ich dir zugehört,
jetzt haben dich meine Augen gesehen.
Aus diesem Grund schmeiß ich es hin (118), habe es satt,
in Staub und Asche …!

Nein, das ist kein reumütiger Kniefall, als habe er, Ijjob, nun doch Unrecht gehabt. Im Grunde genommen sagt er, die Tora sei vorbei, verlange bloß nicht von mir, dass ich das gut finde, das nicht! Der Epilog des Buches, wo der NAME wieder auftaucht, beschwört geradezu nun doch den großen gesellschaftlichen Umbruch, vermag aber keine konkrete politische Strategie zu sehen, die zu diesem großen Umbruch führen könnte. Die Bekehrung ‚Gottes‘ ist unter den gegebenen Verhältnissen kein tagespolitisches Ziel.“ (119)

Auch Veerkamp nimmt im Hiob-Buch Abstand von seiner sonst geübten Praxis, den Text der Endredaktion als Ganzes zu interpretieren, und schreibt die Reden Elihus sowie die beiden Gottesreden einer später hinzugefügten hellenistisch geprägten Kritik an einem rebellischen Hiob zu, dem der Gott der Tora im Schlusskapitel in seiner Rebellion Recht gegeben hat:

„Die Kapitel 32-39 sind der Einbruch der hellenistischen Weltauffassung in das Buch Hiob, die zweite Gottesrede lässt die zwei großen Tiere, Leviatan und Behemoth, Ägypten und Syrien, gewähren. Ijjob ist machtlos, 40-41, und kann und will nichts mehr sagen, 42.1-6.“ (120)

Aber so überzeugend ich bisher Veerkamps Übersetzung und Interpretation von Hiob 42, 6 und so faszinierend ich die Identifikation der beiden gewaltigen Untiere Behemoth und Leviathan in der zweiten Gottesrede Hiob 40-41 mit den zeitgenössischen benachbarten hellenistischen Großreichen Ägypten und Syrien gefunden habe, frage ich mich nach meiner Lektüre des Hiob-Kommentars von Jürgen Ebach doch, ob Veerkamp damit nicht den Sinn des Hiob-Buches in unzulässiger Weise verkürzt. Und macht es sich nicht auch Veerkamp zu einfach, wenn er hier sagt: Das, was mir an der Gottesvorstellung des Hiobbuches nicht gefällt, schiebe ich auf nachträgliche hellenistisch geprägte Einschübe?

↑ 7c: Jürgen Ebachs kosmologisch-ökologisch-sozialgeschichtliche Hiob-Auslegung

Wenn man es mit modernen Kategorien salopp ausdrücken will, wehrt sich Ebach gegen die „sozialistische“ Kritik der Gottesreden als ungerecht und unmenschlich mit einer sozusagen „ökologischen“ Argumentation, die diese Reden als notwendige Ergänzung einer ganz auf den Menschen konzentrierten Schöpfungstheologie in Genesis 1 und 2 begreift. Der Gott, der auch die Lebenswelten geschaffen hat, wohin Macht und Einfluss des Menschen nicht hinreichen, gibt Hiob zwar gegen seine drei Freunde Recht, aber dennoch kann Hiob sich nicht über Gott stellen und seine Pläne im Ganzen durchschauen.

Es würde hier zu weit führen, Jürgen Ebachs Auslegung des Buches Hiob in allen Einzelheiten zu würdigen. Ich möchte aber doch mit einer Reihe von Zitaten belegen, in welcher Weise Ebach die politische Auslegung Veerkamps zwar einerseits teilt, dann aber auf der anderen Seite weit darüber hinausgeht.

Ebach betont mehrfach, dass es im Buch Hiob nicht allein um das Thema Krankheit und Tod und insbesondere nicht nur um das Leiden des einzelnen Menschen geht.

„Wir stoßen hier auf ein Thema, das nahezu verdeckt neben dem durch den erzählenden Buchanfang in den Vordergrund gerückten Thema ‚Krankheit und Tod‘ steht, aber sich wie jenes durch das ganze Buch zieht: das Thema des sozialen Unrechts, der Zerstörung gerechter gesellschaftlicher Ordnung.“ (121)

„Für die Erfassung der Dimensionen von Hiobs Leiden ist festzuhalten, daß keine kategoriale Trennung von ‚persönlichem‘ und ‚gesellschaftlichem‘ Leiden vollzogen ist, so daß – auch für die Dialoge im Hiobbuch – Hiobs Leiden nicht auf »Krankheit« reduziert werden kann.“ (122)

„Hiobs Erfahrung der Unstimmigkeit zwischen seiner Lebenspraxis und seinem Ergehen wird ihm zum Anlaß, kritisch die sozialen Verhältnisse seiner Lebenswelt zu betrachten. Es hat den Anschein, als zeichne der Hiobdichter aus Hiobs Blickwinkel Verhältnisse, die durch das Aufkommen neuer Machteliten und das Sinken des Einflusses der alten Eliten gekennzeichnet ist“ (123).

Ebach reduziert das Buch Hiob allerdings auch nicht auf diesen sozialgeschichtlichen Blickwinkel der Menschenwelt, sondern versteht zum Beispiel die in Hiob 12, 7-10 vertretene „Theologie der Tiere“ als beabsichtigte Ergänzung eines vielschichtigen Blicks auf die Wirklichkeit und nicht als Fremdkörper oder späteren Zusatz anderer Theologen:

„Zeigt der Blick auf die Tiere nicht auch, daß sich unter ihnen in den jeweiligen Lebensräumen und zwischen ihnen jeweils die stärkeren durchsetzen? Die Tiere, deren Lehre Hiob lauschen kann, sind ‚nicht mehr‘ die vegetarisch lebenden von Gen 1 und ‚noch nicht‘ die im friedlichen Miteinander lebenden von Jes 11… Wo aber die ‚großen Vögel‘ die ‚kleinen Vögel‘ fressen (man sehe Pier Paolo Pasolinis freundliche und doch entlarvende Kritik am Heiligen Franziskus in ‚Uccellacci uccellini‘), wo die großen Fische die kleinen Fische fressen (für Herbert Marcuse muß die wirkliche Utopie das Aufhören dieses Fressens denken können), da ist das Schöpferlob der Tiere nicht von der Empirie der sich durchsetzenden Gewalt zu trennen, die in der menschlichen Gesellschaft so erschreckend ist.“ (124)

Immer noch bleibt hier der Blick auf die Tierwelt verbunden mit dem Blick auf die Gewalt in der Menschenwelt. Allerdings ist in Ebachs Augen Gott für Hiob und seine Freunde im Hiob-Buch nicht ein reiner Funktionsbegriff, der sich auf die Gesellschaft der Menschen bezieht, sondern er steht für eine überweltliche Macht, die alles in der Welt lenkt, auch die außermenschliche Natur:

„Hiob und seine Freunde stimmen darin überein, daß Gott der Herr der Welt, der Lenker der persönlichen und sozialen Verhältnisse der Menschen und Völker, aber auch der außermenschlichen Natur ist. Hiob leugnet Gottes Größe und Macht keineswegs, ja er betont sie noch konsequenter als die Freunde. Anders als die Freunde verbindet Hiob die Anerkennung der Herrschaft Gottes aber mit einem realistischen Blick auf die ihn umgebende Wirklichkeit, die gerade nicht von Gerechtigkeit und Stimmigkeit beherrscht ist, sondern von Irrtümern, Destabilisierungen, Ansehensverlusten der alten Eliten und Machtergreifungen von Emporkömmlingen, ja von der Herrschaft von Gewalttätern. Für Hiobs Freunde dagegen bedeutet die Anerkennung der Herrschaft Gottes die Anerkennung des weisen und gerechten Weltregiments, die Behauptung der Stimmigkeit zwischen dem Verhalten und dem Geschick der Menschen, kurz: die Wahrnehmung gerechter Verhältnisse, in denen Gute und Böse das ihnen je zukommende Geschick erhalten und Gott kurzfristige Störungen jener Stimmigkeit beseitigt.“ (125)

Für Ebach stellt es (wie für mich) keinen Widerspruch dar, Gott als souveränes Gegenüber der Welt in ihrer Gesamtheit anzuerkennen und ihn zugleich anklagend auf den Widerspruch zwischen den gerechten Geboten seiner Tora und ihrer fortwährenden Übertretung durch Ausbeutung und Unterdrückung hinzuweisen, wie es Hiob tut. Hiob 24, 2-12 zum Beispiel

„handelt von krassen Ausbeutungsverhältnissen und zeigt damit, daß die Fragen Hiobs nicht auf sein persönliches Ergehen und die sich für ihn darin ausdrückende Verkehrtheit beschränkt bleiben, sondern verkehrte soziale und ökonomische Verhältnisse mit in den Blick nehmen.“ (126)

Bei der Auslegung von Hiobs Lied von der Weisheit (Hiob 28) muss zugleich nach Ebach ernstgenommen werden, dass hier ein kosmologischer Blickwinkel gegenüber dem rein individuellen oder sozialen in den Vordergrund tritt (127):

„Die alleinige Betonung des kosmologischen Aspekts gerade an dieser Stelle des Hiobbuches könnte verwundern. Müßte man nicht gerade im ‚Fall Hiob‘ die soziale Seite, die Frage der Beziehungen von Menschen untereinander und der sie leitenden Normen im Vordergrund erwarten? Daß gerade dieser Aspekt hier ziemlich in den Hintergrund tritt, warnt vor einer Engführung des ‚Hiobproblems‘ auf das Problem des Leidens und der weiteren Engführung der Reduktion des Leidensproblems auf eine Frage der menschlichen Beziehungen.

Hi 28,25ff. erinnert daran, daß Hiob selbst am Beginn seiner Reden (Kap. 3, dann noch einmal in Kap. 9) die Frage nach dem Grund seines Ergehens als kosmologische Frage gestellt hatte. Und ebenso weist Hi 28,25ff. voraus auf die Gottesreden (fast) am Ende des Hiobbuches, in denen eben diese Frage als kosmologische beantwortet wird. Für das Verstehen des ganzen Buches ist diese Linie zentral. Wer sie nicht sieht, muß die Gottesreden als verweigerte Antwort ansehen, als eine Antwort auf eine Frage, die Hiob nicht gestellt hatte (dazu u. zu Hi 38ff.).“ (128)

Dieser kosmologische Aspekt steht erst recht im Vordergrund, wenn Gott selbst in den Kapiteln 38 und 39 zum ersten Mal das Wort ergreift:

„Als Gott die Erde gründete, gab es keine Menschen. Der Jubel bei der Vollendung der Grundlegung (vergleichbar dem Jubel bei der Errichtung des Zweiten Tempels [Esra 3 ,10f.]) war ein kosmisch-himmlischer: Es jubelten die Sterne und die Götterwesen. Die Erde, die hier in den Blick kommt, ist nicht nach Maß und Bedürfnis des Menschen gemacht. Diese nicht-anthropozentrische Sicht auf die Schöpfung, die Hi 38ff. von Gen 1 unterscheidet, durchzieht die Gottesrede(n) des Hiobbuches und wird bei der weiteren Auslegung zu beachten sein.“ (129)

Ebach widerspricht aber mit guten Argumenten der Einschätzung, dass Gott dem Hiob nur mit drei Stunden nichtssagender Naturkunde antwortet:

„Mit menschlicher Einsicht ist die in der ersten Gottesrede ins Bild und in Bilder gesetzte Welt weder zu fassen, noch fügt sie sich menschlichen Interessen. Dennoch existiert diese Welt nicht ohne ‚Plan′. Damit widerspricht diese Gottesrede Hiobs Freunden ebenso wie Hiob. Hatten jene eine ihrer Weisheit zugängliche, geordnete, ‚heile′ Welt behauptet, so vermochte Hiob nur Chaos zu sehen. Doch Jhwh zeigt sich als ‚Herr der Tiere′ als Herr auch dieser und damit der ganzen Welt. Keel, Jahwes Entgegnung [an Ijob, 1978], 125 faßt zusammen: ‚Mit dem Bilderbogen vom ›Herrn der Tiere‹ korrigiert Jahwe beide Auffassungen. Es fehlt in der Welt nicht an chaotischen Mächten, von eindrücklicher Wildheit und gewaltiger zerstörerischer Kraft. Aber diese Welt ist doch nicht ohne Plan, ohne Ordnung. Jahwe hält das Chaos im Zaum, ohne es in eine langweilige, starre Ordnung zu verwandeln.‘“ (130)

In der Auslegung der zweiten Gottesrede bezieht sich Ebach auf ein Verständnis der beiden rätselhaften Tiere Behemoth und Leviathan, das sie – eng miteinander verwoben – aus der geschichtlichen Wirklichkeit und Mythologie Ägyptens heraus interpretiert und daher über bloße Naturkunde hinausgeht:

„Wie Jhwh in der ersten Gottesrede der ‚Herr der Tiere‘ ist und dabei eine vor allem mesopotamische ‚Rolle‘ übernimmt, tritt er in der zweiten Gottesrede in der ‚Rolle‘ des ägyptischen Horus auf, der gegen das Nilpferd (Behemoth) – und entsprechend das Krokodil (Leviathan) – die Ordnung der Welt erhält. Dabei ist festzuhalten, daß die ägyptische Nilpferdjagd keine ‚symbolische‘, sondern eine ‚reale‘ Jagd ist, bei der die Tiere wirklich erlegt werden. Dieses Nilpferd ist als reales Tier ein mythologisches Tier.“ (131)

Diese Sichtweise von Behemoth und Leviathan widerspricht natürlich vollkommen ihrer Interpretation durch Veerkamp als der politischen Mächte Ägyptens und Syriens. Am liebsten wäre es mir, ich könnte beide Sichtweisen miteinander in Einklang bringen, sehe dafür bisher aber keine Möglichkeit. Überzeugender finde ich mittlerweile wirklich die folgende Argumentation:

„Über den Behemoth sagt Gott, er habe ihn geschaffen mit Hiob. Jenes Riesenvieh also ist ebenso Geschöpf Gottes wie Hiob. Beide gehören zu Gottes Welt, und damit auch der zwischen beiden bestehende Gegensatz. Der Behemoth ist weder für noch gegen Hiob (den Menschen) geschaffen, sondern mit ihm. Die Diastase zwischen der von Gott bereiteten Welt und dem Tier, das in ihr als Repräsentant des sie bedrohenden Chaos vorhanden ist, wird durch die Aussage, auch der Behemoth sei von Gott geschaffen, nicht befriedet, aber doch schöpfungstheologisch einbegriffen. Auch die Elemente, die die Schöpfung in Frage stellen, sie bedrohen, ihr feindlich sind, sind Bestandteile der Schöpfung. Der Widerspruch zwischen ‚Chaos‘ und ‚Weltordnung‘ wird damit in die Schöpfung verlegt. Der Behemoth ist – so verstanden – Gottes Feind und Gottes Geschöpf.“ (132)

Besonders nachdenklich hat mich ein Zitat gemacht, das Ebach aus dem Talmud anführt und das die ausschließliche Identifikation des NAMENS mit der Tora in Frage stellt:

„Eine Bemerkung der rabbinischen Theologie läßt ein Licht nicht nur auf Hi 40,21 fallen, sondern auf Gottes »Walten« überhaupt und ist damit ein bemerkenswerter Beitrag zu den Gottesreden. Im Talmudtraktat bAZ 3b findet sich folgende Passage: ‚… Rabbi Jehuda sagte ja im Namen Raws: Zwölf Stunden hat der Tag; in den ersten drei Stunden sitzt der Heilige, gepriesen sei er, und befaßt sich mit der Tora; in den zweiten (drei Stunden) sitzt er und richtet die ganze Welt. Sobald er aber sieht, daß sich die Welt der Vernichtung schuldig macht, erhebt er sich vom Stuhle des Rechts und setzt sich auf den Stuhl der Barmherzigkeit. In den dritten (drei Stunden) sitzt er und ernährt die ganze Welt, von den Hörnern der Büffel bis zu den Eiern der Läuse; in den vierten (drei Stunden) sitzt der Heilige, gepriesen sei er, und spielt mit dem Leviathan …′.“ (133)

Vor allem die spielerische Beschäftigung Gottes mit dem Leviathan spricht mich an; sie bestätigt meine Gedanken zum Spielen Gottes, die ich im Gottesdienst „Am Tag, als Gott die Dinos schuf“, in der Kinderandacht „Lutz und Gabi und die Erschreckertiere“ und in der interreligiösen Feier „Gemeinsam spielen!“ zum Ausdruck gebracht habe.

Aber zurück zu dem vielleicht entscheidendsten Vers für das Verständnis des Buches Hiob. Ich hatte früher nie verstanden, weshalb Hiob auf Grund der beiden Gottesreden einfach „klein beigeben“ oder „zu Kreuze kriechen“ sollte, und stimmte deswegen Veerkamps alternativer Übersetzung von Hiob 42,6 gerne voll und ganz zu. Aber ich muss zugeben – für den Gesamtzusammenhang des Hiob-Buches macht es doch Sinn, Hiob 42, 1-6 so zu übersetzen, wie es Ebach tut:

1 Da antwortete Hiob Jhwh und sprach:

2 ‚Ich weiß, daß du alles vermagst,
und kein Vorhaben ist dir verwehrt.

3 Wer ist es, der den Plan verfinstert ohne Wissen?
So habe ich erzählt – und erkannte nichts –
zu Wunderbares für mich und unbegreiflich.

4 Höre doch, und ich will reden,
ich will dich fragen, lehre du mich!

5 Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört,
jetzt aber hat mein Auge dich geschaut.

6 Darum verwerfe ich und ändere meine Einstellung –
auf Staub und Asche.‘“ (134)

Und entsprechend dieser Übersetzung interpretiert Jürgen Ebach diese Verse in einer für mich einleuchtenden Weise:

„Auf die zweite Gottesrede antwortet Hiob anders als auf die erste. Hatte er nach jener vor der überlegenen Macht kapituliert, aber seine Position nicht revidiert, so spricht er nun von ‚Wissen‘ und verwirft seine Position. Hiobs zweite Antwort ist ähnlich kurz wie die erste, doch jeder Satz hat Gewicht und einen je eigenen Akzent.

In V. 2.3 kommt insgesamt dreimal das Wortfeld ‚wissen‘ (jáda‘/da‘at) vor. Hiob spricht also jetzt – anders als in seiner ersten Antwort – von einer Einsicht, einem gewonnenen Wissen. Was weiß Hiob nun? Er weiß, daß Gott alles vermag. Das ist kein Bekenntnis zu einer abstrakt-logischen ‚Allmacht‘, sondern Ausdruck und Erfahrung einer unvergleichlichen Macht. Gott allein ist es, der die Welt erhält – keine widerspruchsfreie, ‚heile‘ Welt, sondern eine, in der widerstreitende Interessen und Lebensbedürfnisse Raum haben (erste Gottesrede) – und der sie gegen die Frevler, die in Behemoth und Leviathan sich manifestierenden Chaosmächte, verteidigt (zweite Gottesrede). Hiob reagiert damit auf die ihm in den Gottesreden vor Augen gestellte Welt. Er weiß nun, daß nicht an seinem Maßstab die Welt zu bemessen ist, und erst recht, daß nicht er die Welt regieren könnte.“ (135)

Interessant finde ich, dass nach Ebach im Sinneswandel Hiobs auf Grund der Gottesreden der gegen Gott rebellierende Hiob der Reden mit dem Gott ergebenen Hiob des Einleitungsteils sozusagen wieder versöhnt bzw. miteinander zu Deckung gebracht werden:

„Hiob ändert seine Einstellung, während er noch in Staub und Asche sitzt. Sein ‚Wissen‘, das ihn nach den Gottesreden zu dieser Änderung bewegt, ist also gerade nicht die Folge einer Änderung seiner Lage. Hiob verwirft seine bisherigen Ansichten nicht, weil er gesund geworden wäre. Sein ‚Glaube‘ ist nicht, wie es der Satan geargwöhnt hatte, die Erfüllung seines Parts in einem Vertrag mit Gott.“ (136)

Ein letztes Zitat von Jürgen Ebach soll zeigen, in welch einer differenzierten Weise ihm zufolge die Hiob-Dichtung das Gottesbild Hiobs und seiner Freunde voneinander unterscheidet. Während Hiobs Freunde Gott für ihre Weltsicht zu vereinnahmen und über Gott zu verfügen versuchen, bleibt Hiob dem unverfügbaren Gott der Tora auch darin treu, dass er seine Anklagen gegen ihn richtet und von ihm allein Antwort erwartet:

„Es sind diese beiden Punkte, in denen sich das Reden der drei Freunde vom Reden Hiobs unterscheidet. Hiob geht aus von dem, was er am eigenen Leibe erlebt, was ihm widerfährt. Er kann nicht länger an der Stimmigkeit von Tun und Ergehen festhalten, wenn er wahrnimmt, was ihm widerfährt. In seiner Lage kann er keine Doktrin aufrechterhalten, die mit seiner Lage nicht zusammengeht. Und Hiob fordert Antwort von Gott, statt sie für Gott zu geben. Daß sich Hiob darin von den dreien unterscheidet, bedeutet nicht, daß sein Reden über Gott wahr ist. Wohl aber redet er noch da, wo er in grenzenloser Überschätzung seiner eigenen Erfahrung als Maßstab des Weltganzen übers Ziel hinausschießt, wahrhaftig, authentisch. Hiob nimmt in seinen beiden Antworten auf Gottes Reden (besonders in 42,6, d.h. unmittelbar vor dem Urteil über die Freunde in 42,7ff.) Abschied von seinem monomanen ‚Egotrip‘. Und doch bekommt er gegen die Freunde Recht, und zwar in seinem Ausgangspunkt, nämlich der Wahrnehmung dessen, was ist, und seinem Ziel, nämlich der Adressierung aller seiner Klagen und Anklagen an Gott, von dem allein er Antwort fordert und Antwort erwartet. … Selbst dort, wo Hiob maßlos klagt und anklagt, bleibt er wahrhaftig. Er stellt sich damit gegen und unter Gott. Darin bekommt er Recht gegen die Freunde, die sich – in bester Absicht – zu und über Gott stellen.“ (137)

Veerkamps Anliegen, das Buch Hiob politisch auf dem Hintergrund des hellenistischen Globalismus zu interpretieren, bleibt – so denke ich – auch nach Ebachs Interpretation weiterhin möglich und notwendig. Allerdings will ich ernstnehmen, dass die Gottesreden nicht unbedingt einfach nur hellenistische Ideologie enthalten müssen, die mit dem NAMEN und der Tora Israels unvereinbar ist.

↑ Kapitel 8: Von der Apokalyptik zum Messianismus des Paulus

Im achten Kapitel geht es um die Einschätzung der Apokalyptik und insbesondere um das Verständnis der Botschaft des Paulus.

Die Apokalyptik ist für Veerkamp eine Folge der Globalisierung der Macht und der Machtlosigkeit politischer Entwürfe am Rande des Hellenismus und Römischen Reiches. Wörtlich heißt Apokalyptik „Aufdeckung“, und zwar wird die wahre Wirklichkeit hinter den nur scheinbar mächtigen Weltmächten enthüllt. Menschlicher politischer Widerstand ist zwecklos, aber vom Himmel her wird eine globale Überwindung der globalen unmenschlichen Herrschaft erwartet. Nicht nur bei Daniel und in der Offenbarung, sondern auch in den Paulusbriefen ist für Veerkamp eine präzise politische Analyse der Weltlage erkennbar (138).

Indem Veerkamp auch Paulus im Anschluss an Gerhard Jankowski (139) auf diese Weise politisch versteht, wendet er sich gegen eine lutherisch verengte Paulusdeutung, die in der Sünde lediglich eine individuell-ethische Verfehlung der Vereinigung mit Gott erblickt. Stattdessen ist Sünde = Verfehlung als Verstrickung in ein Weltsystem zu verstehen, das die Ziele der Tora – Autonomie und Egalität – für reale menschliche Politik unerreichbar gemacht hat. Im Vertrauen auf den gekreuzigten und auferstandenen Messias Jesus setzt sich Paulus für das Zusammenleben von Juden und Gojim im Leib Christi ein, wobei die Gojim, die Angehörigen der nichtjüdischen Völker, nicht durch Beschneidung Juden werden müssen (140).

Für Schaik/Michel ist vor allem wichtig, dass Gott durch ein jenseitiges Belohnungs- und Strafe-System wieder Glaubwürdigkeit gewinnt und die Menschen, wenn schon keine Hoffnung auf Änderung im Diesseits, wenigstens auf Totenauferstehung hoffen können. Von Paulus ist nur im Zusammenhang mit der apokalyptischen Verarbeitung des Todes Jesu die Rede – zunächst wird noch auf seine triumphale Wiederkehr gewartet, dann die Hoffnung auf den Jüngsten Tag im Sinne einer individuellen Jenseitshoffnung unangreifbar gemacht (141).

Beide Ansätze scheinen mir die Botschaft des Paulus zu verkürzen. Stark finde ich Veerkamps Blick auf die politische Interpretation des Leibes Christi durch Paulus; ganz klar ist für mich, dass Paulus im Glauben an die Auferstehung der Toten auch eine reale Aufhebung der gesellschaftlichen Zerrissenheit im Hier und Jetzt erwartet (Galater 3, 28):

„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Jesus Christus.“

Aber ich würde diese Aspekte nicht gegen eine auch auf das Individuum bezogene Interpretation von Sünde oder eine auch auf das Jenseits bezogene Auferstehungshoffnung ausspielen. Es widerstrebt mir, Paulus nur als rational abwägenden politischen Denker und nicht auch als einfühlsamen Seelsorger zu sehen; was für die Psalmbeter oder für Hiob gilt, ist für Paulus nicht weniger wahr: Gott ist für ihn nicht nur ein unpersönliches Prinzip, sondern hat durch den Messias Jesus ein unverwechselbares menschliches Gesicht gewonnen.

In den vergangenen Monaten sind mir bei der Lektüre zweier für mich spannender Bücher noch weitere neue Fragen zur Theologie und Rolle des Paulus gekommen.

Der französische Historiker Marcel Simon geht in seinem Buch „Verus Israel“ über die spannungsreichen Beziehungen zwischen Juden und Christen in den ersten Jahrhunderten davon aus, dass schon Paulus für die Abspaltung des Christentums vom Judentum als eigenständiger Religion verantwortlich gewesen ist (142).

Aber kann tatsächlich bereits Paulus für die Entstehung eines eigenständigen Christentums verantwortlich gemacht werden? Er verstand sich doch bewusst als Jude, der von Jesus selbst zur Verkündigung des Vertrauens auf den Messias des Gottes Israels an die Heidenwelt berufen war, allerdings ohne dass die Gojim die gesamte Tora einschließlich der rituellen Gebote erfüllen mussten.

Der Kirchenhistoriker Larry W. Hurtado weist in seinem Buch „Lord Jesus Christ“ nach, dass Paulus sich mit der frühesten Judenchristenheit Jerusalems darin einig war, Jesus mit dem EINEN Gott Israels zusammen eine anbetende Verehrung zukommen zu lassen (143).

Dazu frage ich mich, inwiefern die bereits unmittelbar nach Jesu Tod einsetzende Verherrlichung seines Namens ursprünglich im Sinne der Verkörperung und Erfüllung der Tora Israels für alle Völker gemeint ist und wie sich der Name des „Herrn Jesus Christus“ zu dem unverfügbaren NAMEN des Gottes Israels verhält.

Diese Fragen würde ich gerne später einmal weiter verfolgen.

↑ Kapitel 9: Welche Rolle spielt Jesus im Spannungsfeld zwischen Frömmigkeit und Politik?

Im neunten Kapitel geht es um die zentrale Figur des Christentums, um Jesus. Bei keinem anderen Thema gehen die Ansichten von Schaik/Michel und Veerkamp so weit auseinander. Und bei keinem anderen Thema kommen mir die Einschätzungen von Schaik/Michel so fragwürdig vor wie im Blick auf Jesus.

9a: Jesus als gescheiterter und doch siegreicher Messias und Weltrevolutionär

Nach Veerkamp ist Jesus schon für Paulus ein gescheiterter Messias, wenn man ihn an den gängigen jüdischen Messiaserwartungen misst. Aber gerade durch seinen Tod am Kreuz und durch seine Auferstehung besiegt er die Römische Weltordnung (144). Paulus versteht Jesus im Grunde als einen Weltrevolutionär, der die Ziele der Tora nicht nur für Israel, sondern für alle Völker gewaltfrei durchsetzt. Schon in naher Zukunft wird der Messias Jesus wiederkommen und das globale Friedensreich aufrichten.

Dann zerschlagen sich im Jahr 70 durch den Ausgang des Jüdischen Krieges diese kurzfristigen politischen Hoffnungen. In dieser Situation erfindet Markus eine neue literarische Gattung; er schreibt ein „Evangelium“, in dem er – so Veerkamp im Anschluss an Andreas Bedenbender (145) – das Trauma des Massensterbens im Jüdischen Krieg und der Zerstörung Jerusalems wie des Tempels zu bewältigen sucht. Denn dieses Trauma fordert nicht nur die Juden heraus, sondern auch die sich immer noch als Teil des Judentums verstehende Anhängerschaft des Messias Jesus. Markus kann und will nicht mehr wie Paulus ausschließlich den gekreuzigten, auferstandenen und bald triumphierenden Christus verkündigen, sondern er ruft in oder nach der Katastrophe des Jahres 70 die Nachfolger des Messias „zurück nach Galiläa“, damit sie sich bewusst machen, worin der „Anfang des Evangeliums des Messias Jesus“ in seinen Worten und Taten in Israel und seinem Leiden unter der Römischen Weltordnung besteht (146).

Da im Markusevangelium vieles offen bleibt, bauen drei andere Evangelisten auf Markus auf und ziehen unterschiedliche politische Konsequenzen: Matthäus will mit der Verkündigung der unverkürzten Tora Israels unter den Völkern der Welt praktisch das Konzept der Trennung von den Völkern fortsetzen (147). Lukas dagegen bestätigt das Programm des Paulus und tritt für das Zusammenleben von Juden und Gojim im Leib der Gemeinde des Messias ein, ohne dass die Gojim sich beschneiden lassen müssen (148). Johannes plädiert in Abgrenzung zur entstehenden rabbinischen Synagoge, die ihrerseits die Anhänger Jesu exkommuniziert hat, für eine Vereinigung der Israeliten aller 12 Stämme im Vertrauen auf den Messias; dieser Zweig der christlichen Gemeinde scheint sich nach Johannes 21 mit den anderen zu versöhnen (149).

So bleibt nach Veerkamp das Neue Testament in seinen Grundzügen in der Spur der Großen Erzählung des Alten Testaments von der Tora als Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit, nur dass dieser Ruf jetzt mehr (Matthäus, Lukas) oder weniger (Markus, Johannes) nicht nur an Israel, sondern an alle Völker der Welt ergeht.

↑ 9b: Jesus als Apokalyptiker und Jesus als Freund – zwei Jesusbilder, die einander widersprechen?

Schaik/Michel setzen im Blick auf Jesus andere Akzente. In den Überlieferungen des Neuen Testaments über Jesus unterscheiden sie ähnlich wie beim Gott der Tora und dem Gott der Psalmen zwischen einem apokalyptischen Jesus und einem Jesus als Freund. Der apokalyptische Jesus ist das Herzstück einer apokalyptischen Weltanschauung. Er ist der Heros, den die intellektuelle Religion in den Kampf gegen das Böse schickt. Daneben wird ein zweiter Jesus beschrieben, der „nicht eschatologische“ Jesus, ein jüdischer Kyniker, als die „ideale Verkörperung der Jäger-und-Sammler-Moral.“ (150)

Schaik/Michel machen es sich insofern zu einfach, als sie die Spannung zwischen institutioneller und intuitiver Religion, die sie im Gegenüber von Tora und Psalmen festgestellt hatten, nun ganz ähnlich auf zwei Jesusfiguren innerhalb der Evangelien zu übertragen versuchen. Dabei kommen sie aber noch stärker ins Schleudern als schon in der Interpretation des Hiobbuches. Schon die Unterscheidung zwischen dem Gott der Tora und dem Gott der Psalmen im Alten Testament war ja fragwürdig gewesen, aber immerhin haben sie sich dort auf den unterschiedlichem Stil und Kontext der entsprechenden Schriften stützen können. Dass über den historischen Jesus kaum etwas Sicheres gesagt werden kann, ist ihnen bewusst; aber sie verzichten darauf, zwischen den durch die Evangelisten vermittelten Bildern von Jesus zu differenzieren, gehen auch nicht wie Veerkamp auf die Rolle des Jüdischen Krieges bei der Entstehung der Evangelien ein. Sie benutzen die Evangelien sozusagen wie einen Steinbruch, aus dem sie den beiden Jesustypen recht willkürlich bestimmte Worte, Taten und Eigenschaften zuzuordnen versuchen.

Angeblich geht es dem apokalyptischen Jesus nur um die intellektuelle Religion der dritten Natur, um die Abwehr von Katastrophen für das Kollektiv (151); an den einzelnen ist er nicht interessiert. Dabei bleibt allerdings fraglich, wer zu dieser Zeit als Träger dieser intellektuell-institutionellen Religion in Frage kommen soll. Es gibt ja noch keine gesellschaftlich führende christliche Elite.

Derselbe Jesus vertritt andererseits Werte der ersten Natur, der Asabiya. Wer im apokalyptischen Kampf mit mächtigen Feinden bestehen will, muss auf Egalität setzen und auf die Liebe zu Gott als sozialen Klebstoff. So brandmarkt der apokalyptische Jesus den Streit unter Brüdern, die Gier auf Frauen, das Streben nach Reichtum und eskalierende Gewalt (152). „Die Radikalität der ethischen Forderungen funktionierte als kostspieliges Signal; wer bereit war, sie zu befolgen, der musste es wirklich ernst meinen.“ (153)

Aber diese Jäger-und-Sammler-Moral hat ein freundliches Gesicht nur nach innen, nach außen zielt sie auf Abwehr und Kampf. Angeblich gilt die Feindes- und Nächstenliebe nur innerhalb Israels. „Die bösen Feinde darf man nicht lieben, man muss sie bekämpfen!“ Insofern soll der apokalyptische Jesus sogar auf „die uralte Freund-Feind-Psychologie“ zurückgegriffen haben, die im Dunkel unserer Primatenvergangenheit wurzelt und in der es nicht um das eigene Fehlverhalten geht, sondern um den Kampf gegen das Böse (154). Unter Berufung auf den Jesus-Biographen Reza Aslan (155) erwägen Carel van Schai und Kai Michel sogar, dass Jesus ein Zelot gewesen sein könnte, aber jedenfalls „ganz bestimmt kein Pazifist“ (156).

Indessen lassen Schaik/Michel bei einer solchen Einschätzung völlig außer Acht, mit welchen Mitteln Jesus gegen das Böse kämpft: nicht mit Gewalt, sondern mit dem Einsatz seines Lebens, mit dem Leiden. Die Evangelien kritisieren ja gerade die Jünger für gewisse Neigungen zum Zelotismus; Jesus befürwortet nirgends den zelotischen Kampf, der im Jüdischen Krieg in die Katastrophe geführt hat. Ob der reale Jesus Zelot war oder nicht, wird man nicht mehr zweifelsfrei herausfinden können. Dagegen spricht, dass die Mehrzahl der von ihm überlieferten Worte nicht zu einer Messiaslogik der Stärke passen, sondern dass der Sieg im apokalyptischen Kampf allein Gott in die Hände gelegt wird, und in der Logik des Kampfes und der Bewährung geht es um das Annehmen des Leidens und das Durchhalten der Gewaltfreiheit. Petrus wird als Satan bezeichnet gerade in dem Augenblick, in dem er wie ein Zelot einer Leidensankündigung widerspricht (Markus 8, 31-33)!

Zwar ist das spätere Christentum unbestreitbar nicht nur als Religion der Liebe, sondern auch des Hasses aufgetreten. Aber Jesus selbst kann nicht schon als Kronzeuge dafür herangezogen werden, dass Christen meinten, „Kräfte des Bösen“ vernichten zu müssen, die „sich überall identifizieren“ ließen, „waren es nun Heiden, Juden, Ketzer, Hexen. Wir sehen hier das gefahrvolle Potenzial, das entsteht, wenn die tief in uns verankerte Freund-Feind-Psychologie Gottes Segen erhält und der Kampf gegen das angeblich Böse zu einem legitimen Weg erhoben wird, das Himmelreich zu gewinnen.“ (157) Die Feindschaft Jesu und seiner unmittelbaren Nachfolger gegen das Böse wird gerade nicht in Hass und Gewalt ausgelebt, sondern im Erleiden von Repressalien bis hin zum Tod. Dieser Haltung Jesu ist die spätere politisch herrschende Christenheit in erschreckender Weise untreu geworden.

Nur in einer Geschichte finden Schaik/Michel ein Argument dafür, dass Jesus seine Feinde entmenschlichen würde. Im Gespräch mit der kanaanäischen Frau (Markus 7, 24-30) bezeichnet Jesus die Gojim nämlich als „Hunde“ (158). Man kann die Geschichte aber auch als Beleg für die Fähigkeit des Messias lesen, im Blick auf die Gojim umzudenken und ihre Entmenschlichung zu überwinden.

Meiner Überzeugung nach sprechen auch das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37) und die Erzählung vom Vertrauen des römischen Hauptmanns (Matthäus 8, 5-13) dafür, dass Jesus nicht jeder Universalismus fremd geblieben ist, sondern dass er in seiner Nächstenliebe über das Volk Israel hinauszublicken gelernt hat. Das Feindesliebegebot der Bergpredigt dient auf jeden Fall nicht nur der Stärkung der Asabiya nach innen, denn die Aufforderung, „zwei Meilen mitzugehen“, bezieht sich definitiv auf römische Soldaten (Matthäus 6, 41). Schon in der Tora ist ja das Gebot „Liebe deinen Nächsten“ mit dem Gebot verknüpft, den Fremden zu lieben (3. Buch Mose – Levitikus 19, 18.34).

Sieht man genau hin, dann haben letzten Endes beide von Schaik/Michel skizzierten Jesustypen die gleichen Ziele. Durch die „apokalyptische Moral des Jesus von Nazareth“, ein Phänomen der dritten Natur des Menschen, soll ja „die auf Gleichheit und Gerechtigkeit beruhende Jäger-und-Sammler-Welt“ wiederhergestellt werden. „Will man die Welt wieder vom Kopf auf die Füße stellen, müssen die Mismatch-Phänomene Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung genauso zum Verschwinden gebracht werden wie jene mit dem Sesshaftwerden in die Welt geratenen Katastrophen.“ (159) Aber das sind doch gerade die Hauptanliegen der ersten Natur des Menschen!

Am Ende ist also der rigoristische Jesus, der angeblich eine unerbittliche Außenmoral vertritt und auf eine endzeitliche Strafe pocht für das Unkraut unter dem Weizen, für die, die nicht Kinder des Gottesreichs sind – die Römer, die Reichen – (160), doch identisch mit dem barmherzigen Jesus, der für Arme, Kranke und Schwache eintritt! Die Kritik an den Reichen folgt ja daraus, dass Jesus wie der ersten Natur des Menschen „Ausbeutung zuwider ist“ (161).

Im Grunde beschreiben Schaik/Michel den zweiten Jesus, den Jesus als Freund, der mit seinen zwölf Jüngern durchs Land zieht wie aus der Zeit gefallene Jäger und Sammler, ganz ähnlich wie den apokalyptischen. Jesu Kreis ist egalitär, er übt Herrschaftskritik, wäscht seinen Jüngern die Füße, stellt die Asabiya bzw. die fiktive Verwandtschaft derer, die Gottes Willen tun, über Familienbande, stärkt die sozialen Bindungen durch gemeinsames Essen. Dieses soziale Experiment sehen Schaik/Michel als menschheitsgeschichtlich hyperkonservativ. Die patriarchalische Konzentration auf materiellen Besitz statt auf soziale Beziehungen wird überwunden. Frauen wie zum Beispiel Maria Magdalena spielen eine wichtige Rolle für den Jesus als Freund, seine Nähe zu Prostituierten, zur Ehebrecherin, seine Salbung zum Messias durch eine Frau, seine Vision der Aufhebung der Ehe-Institution im Himmel (162).

In meinen Augen geht also die Gegenüberstellung von einem friedlichen Jesus als Freund der Benachteiligten und Beladenen und einem gegen die Feinde Gottes gewaltbereiten apokalyptischen Jesus vollkommen in die Irre. Sicher ist Jesus als Messias der zentrale Akteur in einem Szenario des (von ihm gewaltfrei geführten) apokalyptischen Kampfes gegen böse Mächte, aber er kümmert sich dabei sowohl um das große Ganze als auch um die individuellen Sorgen der Menschen, indem er zum Beispiel einzelne Menschen von den sie quälenden Dämonen der Unfreiheit und der Angst heilt.

Problematisch wird die isolierte Betrachtung des „Jesus als Freund“ durch Schaik/Michel auch insofern, als sie ihn mit seiner Bereitschaft zur Versöhnung und praktisch gelebter Solidarität, auch mit Frauen, die der besten Jäger-und-Sammler-Moral entspricht, als Vertreter des Gottes der Psalmen dem Gott der Tora entgegenstellen (163). Hier bestätigt sich, dass schon die von ihnen behauptete Antithese von Tora und Psalmen im Alten Testament zu kurzschlüssig gewesen ist. Letztes Ziel der Tora ist ja ein befreiender Impuls – auch für den Armen, den Kranken. Und schon in der Tora werden Befreiungsgeschichten vereinzelt auch von Frauen erzählt. Jesus (der ganze Jesus!) baut auf der Synthese von Mose, Propheten und Schriften im TeNaK auf und vereinigt die Ziele von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in seiner Person. Gerade das Gleichnis vom Weltgericht zielt mit seinem unbarmherzigen Gericht über Unbarmherzigkeit auf nichts anderes als Barmherzigkeit (Matthäus 25, 31-46)!

↑ Kapitel 10: Schlaglichter auf die Bedeutung der entstehenden christlichen Kirche

Im zehnten Kapitel geht es um die Rolle des Christentums, das im Römischen Weltreich aus einer verfolgten Minderheit zur triumphierenden und staatstragenden Religion wird. Veerkamp und Schaik/Michel setzen interessante unterschiedliche Akzente bei der Einschätzung der Funktion der Kirche – Veerkamp mehr politisch, Schaik/Michel mehr im Blick auf die Entwicklung einer von der Religion unabhängigen Wissenschaft und auf die Rückkehr zu einer mit den Bedürfnissen der ersten Natur kompatibleren Vielfalt der Frömmigkeit.

↑ 10a: Vom Gesellschaftsmodell „ecclesia und dilectio“ zur Platzzuweisung im Römischen Dominat

Für die Zeit des beginnenden Christentums beschreibt Ton Veerkamp, wie sich die Kirche zentral organisiert, um in der Zeit der Christenverfolgungen Widerstand leisten zu können. Ihr Gesellschaftsmodell von „ecclesia und dilectio“ (Gemeinschaft und gegenseitige Hochachtung) erweist sich als so attraktiv, dass es das überholte römische Gesellschaftsmodell von „familia und pietas“ ablöst (164).

Als das Römische Reich sich zu einem zentralistisch regierten Kaiserreich entwickelt, bietet sich die Kirche an, die Rolle der gesellschaftlichen Platzzuweisung zu übernehmen. Die Sesshaftigkeit des Menschen bekommt noch einmal eine ganz neue Bedeutung, indem niemand den ihm in der Gesellschaft zugewiesenen Platz verlassen darf (165).

Da ein zentral regiertes Kaiserreich als Stütze eine einheitliche Weltkirche braucht, mischt sich der Kaiser in die Dogmenstreitigkeiten der Kirche ein, um eine einheitliche Lehre zu erreichen. Veerkamp lehnt es ab, die sogenannte Konstantinische Wende moralisch zu verurteilen; die Kirche hätte sich der ihr vom Staat zugedachten Aufgabe gar nicht entziehen können (166). Ganz in diesem Sinne trägt Augustin in seinem Werk vom Gottesstaat dazu bei, die Große Erzählung der hebräischen Bibel in eine neue Große Erzählung des Christentums zu verwandeln und die neue staats- und gesellschaftstragende Rolle der Kirche für ihre Mitglieder zu verinnerlichen. Die Impulse der biblischen Großen Erzählung bleiben allerdings in der christlichen Erzählung aufgehoben und werden im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder von sozialen Bewegungen aufgegriffen, um ihre Forderungen zu begründen (167).

Bemerkenswert finde ich, dass nach Veerkamp auch die christliche Große Erzählung, wie sie Augustin konzipiert, politische und nicht nur innerlich-seelische Implikationen hat. Bei Dorothee Sölle stieß ich zufällig auf ein Zitat mit ganz ähnlicher Zielrichtung:

„Die Stadt Gottes ist mehr und anderes als das Land des Paradieses; sie wird nicht durch die Rückwendung, durch die Abkehr von der Bewusstheit, durch die Flucht in die Idylle erreicht.“ (168)

↑ 10b: Dogmatisches System und Wissenschaft

Schaik/Michel legen bei ihrer Analyse einer mächtigen christlichen Kirche den Akzent mehr auf die gewaltigen intellektuellen Anstrengungen, um mit Hilfe der dritten Natur ein möglichst widerspruchsfreies dogmatisches System der christlichen Lehre aufzubauen (169). Das ist notwendig, um mit theologischen Dilemmata fertig zu werden, wie zum Beispiel mit der Frage: „Warum musste Jesus sterben?“ (170)

Nach apokalyptischer Weltsicht musste Jesus die Menschheit beim Teufel loskaufen. Das macht intuitiv Sinn; der Teufel tötet den einzigen Menschen, auf den er kein Anrecht hat, und mit diesem Opfer erlöst er die Menschen, womit Gott seine Liebe beweist. Für die dritte Natur ist das aber primitiv, weil der Teufel kein fast ebenbürtiger Gegengott sein darf. Um den Monotheismus zu retten, muss der Teufel wegretuschiert werden.

Die Theorie des Sühnetodes bereitet vielen Theologen aber ebenfalls Schwierigkeiten. Nach Schaik/Michel stimmt dabei die Opferlogik nicht. Denn Gott kann nicht bei der Menschheit in der Schuld stehen. Er kann auch nicht in Vorleistung treten. Menschen können auch nicht den Sohn Gottes als Opfer töten, um sich bei ihm reinzuwaschen. Aber wenn Jesus sich selbst opfert, gleicht das keine Schuld aus, denn Gott erleidet ja einen Verlust.

Dem entgegne ich: Doch! Genau das ist der Fall: Gott durchbricht in seiner Liebe zu den Menschen die Opferlogik, verzichtet aus Liebe auf Vergeltung und ermöglicht dadurch sowohl Versöhnung als auch Neuanfang. Das gewaltsame Opfer Jesu durch Menschen wird umgedeutet in ein letztes Opfer für Gott. Das scheint der Sinn der vielen Versuche des Neuen Testamentes zu sein, Jesu Tod zu deuten.

Wichtiger jedoch als die Inhalte der dogmatischen Systeme, die die Kirche entwickelt, ist für Schaik/Michel, dass der Kanon der biblischen Schriften im 4. Jahrhundert ein für alle mal festgelegt wird, also nicht in der Lage ist, sich im Lauf der Zeit an weitere Herausforderungen der kulturellen Evolution anzupassen (171).

Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit der dritten Natur des Menschen neben der korrekten Auslegung der Heiligen Schrift mehr und mehr auf die Erforschung des „anderen Buches Gottes“, nämlich der Natur. In diesem Sinne führt die christliche Theologie (zusammen mit dem Rückgriff auf die durch islamische Gelehrte vermittelte antike Naturphilosophie) zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaft als dem Katastrophenbewältigungsmechanismus der Neuzeit. Insofern sind Religion und Wissenschaft enger miteinander verbunden, als ihr Streit vermuten lässt, der erst im 19. bis 20. Jahrhundert scheinbar unversöhnliche Ausmaße annimmt (172).

Für die Kirche heute könnte dieser Streit überwunden sein, wenn sie endgültig damit aufhört, Prinzipien des Glaubens oder der absoluten Wahrheit auf den Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisbildung anzuwenden. Das heißt, ich halte es sogar umgekehrt für einen Akt der gläubigen Demut, die Wissenschaft weder selbst als eine Art „Gott“ absolut zu setzen noch zu versuchen, sie einer kirchlichen Kontrolle zu unterwerfen. Gerade durch den unablässigen Versuch der Falsifikation stellt sie ja ihre Hypothesen und Theorien auf den Prüfstand der global vernetzten Gemeinschaft der Wissenschaftler und wird daher nie zu einem absolut wahren System von ein für allemal gültigen Naturgesetzen. Aber gerade dadurch ist sie in der Lage, sich näher an die Zusammenhänge innerhalb des „zweiten Buches Gottes“ heranzutasten.

10c: Neuer Polytheismus unter christlichem Vorzeichen

Die christliche Kirche ist nach Schaik/Michel aber nicht nur darin stark, dass sie mittels der dritten Natur die Welt intellektuell in den Griff zu bekommen versucht, sondern sie festigt ihre Machtposition auch dadurch, dass sie es versteht, die erste Natur der Menschen zufriedenzustellen. Der Monotheismus hatte ja die Welt entzaubert und das Jenseits von allen anderen Göttern und Geistern zu entvölkern versucht; ganz war das nie gelungen, denn der Gott Zebaoth blieb umschart von Engelmächten und im Buch Hiob durfte sogar Satan eine Rolle im Hofstaat Gottes spielen. In den Evangelien treibt Jesus Dämonen aus; Krankheit wird nicht mehr nur als Strafe Gottes für ein Fehlverhalten verstanden, sondern als ein unschuldiges Leiden unter bösen Mächten. Das kann man als Rückgriff auf uralte Intuitionen der ersten Natur begreifen.

Diese Tendenz, neben dem einen Gott anderen übernatürlichen Mächten einen Platz zuzuweisen, unsichtbar in dieser Welt und im Jenseits, sei es in Himmel oder Hölle, setzt sich im Laufe der Entstehung des Christentums fort. Da das Gottesreich auf Erden ausbleibt, wird die apokalyptische Hoffnung auf Erlösung individualisiert und ganz auf das Jenseits verlagert. Die erste Natur des Menschen darf an Engel und Heilige, Teufel und Dämonen glauben. Lieber als zum allmächtigen Vater beten die Menschen zunächst zu Jesus als dem Gottessohn; und als auch Jesus als Pantokrator mehr und mehr vergöttlicht und in den Himmel gehoben wird, gewinnt die Gottesmutter Maria an Bedeutung für die persönliche Frömmigkeit der Menschen (173).

Als später Luthers Reformation den Götterkosmos der Heiligen wieder abschaffen und Bultmanns Programm der Entmythologisierung die Bibel wieder entzaubern will, behagt das der ersten Natur der Menschen nicht unbedingt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass nach dem Zerbrechen der Einheit der Kirche durch die Reformation und nach dem blutigen Streit um die eine wahre Schriftauslegung eine neue Art von „Polytheismus“ zum Tragen kommt, die der skeptische Philosoph Odo Marquard für notwendig hält. Sie besteht in einer Hermeneutik der Vielfalt im bürgerlichen Zeitalter der Neuzeit, in der Einsicht, dass die Menschen viele Geschichten haben und nur dann im Frieden miteinander leben können, wenn es erlaubt ist, angstfrei anders sein und auch die Bibel verschieden auslegen zu dürfen (174).

Kapitel 11: Die Bedeutung der Bibel heute für Politik und Frömmigkeit

Das elfte Kapitel beschäftigt sich mit der Bedeutung der Bibel für die Gegenwart und die Zukunft. Kann sie noch eine entscheidende Rolle für die Spiritualität moderner Menschen spielen? Enthält sie nach wie vor gültige Maßstäbe, an denen Menschen heute ihr politisches Wollen und Handeln ausrichten können?

Schaik/Michel gestehen der Religion heute allenfalls noch eine Rolle im persönlich-spirituellen Bereich zu. Zur Grundlegung der Menschenrechte und in der Katastrophenbewältigung haben ihnen zufolge längst säkulare Akteure die religiösen Institutionen abgelöst. Aber wenn die Religionen weiterhin die Nächstenliebe als ihre Aufgabe betrachten, beteiligen sie sich immerhin daran, die Jäger-und-Sammler-Mentalität auch unter den Bedingungen der Sesshaftwerdung weiterzuführen (175).

Viele Konzepte der kirchlich-dogmatischen dritten Natur finden bei der Mehrheit moderner Menschen heute keinen Anklang mehr, rufen sogar starken Widerstand hervor. Schon Charles Darwin fühlte sich deswegen vom Christentum abgestoßen, weil nach christlicher Lehre „alle Menschen, die nicht glauben, also mein Vater, mein Bruder und fast alle meine nächsten Freunde, ewig dafür büßen müssen. Und das ist eine verdammenswerte Doktrin.“ (176) Mit einem gewissen Spott reagieren Schaik/Michel darauf, dass heutzutage auch offizielle Kirchenvertreter nicht mehr das Konzept von Teufel und Hölle vertreten, weil es offenbar nicht mehr in die moderne Zeit passt (177).

Es muss aber nicht von vornherein falsch sein, die eigene Religion in einer neuen Zeit noch einmal neu zu überdenken, weil sich Denkweisen geändert haben. Es mag sogar sein, dass in einer Zeit wie der unseren, die Jahrtausende alte Vorurteile zum Beispiel gegenüber Juden abzuwerfen beginnt, die ursprüngliche Lehre der Bibel wieder klarer in ihrer Wahrheit hervortreten kann als in der dazwischen liegenden Tradition. Bei einem solchen Unternehmen sind mir Theologen wie Karl Barth oder Ingolf U. Dalferth eine wertvolle Hilfe. Warum soll es falsch sein, die Antworten der dritten Natur auf den neuesten Stand und in Einklang mit der ersten Natur zu bringen, wie auch ich es mein ganzes Pfarrerleben hindurch versucht habe?

Eins ist jedenfalls klar: Ich stimme Darwin voll zu, dass eine Höllenangst predigende Kirche verwerflich ist. Kirche muss mit der ersten Natur übereinstimmen – und zugleich mit den humanen Anforderungen an eine Menschheit unter den Bedingungen der globalen Vernetzung. Und da ist meine Frage, ob nicht schon durch die Worte der Bibel etwas hindurchschimmert, was zwar der ersten Natur entspricht, aber zugleich auch einer Art globaler Ethik. Mein persönlicher Glaube hält mich dazu an, am Offenbarungscharakter des biblischen Zeugnisses festzuhalten – wobei ich mir bewusst bin, dass das einer Immunisierungsstrategie gegenüber Widerlegung gleichkommt. Das ist unvermeidbar.

Allerdings könnte es auch als CRED verstanden werden, eine „Glaubwürdigkeit stiftende Handlung“, auf Englisch „Credibility Enhancing Display“, die als „Costly-Signal“-Strategie funktioniert: „Damit ein Signal überzeugt, muss es kostspielig sein.“ (178) Ich meine das so: Eigentlich ist es unmöglich, heutzutage noch christlich im Sinne der dritten Natur zu glauben, und es gehört möglicherweise ein besonderes intellektuelles Opfer dazu, es zu tun. Allerdings nicht als Opfer des Verstandes, sondern im Gegenteil, als Anstrengung des Verstandes, redlich mit den Zeugnissen der Bibel umzugehen und sie als Ausdruck des Wunders zu begreifen, dass der unverfügbare NAME, der sich in ihnen offenbart, uns mit seiner Liebe ansteckt und uns in seine Geschichte von Befreiung und Rechtschaffung mit hineinnimmt.

Im Unterschied zu Schaik/Michel sehe ich in religiösen Traditionen auch Impulse, die – ausgehend von einer Binnenethik der ersten Natur – die Verantwortung und Solidarität auch mit den Fremden, den Fernen, der globalen Menschheitsfamilie in den Blick nehmen, zum Beispiel in der Völkertafel der Genesis und im christlichen Missionsbefehl. Dabei würde der Missionsbegriff allerdings völlig missverstanden, wenn er im Sinne einer Nötigung einzelner Menschen zum Glauben oder der Unterwerfung ganzer Völker unter die Herrschaft der christlichen Kirche interpretiert würde. Im Sinne von Veerkamp zielt ja die Aussendung der Apostel durch den auferstandenen Messias nach Matthäus 28 auf die Schulung der Völker in der Tora der Freiheit und Gerechtigkeit des biblischen NAMENS und nicht auf eine Christianisierung der Welt (179).

Allerdings beurteilt auch Veerkamp die Frage zurückhaltend, ob der in seinem Sinn verstandene Kern der biblischen Botschaft unter den Bedingungen der Herrschaft des „Gottes der Liberalen“ überhaupt noch Gehör finden kann bzw. ob die Kirche auf die Große Erzählung der Bibel als ihr Erbe politisch relevanter Verkündigung zurückgreifen will, das sie seit fast zwei Jahrtausenden zwar in verfremdeter Form, aber immerhin doch aufbewahrt hat (180).

Sollte diese Zurückhaltung vielleicht gerade darin begründet sein, dass er den NAMEN nicht als konkretes, wenn auch gestaltloses und in keiner Weise verfügbares göttliches Gegenüber begreifen kann oder will, dem wir uns als Christen im Wagnis eines auch persönlichen Glaubens anvertrauen dürfen? Immerhin sagt er selbst: „Kenntnis der Welt allein ist ein trostloses Geschäft. Erst die Große Erzählung in beiden Testamenten sagt mir, dass die Welt bewohnbar sein muss und kann … und wird!“ (181)

Getragen von Gott in der Allmacht seiner Liebe, von dem wir zu allen Zeiten Wunder der Befreiung und Aufrichtung aus Unterdrückung und Demütigung erwarten dürfen, ist es grundsätzlich möglich, auf die Kraft der politischen Botschaft der Bibel zurückzugreifen und sie neu zum Klingen zu bringen – auch in einer Zeit, in der die Gesellschaft im Zeichen des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus (mit der Kehrseite des wachsenden Nationalismus, religiösen Extremismus und Populismus) immer mehr zerfällt.

Dabei denke ich, dass wir als politische Kirche auch von Odo Marquard zu lernen haben, der uns mahnt, skeptisch zu bleiben gegenüber jeder totalitär vertretenen Weltanschauung mit absoluten Wahrheitsanspruch, und sei sie eine noch so faszinierende Große Erzählung, und dankbar die Segnungen der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem Freiheit schaffenden Determinantengedrängel der verschiedenen Geschichten anzunehmen (182). Wie kostbar und zerbrechlich die Errungenschaften freiheitlicher Demokratie auch heute noch sind, zeigt überdeutlich der gegenwärtige Aufschwung von Bewegungen, die „angstfreies Andersseindürfen für alle“ massiv in Frage stellen (183).

Im Übrigen lese ich auch bei Ton Veerkamp in einem anderen Buch den Satz: „Es gibt natürlich keine Geschichte, erst recht keine Heilsgeschichte, weder eine christliche noch eine leninistische. Geschichte war von jeher eine Luftnummer des deutschen Idealismus.“ (184) Diesen Satz hätte Odo Marquard vermutlich vollinhaltlich unterschrieben.

Und wiederum zugleich möchte ich mit Veerkamp auf die nach wie vor nicht eingelösten Mahnungen der Tora hören, um auch für die Ausgegrenzten der Weltgesellschaft abseits der Segnungen der bürgerlichen Gesellschaft Freiheit und Gerechtigkeit zu schaffen, das heißt „einen gesellschaftlichen Ort“, in dem sie wohnen und sesshaft sein können (185).

Mit diesen Stichworten schließe ich den Kreis zum ersten Kapitel. Doch es ist offensichtlich, dass nicht nur viele Fragen keine eindeutige Antwort gefunden haben, sondern auch beantwortete Fragen ohne konsequentes Handeln im Sinne dieser guten Antworten in der Luft hängen bleiben müssen.

↑ Anmerkungen

(1) Alle Zitate aus dem Internet in dieser Arbeit entsprechen dem Stand vom 14. 10. 2018.

(2) Ibn Khaldūn, Die Muqaddima. Betrachtungen zur Weltgeschichte, München 2011. Das Werk entstand ursprünglich im Jahr 1377 und wird im Kapitel 4 dieses Textes noch eine Rolle spielen.

(3) So hatte ich seine Worte vom eigenen Hören her in der Erinnerung. Der genaue Wortlaut ist hier nachzulesen: Predigt von Propst Matthias Schmidt zum Reformationstag 2017.

(4) Zitiert nach dem Artikel „Blick nach vorne“ im Gießener Anzeiger vom 1. 11. 2017.

(5) Siehe der Artikel „Klare Absage an ‚Herumgeeiere‘“ im Gießener Anzeiger vom 1. 11. 2017.

(6) Ich zitiere das Buch in diesem Text abgekürzt unter dem Stichwort „Schaik/Michel“ nach der 4. Auflage © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel „The Good Book of Human Nature. An Evolutionary Reading of the Bible“ bei Basic Books, New York.

(7) © Institut für Kritische Theologie Berlin e. V. Ich zitiere das Buch unter dem Stichwort „Veerkamp“ nach der in Berlin erschienenen Ausgabe © Argument Verlag 2013.

(8) Schaik/Michel, S. 472f.: „Dadurch…, dass die Arbeit an der Bibel eingestellt worden war, entstand eine Lücke zwischen Welt und Heiliger Schrift. Diejenigen, die sich der Erforschung des Buchs der Natur verschrieben hatten, kamen immer besser ohne Gott aus. Spätestens im 19. Jahrhundert war der Riss zu groß, die Wissenschaften emanzipierten sich ganz und gar von Gott. Die Arbeit am kulturellen Schutzsystem ging immer mehr auf sie und andere säkulare Institutionen über. … Die Religion hat ihre Mission erfüllt, die Funktionsweise der Welt zu erklären, indem sie selbst bessere Instrumente für diese Aufgabe geschaffen hat.“

(9) „Der Gott der Liberalen“, ein weiterer Buchtitel von Ton Veerkamp mit dem Untertitel „Eine Kritik des Liberalismus“, Hamburg 2005, kommt zwar ausdrücklich in „Die Welt anders“ nicht vor, aber doch dem Sinn nach, Veerkamp, S. 14: „Eine Gesellschaft, die die menschlichen Beziehungen nur als Beziehungen zwischen konkurrierenden Individuen sehen kann und für die Freiheit im Wesentlichen Freiheit zur Anhäufung privaten Reichtums ist, hat keine Große Erzählung. Die so entstehende Gesellschaft der Freiheit des Geschäfts ohne Grenzen bietet den Menschen keinen Wohnort mehr, sie macht sie unbehaust.“

(10) Veerkamp, S. 416: „Die Frage Gibt es ein höchstes Wesen ‚Gott‘? ist absurd, weil es auf sie keine falsifizierbare Antwort gibt und weil alle Indizien, die auf seine Existenz hinweisen könnten, auch anders und genauso sinnvoll gedeutet werden können.“

(11) Schaik/Michel, S. 474: „Es haben jene Gemeinden und spirituellen Angebote Zulauf, die der ersten Natur viel zu bieten haben. Die Menschen finden dort ihr Glück, wo sie das Gefühl haben, von einer höheren Macht Schutz und Geborgenheit geschenkt zu bekommen.“

(12) Schaik/Michel, S. 246f.: „In Anlehnung an den Philosophen Karl Popper (1902-1994) nennen wir solche Strategien, die Gott über jeden Zweifel erheben und ihn gegen alle Widerlegungsversuche wappnen sollten, „lmmunization against Refutation“ (IAR) also „lmmunisierung gegen Widerlegung“.

(13) Schaik/Michel, S. 476.

(14) Schaik/Michel, S. 466.

(15) Veerkamp, S. 50. In dem Interview „Die Vision einer anderen Welt“ mit Klara Butting in der Zeitschrift Junge.Kirche 2/2012 konnte Ton Veerkamp sich allerdings auch etwas zurückhaltender ausdrücken (S. 35): „Der NAME hat sich in der Tora ausgesprochen. Das bedeutet nicht, dass der NAME mit der Tora identisch ist. Ich will den NAMEN gerade nicht auf eine Vorstellung festlegen, sondern offen lassen. Ob sich ein Wesen in dem NAMEN Gottes verbirgt, und was für ein Wesen, ich weiß es nicht. Das Wesen Gottes, die Essentia Dei, kann man nicht ‚sehen‘. Erst im Himmel wird einem diese seligmachende Sicht gewährt – sagt Thomas von Aquin. Ich warte es ab.“

(16) Veerkamp, S. 48: „Es stand immer Wort gegen Wort. In der Großen Erzählung wird keine akademische Diskussion über die ‚wahre Religion‘ geführt, nicht um den hehren Monotheismus gegen den angeblich verwerflichen Polytheismus gestritten, sondern ein Kampf um die gesellschaftliche Grundordnung ausgetragen, also um ‚Gott‘. Wo die Gesellschaftsordnung als solche umstritten ist, also ‚Gott‘ auf dem Spiel steht, droht immer Bürgerkrieg.“

(17) So besonders pointiert in einem anderen seiner Bücher, nämlich Ton Veerkamp, Der Gott der Liberalen, Hamburg 2005, S. 131: „Die neue Weltreligion ist die vorbehaltlose Unterwerfung unter die Gesetze des Marktes.“

(18) Veerkamp, S. 422: „Aus Großen Erzählungen wurden in den religiösen Anstalten des modernen abendländischen Bürgertums zwar Große Lügen, aber die Sehnsucht nach einem neuen Leben auf der Erde und vor dem Tod wurde durch die Lügen nie ganz erstickt.“

(19) Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner.

(20) Schaik/Michel, S. 466: „Um zu zeigen, wie in Sachen Religion die drei Naturen zusammenhängen, bietet sich Max Webers Begriff des ‚religiös musikalischen Menschen‘ an.“ Trotzdem bleibt es mir ein „Herzensanliegen, gerade auch religiös ‚unmusikalische‘ Menschen auf die befreienden und sinngebenden Impulse der biblischen Botschaft anzusprechen“, wie ich es in meiner Arbeit „Geschichten teilen“ formuliert habe.

(21) Hoimar von Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, München 1984, S. 274: „Das Gehirn erzeugt den Geist nicht, der vermittels dieses Organs in unserem Bewußtsein aufgetaucht ist. Das Psychische, der Tatbestand des Seelischen, der sich aus den Gesetzen unserer materiellen Wirklichkeit auf keinerlei Weise ableiten läßt, könnte dadurch zustande kommen, daß die Evolution es fertiggebracht hat, unser Gehirn auf einen Entwicklungsstand zu bringen, der in ihm einen ersten Reflex des Geistes einer jenseitigen Wirklichkeit entstehen läßt.“

(22) Nicht durch Atom Egoyans Spielfilm mit diesem Titel habe ich mich zu dieser Formulierung inspirieren lassen, sondern durch das „Lügen für Kinder“-Phänomen, das Terry Pratchett, Ian Stewart und Jack Cohen in dem Buch „Die Gelehrten der Scheibenwelt“, München 2000, S. 52, so erklären: „Eine Lüge-für-Kinder ist eine Behauptung, die falsch ist, aber trotzdem das Denken des Kindes zu einer richtigeren Erklärung hinführt, zu einer Erklärung, die das Kind nur dann zu schätzen weiß, wenn es zunächst mit einer Lüge vorbereitet worden ist.“ Auf S. 54 (im Text der Anmerkung) weiten sie diesen Begriff auch auf Erwachsene aus: „Als Menschen haben wir eine Menge nützlicher Arten von Lügen erfunden. Wie Lügen-für-Kinder (‚soviel sie verstehen können‘) gibt es Lügen-für-Chefs (‚soviel sie wissen sollten‘), Lügen-für-Patienten (‚was sie nicht wissen, wird ihnen keine Sorgen bereiten‘) und aus allen möglichen Gründen Lügen-für-unsselbst.“ Vgl. auch dieses Interview mit Terry Pratchett.

(23) Zum Beispiel in meiner Examensarbeit „Das Evangelium als Kriterium einer Theorie kirchlicher Praxis in der Gesellschaft“.

(24) Der Text des Gottesdienstes ist hier zu finden: „Angst durch Mut überwinden“.

(25) Allerdings fiel mir am diesjährigen Tag der Deutschen Einheit vor elf Tagen, als ich mich von sehr anregenden und bereichernden Gesprächen in zwei Gießener Moscheen auf den Weg nach Hause machte, ein Plakat auf, das zur hessischen Landtagswahl mit dem Slogan warb: „Glauben und Heimat schützen. Russlanddeutsche wählen AfD“. Ich weiß, das viele Russlanddeutsche, die in Russland als „Deutsche“ beschimpft wurden, aber ihre Muttersprache in der Öffentlichkeit nicht sprechen durften, nun hier in Deutschland darunter leiden, dass man sie als „Russen“ einordnet. Manche, die sich vorstellten, sie kämen nach ihrer Aussiedlung in ihre „rein deutsche Heimat“ zurück, fühlen sich in einem inzwischen so „bunten“ Deutschland in seiner ethnischen und kulturellen Vielfalt nicht wohl. Wer so empfindet, ist möglicherweise anfällig für die Parolen einer Partei, die den angestammten Glauben und das, was man auf sehr enge Weise als „deutsche Heimat“ definiert, gegen alles Fremde verteidigen will. Ich kenne aber auch Aussiedler aus Russland, die es nicht verstehen, dass man auf Grund von Erfahrungen eigener Ausgrenzung nun selber Menschen mit Vorurteilen begegnet, die anders sind.

(26) Ton Veerkamp und Peter Winzeler, Was verstehen wir unter „Gemeinde Jesu Christi“? Entwurf zu einem verbindlichen Kommentar zur Präambel zur Satzung der Evangelischen Studentengemeinden in der BRD und Berlin (West), S. 15. In: ESG/KSG Göttingen, Alternatives Christsein, Dokumente, Materialien, Diskussionsbeiträge, Heft 6, Göttingen 1975, S. 14-19.

(27) Ton Veerkamp, Die Vernichtung des Baal. Auslegung der Königsbücher (1.17 – 2.11), Stuttgart 1983.

(28) Ton Veerkamp, Autonomie und Egalität. Ökonomie, Politik und Ideologie in der Schrift, Berlin 1993.

(29) Veerkamp, S. 73, Anm. 37: „Die deutsche Bibelübersetzung ‚in gerechter Sprache‘ kehrt die – eigentlich verbotene – männliche Vorstellung unter den Teppich. Das ist zwar politisch korrekt, umschifft elegant das eigentliche Problem, die essenzialistische Vorstellung Gottes als männlichem ‚Wesen‘. Die ‚ungerechte‘ Übersetzung wirkt anstößig und bietet die Gelegenheit, bei den Leserinnen und Lesern die essenzialistische Gottesvorstellung überhaupt zu problematisieren.“

(30) Schaik/Michel, S. 29.

(31) Schaik/Michel, S. 102f. und 112f.

(32) Schaik/Michel, S. 12ff.

(33) Schaik/Michel, S. 25: „Anders als eine rein historische Betrachtung bettet unsere Bibelanthropologie den Menschen in das große evolutionäre Weltgeschehen ein. Wir sehen ihn als biologisches Wesen, als Tier, das sich von seiner Primatenverwandtschaft wie den Schimpansen dadurch unterscheidet, dass es die Fähigkeit zur kumulativen kulturellen Evolution besitzt: Der Mensch ist nicht bloß in der Lage, Erfindungen hervorzubringen und sie weiterzugeben; er entwickelt sie über Generationen fort, kombiniert sie mit anderen und baut sie zu immer elaborierteren Systemen aus.“

(34) Schaik/Michel, S. 29f.

(35) Schaik/Michel, S. 30f.

(36) Veerkamp, S. 13f.

(37) Daher legt Veerkamp die Bibel im Kontext ausführlicher Analysen des politischen und wirtschaftlichen Hintergrunds der jeweiligen Bibeltexte aus, von der „Differenz zwischen Hellas und Israel“ (S. 15ff.) über die Umwälzungen im Hellenismus (S. 168ff.) bis hin zum Judäischen Krieg (S. 291ff.) und der Krise des Römischen Reiches (S. 363ff.). Er selbst sagt zu seiner Lektüre der Bibel am Ende eines Gesprächs mit Klara Butting in der Zeitschrift Junge.Kirche 2/2012, S. 40: „Wir lesen die Schrift in unserer Gesellschaft. Eine Bedingung für eine ernsthafte Lektüre ist gründliche Kenntnis der Welt, in der wir leben. Für mich gehört die politische Ökonomie wesentlich dazu. Deswegen gibt es in meinem Buch lange Passagen über die politische Ökonomie des Hellenismus und des Römischen Reiches. Aber Kenntnis der Welt allein ist ein trostloses Geschäft. Erst die Große Erzählung in beiden Testamenten sagt mir, dass die Welt bewohnbar sein muss und kann … und wird!“

(38) Schaik/Michel, S. 63ff.

(39) Schaik/Michel, S. 68f. und 78ff.

(40) Schaik/Michel, S. 104ff. und 114ff.

(41) Schaik/Michel, S. 120ff.

(42) Schaik/Michel, S. 214ff. und 267f.

(43) Schaik/Michel, S. 136f. und 268f.

(44) Schaik/Michel, S. 88ff. Abgesehen davon sind die biblischen Geschlechtsregister auch mit theologischer Bedeutsamkeit aufgeladen, vgl. zum Beispiel meine Predigten „Stammbaum des Todes und des Lebens“ und „Männer und Frauen im Stammbaum Jesu“.

(45) Schaik/Michel, S. 214ff.

(46) Veerkamp, S. 41, 56, 110f.

(47) Veerkamp, S. 66 und 42. Schaik/Michel, S. 217f. und 232ff.

(48) Veerkamp, S. 60ff.

(49) Schaik/Michel, S. 217f.

(50) Schaik/Michel, S. 220ff. und 165.

(51) Schaik/Michel, S. 223f.

(52) Veerkamp, S. 64ff.

(53) Veerkamp, S. 67 und 31.

(54) Veerkamp, S. 56ff.

(55) Veerkamp, S. 96. Schaik/Michel, S. 253f.

(56) Veerkamp, S. 33ff.

(57) Veerkamp, S. 67f.

(58) Veerkamp, S. 117f.

(59) Veerkamp, S. 50f.

(60) Martin Luther, Großer Katechismus, Auslegung des ersten Gebots, Bekenntnisschriften der evang.-lutherischen Kirche (BSLK) 560,22-24.

(61) Veerkamp, S. 50.

(62) Schaik/Michel, S. 93.

(63) Veerkamp, S. 90.

(64) Schaik/Michel, S. 167ff.

(65) Schaik/Michel, S. 182ff.

(66) Schaik/Michel, S. 185ff.

(67) Schaik/Michel, S. 57f.

(68) Schaik/Michel, S. 172f. und 178f.

(69) Schaik/Michel, S. 86f.

(70) Schaik/Michel, S. 63.

(71) Von dem hebräischen Wort melakha = „Arbeit“ in Genesis 2, 2 ist das Wort „Maloche“ auf dem Weg über das Jiddische abgeleitet.

(72) Schaik/Michel, S. 93.

(73) Schaik/Michel, S. 46 und 68. Veerkamp, S. 281f.

(74) Schaik/Michel, S. 419ff. und 232ff.

(75) Ibn Khaldūn, Die Muqaddima. Betrachtungen zur Weltgeschichte, München 2011, S. 146ff., 179ff. und 335ff.

(76) Schaik/Michel, S. 272ff. und 177f.

(77) Veerkamp, S. 285f., 165, 89f.

(78) Schaik/Michel, S. 88ff.

(79) Veerkamp, S. 104.

(80) Veerkamp, S. 125ff.

(81) Schaik/Michel, S. 177ff., 408ff. und 174.

(82) Schaik/Michel, S. 231 und 236ff.

(83) Schaik/Michel, S. 232ff.

(84) Veerkamp, S. 146 und 73.

(85) Veerkamp, S. 119ff.

(86) Schaik/Michel, S. 242ff.

(87) Schaik/Michel, S. 291ff.

(88) Veerkamp, S. 60ff. und 106ff.

(89) Veerkamp, S. 49.

(90) Veerkamp, S. 48.

(91) Veerkamp, S. 125ff.

(92) Veerkamp, S. 115f., S. 124 und S. 20.

(93) Veerkamp, S. 106ff. und inbesondere S. 165ff.

(94) Veerkamp, S. 142ff.

(95) Veerkamp, S. 144.

(96) Er steht (Veerkamp, S. 245) am Ende seiner Besprechung der ersten Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, worin für Veerkamp eine transkulturelle Höchstleistung bestand. In diesem Zusammenhang betont er aber auch, dass es gefährlich sein kann, einfach eine Bibelübersetzung in der eigenen Sprache und mit den Hör- und Verstehensgewohnheiten der eigenen Kultur zu lesen. „Es dürfte klar sein, dass ‚transkulturelle‘ Anstrengungen niemals das Ganze einer Kultur in das Ganze einer anderen Kultur übertragen können. Jede Übersetzung von Texten im weitesten Sinne des Wortes ist allenfalls Annäherung. Die Kultur, die man über-setzen möchte, bleibt für Menschen einer anderen Kultur letztlich fremd. Die Lektüre alter Texte – und jede Lektüre ist Übersetzung – erfordert nicht nur harte transkulturelle Arbeit, sondern auch die Demut, zu akzeptieren, dass man sie letztlich nicht ganz versteht. Wir ahnen etwas oder vielleicht vieles, aber in ihrer Totalität verstehen – sie uns zu eigen machen – können wir eine fremde Kultur nie ganz. Wir bleiben immer Grenzgänger. Man kann daher die Bibel nicht ohne weiteres den Menschen in der naiven Hoffnung aushändigen, dass sie verstehen, was sie da lesen. Aus der hilflosen Lektüre entsteht meistens frömmelnder, fundamentalistischer und zuweilen lebensgefährlicher Unsinn. Man kann allenfalls helfen, jene Empathie für die andere Kultur, aber vor allem jene Demut bzgl. der Grenzen des Verstehens zu entwickeln. Der TeNaK, übersetzt oder nicht, gehört ins Lehrhaus.“

(97) „Die Menschen entgehen der Anklage wegen der vorhandenen Übel, indem sie zur Avantgarde werden, denn diese – stets schneller als die Anklage – entkommt dem Tribunal, indem sie es wird: nämlich durch Flucht in das Anklagen (der Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein), die eine immer schnellere Flucht nach vorn ist.“ Das Zitat steht auf S. 63 in folgendem Vortrag: Odo Marquard, Universalgeschichte und Multiversalgeschichte. (Vortrag im Studium Generale der Universität Freiburg i. Br. am 28. April 1982.) – In: Saeculum. Zeitschrift für Universalgeschichte 33 (1982) [ersch. 1983] S. 106-115. Wiederabgedruckt in: Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 54-75.

(98) Besonders aufschlussreich waren für mich: Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Band I. Die Wahrheit der Formen. Traum, Mythos, Märchen, Sage und Legende, sowie Band II. Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Vision, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis, beide Bände Olten und Freiburg im Breisgau 1991.

(99) Hier kann man in die Werke Odo Marquards hineinschnuppern.

(100) Veerkamp, S. 67: „Der NAME ist der Gott bzw. die gesellschaftliche Grundordnung wird nicht despotisch über die Gesellschaftsmitglieder verfügen wie der Besitzergatte, der seine Frau als sachlichen Besitz sieht, nein, die Gesellschaftsordnung, die dann sein wird, wird man lieben können, wie der liebende Mann die geliebte Frau.“

(101) Auf die Frage, ob er diesen Staat denn nicht liebe, antwortete Bundespräsident Heinemann: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!“ Zitiert von Hermann Schreiber in DER SPIEGEL, 13. Januar 1969.

(102) Interessant finde ich, dass Veerkamp, S. 74, abstreitet, einen Monarchen lieben zu können: „Das ‚Höre Israel‘ von Dt 6.4f verlangt ‚Liebe‘. Einen Monarchen, gar einen absoluten Monarchen, kann man nicht lieben, man fürchtet ihn. Mit der Metapher ‚Liebe‘ versucht der TeNaK die mit der geforderten rückhaltlosen Gefolgschaft ‚Gottes‘ verbundene Vorstellung des himmlischen Tyrannen zu unterlaufen.“ Ich finde allerdings, dass man einem Monarchen, dem man uneingeschränkt vertrauen kann, eher Liebe entgegenbringen kann als einem unpersönlichen Prinzip oder einer reinen Funktion.

(103) „Nur Stimme“, so trat nach Veerkamp, S. 51, der NAME den Israeliten am Berg Sinai gegenüber, als er ihnen die Zehn Worte verkündigte (5. Buch Mose – Deuteronomium 4, 12).

(104) Veerkamp, S. 126 (Anm. 80), S. 138, S. 199 (Anm. 136), S. 402 (Anm. 294). Auf S. 215f. spürt man allerdings auch einen deutlichen Vorbehalt gegenüber Barths Lobpreis des Weisheitsliedes Hiob 28, das Veerkamp als Ausdruck hellenistischer Ideologie beurteilt (siehe auch Kapitel 7c, Anm. 127).

(105) Schaik/Michel, S. 320ff.

(106) Schaik/Michel, S. 331f.

(107) Veerkamp, S. 194ff.

(108) Veerkamp, S. 194. In dem Gespräch „Die Vision einer anderen Welt“, das Klara Butting in der Zeitschrift Junge.Kirche 2/2012 mit Ton Veerkamp führte, sagt er (S. 35): „Ich habe keine Probleme mit Leuten, die beten, aber ich bete selber nicht.“ Auf ihre Frage „Warum betest du nicht?“ antwortet er (S. 38f.): „Weil keine Antwort kommt. In ganz früher Zeit, als ich bei den Jesuiten war, war Mystik ein Thema. Ich habe die großen Mystiker gelesen, Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz und die niederländische Mystikerin Hadewijch. Alle reden über die schwarze Nacht, wo nichts mehr ist, keine Antwort, nichts, gar nichts. Die Mystik ist keine Idylle. Die mystische Erfahrung ist ohne die schwarze Nacht nicht zu haben. Das ist das eine. Das andere ist: Dieses Sich-eins-Wissen mit Gott ist nicht jedem Menschen gegeben. Es gibt Menschen, die ein so intimes, erotisches Buch wie das Hohelied voll und ganz auf ihre Beziehung zu Gott oder zu Jesus Christus anwenden können. So etwas ist mir nicht gegeben. Ich kann auch nicht sagen: Ich will es haben. Das funktioniert nicht. Entweder ist es da, oder es ist nicht da. Bei mir ist es nicht da. Ich versuche zu tun, was gesagt wird. Dann gibt es sehr viel, worüber ich mich schämen muss, weil ich es eben nicht getan habe. Aber das Tun ist uns allen gegeben!“

(109) Veerkamp, S 209, Anm. 145, zu Psalm 10, 1: „Hier steht der Gottesname, den wir nicht aussprechen, sondern mit der Vokabel NAME andeuten. In der direkten Anrede geht das kaum: ‚Warum, NAME, stehst du da …‘ Wir schreiben das emphatische Pronomen DU.“

(110) Nach Veerkamp, S. 194, „sind die Bemühungen der historischen Kritik in allen ihren Formen (Traditionsgeschichte, Religionsgeschichte, Literaturgeschichte) und ihres legitimen Kindes, der sozialgeschichtlichen Lektüre, keine vergebliche Mühe. Sie können bei der Ermittlung der strukturellen Eigenart des jeweiligen Liedes hilfreich sein. Wer aber die Einbettung der einzelnen Lieder im Gesamtbuch der ‚Preisungen‘ (Tehilim), wie das Buch bei den Juden heißt, und die Einbettung des Psalmenbuches im TeNaK nicht als die Grundorientierung der Auslegung nimmt, kann hin und wieder zwar wissenswerte Neuigkeiten erfahren, verfehlt aber den Sinn der Lieder.“

(111) Jürgen Ebach, Streiten mit Gott. Hiob. Teil 2: Hiob 21-42, Neukirchen-Vluyn 2. Auflage 2005 (weiterhin zitiert als Ebach 2), S. 30: „Die kritischen Exegeten haben die Bibeltexte nur verschieden verändert, es kömmt drauf an, sie zu interpretieren.“

(112) Schaik/Michel, S. 341.

(113) Schaik/Michel, S. 342ff.

(114) Schaik/Michel, S. 347.

(115) Schaik/Michel, S. 349.

(116) Schaik/Michel, S. 344.

(117) Veerkamp, S. 199ff.

(118) Zu dieser Übersetzung schreibt Veerkamp selbst in seiner Anmerkung 140: „‘em‘es wird meistens mit ‚ich verwerfe‘, nichamti mit ‚ich bereue‘ übersetzt. Aber wie kann Ijjob all das verwerfen, was er gesagt hat, und bereuen, dass er dem Gott vorwirft, er habe sich bis zur Unkenntlichkeit verwandelt? Beide Verben haben eine breite Bedeutungspalette. Außerdem werden sie hier ohne Objekt gebraucht. Es wird also nicht gesagt, dass Ijjob ‚verwirft‘ bzw. ‚bedauert‘, was er gesagt hat. Der Dichter lässt also bewusst Raum für unsere Übersetzung. Deswegen bleiben wir dabei.“

(119) Veerkamp, S. 203f.

(120) Veerkamp, S. 212.

(121) Jürgen Ebach, Streiten mit Gott. Hiob. Teil 1: Hiob 1-20, Neukirchen-Vluyn 22004 (weiterhin zitiert als Ebach 1), S. 58f.

(122) Ebach 1, S. 76.

(123) Ebach 1, S. 114.

(124) Ebach 1, S. 116.

(125) Ebach 1, S. 119f.

(126) Ebach 2, S. 36.

(127) Dieser kosmologischen Sichtweise verweigert sich Veerkamp, S. 215f., in seinen Vorbehalten gegenüber diesem Weisheitslied, das er als Ausdruck hellenistischer Ideologie interpretiert (siehe auch seine Vorbehalte gegenüber Karl Barths Auslegung, auf die ich in Kapitel 5c, Anm. 104, eingehe), und deutlicher noch in seiner Kritik an den Reden Elihus (S. 210ff.) und den Gottesreden, die er als „Einbruch der hellenistischen Weltauffassung in das Buch Hiob“ (S. 212) beurteilt.

(128) Ebach 2, S. 61f.

(129) Ebach 2, S. 126.

(130) Ebach 2, S. 138f.

(131) Ebach 2, S. 147.

(132) Ebach 2, S. 148.

(133) Ebach 2, S. 152f.

(134) Ebach 2, S. 155.

(135) Ebenda.

(136) Ebach 2, S. 159f.

(137) Ebach 2, S. 163f.

(138) Veerkamp, S. 222ff.

(139) Von Gerhard Jankowski ist in der Zeitschrift „Texte & Kontexte“ eine Vielzahl von Auslegungen der Paulusbriefe erschienen.

(140) Veerkamp, S. 253ff.

(141) Schaik/Michel, S. 384ff. und 426ff.

(142) Marcel Simon, Verus Israel. A study of the relations between Christians and Jews in the Roman Empire (135-425), Translated from the French: H. McKeating, Oxford 1986, S. 133 (von mir, Helmut Schütz, ins Deutsche übersetzt): „Vom Anfang der Kirche an, und sicher seit der Zeit, als Paulus sie ihrer eigenen Unabhängigkeit bewusst machte, stand sie im Konflikt mit dem Judentum. Der Kampf von Anfang an ist ein Kampf zwischen zwei unterschiedenen Religionen, und die engen Bindungen, die zwischen ihnen existierten, machten ihre gegenseitige Feindseligkeit nur um so unversöhnlicher.“

(143) Larry W. Hurtado, Lord Jesus Christ: devotion to Jesus in earliest Christianity, Grand Rapids, Michigan 2005, S. 134f. (von mir, Helmut Schütz, ins Deutsche übersetzt): „Jesus wurde ein eindrucksvoller, in der Tat außerordentlicher Platz in der paulinischen Christenheit gegeben. Die Funktionen von Gott und Jesus überlappen sich auf bedeutsame Weise, sogar in der verehrenden Rhetorik, die sich auf beide bezieht. Das ist um so phänomenaler, wenn wir bemerken, dass das alles in den 50er Jahren schon gut entwickelt war und von Paulus für gegeben angenommen werden konnte. Es gibt kaum irgendeinen Hinweis auf eine Kontroverse über diesen herausragenden Platz für Jesus unter den verschiedenen anderen christlichen Kreisen, mit denen er bekannt war. Im frühesten Stadium der christlichen Bewegung muss es einen regelrechten ‚Urknall‘, eine explosiv schnelle und beeindruckende substantielle christologische Entwicklung gegeben haben. … Über die Beziehung von Gott und Christus wurde in den nächsten Jahrhunderten noch viel gestritten, aber Jesus wurde schon früh in verschiedenen christlichen Kreisen als göttlich behandelt. … Noch bemerkenswerter ist, dass es schon genauso früh ein ‚binitarisches Muster‘ der Verehrung und der Anbetung gab, in dem Christus als Empfänger der Verehrung mit Gott behandelt wird und auf Arten und Weisen, die nur mit der Anbetung einer Gottheit verglichen werden können.“

(144) Veerkamp, S. 256: „Die Auseinandersetzung mit der herrschenden Weltordnung kann nicht mit den Mitteln dieser Weltordnung ausgetragen werden. Der Gekreuzigte siegt durch die Auferstehung über das Weltsystem des Römischen Reiches und alle militärischen Gegenstrategien sind zum Scheitern verurteilt. Wir, Skeptiker des 21. Jahrhunderts, mögen hier mit Stirnrunzeln reagieren, aber dies war die irdisch-politische Hoffnung des Paulus. Deswegen steht das Kreuz in dieser Form des Messianismus absolut zentral.“

(145) Von Andreas Bedenbender sind in der Zeitschrift „Texte & Kontexte“ viele Auslegungen des Markusevangeliums erschienen.

(146) Veerkamp, S. 317ff.

(147) Veerkamp, S. 322ff.

(148) Veerkamp, S. 326ff.

(149) Veerkamp, S. 330ff.

(150) Schaik/Michel, S. 403ff. und 415ff.

(151) Schaik/Michel, S. 391: „Auch im Fall Jesu spielten Katastrophen die Hauptrolle. Wir werden sehen, dass der programmatische Anspruch des Vaterunsers, das Jesus seinen Anhängern zum Beten gab – ‚erlöse uns von dem Bösen‘ -, in letzter Konsequenz nichts anderes bedeutet als: Erlöse uns von allem Unheil! Erlöse uns von den Katastrophen!“

(152) Schaik/Michel, S. 408 und 405.

(153) Schaik/Michel, S. 424.

(154) Schaik/Michel, S. 409, 424 und 403.

(155) Reza Aslan, Zelot. Jesus von Nazaret und seine Zeit, Reinbek 2013.

(156) Schaik/Michel, S. 400: „Ein Gedanke drängt sich auf: Unter römischer Herrschaft das Reich Gottes zu propagieren: Was kann das anderes sein als Rebellion? Und ist Jesus nicht von den Römern als Aufrührer auf Golgatha hingerichtet worden…? War also Jesus ein Zelot? Einer der ‚Eiferer‘, die hofften, durch ihren gewalttätigen Kampf gegen Rom Gott zum Einschreiten zu provozieren? Zweifelsohne gab es Berührungspunkte. Simon, einer der zwölf Jünger, trug den Beinamen ‚der Zelot‘. Und behauptete Jesus nicht selbst: ‚Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert‘ (Mt 10,34)? Reza Aslan formuliert es in seinem Buch Zelot vorsichtig: ‚Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er sich selbst jemals offen für eine Anwendung von Gewalt ausgesprochen hat. Doch war er ganz bestimmt kein Pazifist.‘“

(157) Schaik/Michel, S. 424f.

(158) Schaik/Michel, S. 413.

(159) Schaik/Michel, S. 414f.

(160) Schaik/Michel, S. 411f.

(161) Schaik/Michel, S. 413.

(162) Schaik/Michel, S. 417ff.

(163) Schaik/Michel, S. 423: „Dieser Jesus ist ein Vertreter des Gottes der Psalmen, nicht des Gottes der Tora.“

(164) Veerkamp, S. 381ff.

(165) Veerkamp, S. 392ff.

(166) Veerkamp, S. 396f.: „Nachdem sich immer größere Teile der Bevölkerung der christlichen Kirche angeschlossen hatten, musste die Kirche bzw. ihre Führung sich in das soziale Gebilde des Dominats hineinfinden. Sie musste Funktionen übernehmen, die außerhalb des Horizonts ihrer ursprünglichen Erzählung lagen: die Einheit der neuen Gesellschaftsordnung als die Einheit ihres Gottes repräsentieren und sie in den Seelen der Gläubigen verankern. – Deswegen ist es ein moralistischer Kurzschluss, hier vom Konstantinischen Sündenfall der Kirche zu sprechen, die sich wegen materieller Vorteile (Grundbesitz, Steuerbefreiung) dem Staat ausgeliefert hätte. Unsere Darstellung versuchte zu zeigen, dass die beiden Hauptakteure, Staat und Kirche, keinerlei Freiheit hatten, sich anders zu entscheiden. Der Staat im Dominat war auf eine allgemeine Ideologie, auf einen Verinnerlichungsapparat, angewiesen. Die Kirche konnte, nachdem das Christentum zu einer Massenbewegung geworden war, nicht in die Katakomben zurück, sie konnte kein Element der Subkultur bleiben, selbst wenn sie es gewollt hätte. Solche Freiheit hat die Kirche in der bürgerlichen Gesellschaft, dort kann ihr Kult allenfalls cultus privatus sein. Deswegen könnte sie notfalls auch zu einem subkulturellen, die Gesellschaft und ihre Strukturen radikal hinterfragenden Phänomen werden. Die Freiheit hätte sie heute, damals hatte sie sie nicht.

(167) Veerkamp, S. 410ff.

(168) Dorothee Sölle, Realisation, Darmstadt und Neuwied 1973, Seite 179, in einer Analyse religiöser Implikationen der Dichtung von Jean Paul.

(169) Schaik/Michel, S. 446ff.

(170) Dazu und zu den folgenden beiden Absätzen: Schaik/Michel, S. 442ff.

(171) Schaik/Michel, S. 448.

(172) Schaik/Michel, S. 451ff.

(173) Schaik/Michel, S. 428ff.

(174) So sagt Marquard unter anderem: „solange – in bezug auf die Heilige Schrift – zwei Leser kontrovers behaupten: ich habe recht, mein Textverständnis ist die Wahrheit, und zwar – heilsnotwendig – so und nicht anders, kann es Hauen und Stechen geben. Das vermeidet die moderne lesende Wissenschaft, indem sie die absolute Kontroverse neutralisiert durch die Frage: Läßt sich dieser – und jeder – Text nicht doch auch noch anders verstehen und – falls das nicht ausreicht – noch einmal anders und immer wieder anders? So entschärft sie potentiell tödliche Auslegungskontroversen, indem sie aus der rechthaberischen die interpretierende Lektüre macht, bei der der Leser – notfalls ad libitum – mit sich reden läßt; und wer mit sich reden läßt, schlägt möglicherweise nicht mehr tot.“ Dieses Zitat findet sich auf S. 81 in: Odo Marquard, Neugier als Wissenschaftsantrieb oder die Entlastung von der Unfehlbarkeitspflicht. Zuerst in: E. Ströker (Hg.): Ethik der Wissenschaften? Philosophische Fragen. München / Paderborn (Fink / Schöningh) 1984, 15-26. Wiederabgedruckt in: Odo Marquard, Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 75-91.

(175) Schaik/Michel, S. 472.

(176) Schaik/Michel, S. 469, wo sie Darwin, 2008, S. 96., zitieren.

(177) Schaik/Michel, S. 471.

(178) Schaik/Michel, S. 148.

(179) Veerkamp, S. 325: „Inhalt der Mission ist, die Völker in der Lehre der vom Messias um das Gericht, das Erbarmen und das Vertrauen zentrierten Tora zu schulen. … Mit christlicher Mission hat das selbstverständlich nichts zu tun; sie ist in den meisten Fällen das genaue Gegenteil des messianischen Auftrags der Schüler gewesen.“ Vgl. auch meinen Gottesdienst „Tauft sie in den NAMEN!“

(180) Veerkamp, S. 422f.: „Große Erzählung ist die Volksreligion nur, wenn sie ihren Gläubigen zumindest gelegentlich den Bauch füllt. Und wenn sie schon die Welt nicht ändern kann und das Kommen der anderen Welt auf einen Sankt Nimmerleinstag verschieben muss, veranlasst sie ihre wohlhabenden Gläubigen dazu, sich gelegentlich wohltätig zu zeigen. … Aus Großen Erzählungen wurden in den religiösen Anstalten des modernen abendländischen Bürgertums zwar Große Lügen, aber die Sehnsucht nach einem neuen Leben auf der Erde und vor dem Tod wurde durch die Lügen nie ganz erstickt. Die Armen des Abendlandes verließen im 19. Jahrhundert in hellen Scharen die Gefängnisse des Christentums, nahmen die Sehnsucht mit und schufen ihre eigene Große Erzählung. In ihr wohnten viele von ihnen mehr als ein Jahrhundert lang. … Marx und Engels schrieben im Kommunistischen Manifest: ‚Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.‘ Am 9. November 1989 war der Spuk vorbei. Und die Großen Erzählungen wurden entsorgt. … Alle Erzählungen sind nur noch Gerüchte. Hin und wieder kann man sie hören, flüchtig, verkrüppelt oft. Die, die man gehört hat und die manche, nicht alle, immer noch, immer wieder hören wollen. Aber sie sind kein Haus mehr. Sie sind hilflos, aber immerhin Sprache. Man weiß nicht, wer noch zuhört, ob überhaupt noch jemand zuhört. Für einige sind die Erzählungen Wegzehrung. Sie bewahren die Worte für unterwegs, sie wissen nicht, wann sie ankommen, wo sie ankommen, ob sie überhaupt ankommen.“

(181) So Ton Veerkamp zum Abschluss des Gesprächs „Die Vision einer anderen Welt“ mit Klara Butting in der Zeitschrift Junge.Kirche 2/2012, S. 40.

(182) „[D]ie Menschen sind nicht dadurch frei, daß sie Gott kopieren: als quasi-allmächtige Chefs der Weltregie oder durch unbedingtes Vermögen, sondern sie sind frei durch Freiheiten im Plural, die ihnen zufallen, indem die Determinanten, die determinierend auf sie einstürmen, durch Determinierungsgedrängel einander wechselseitig beim Determinieren behindern: einzig dadurch, daß jede weitere Determinante den Determinationsdruck jeder anderen einschränkt, anhält, mildert, sind und haben Menschen ihre – bescheidene, durchaus endliche, begrenzte – je eigene (individuelle) Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden.“ Das Zitat steht auf S. 134 in Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen. (Vortrag beim Salzburger Humanismusgespräch 1984 am 20. September 1984 in Salzburg.) – Überarbeitet 1985/86. Erstveröffentlichung in: Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 117-139.

(183) „Die Universalgeschichte ist zu Ende nur dann, wenn sie – für jeden Menschen und für alle Menschen zusammen – die einzige Geschichte sein will und keine anderen Geschichten neben sich duldet: denn justament dadurch wird sie zum Schrecken mit dickem Ende. Als eine Geschichte unter anderen Geschichten aber ist sie unverzichtbar, weil die Herbeiführung von Universalem unverzichtbar ist: z. B. die Herbeiführung der Menschenrechte, die Rechte für alle Menschen sind, allerdings – nimmt man es genau – als rechtliche Garantien für alle Menschen, anders sein zu können als alle anderen Menschen. Gleichheit ist angstfreies Andersseindürfen für alle. Universalisierung ist also nur als Pluralisierungsermöglichung gerechtfertigt, nur als Buntheitsförderung. … Universalgeschichte ist nur als Ermöglichung des Pluralismus der Geschichten menschlich.“ So steht es auf S. 89f. in Odo Marquard, Ende der Universalgeschichte? Philosophische Überlegungen im Anschluß an Schiller. (Festrede anläßlich des ersten Schiller-Tages der Friedrich-Schiller-Universität Jena am 29.5.1992 in Jena.) In: O. Marquard: Ende der Universalgeschichte? Die Denkformen und die Gewaltenteilung. Jena: Universitätsverlag, 1992. S. 7-16. Wiederabgedruckt in: Odo Marquard, Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, S. 79-93.

(184) Ton Veerkamp, Der Gott der Liberalen, Hamburg 2005, S. 239.

(185) Vgl. ebenda, S. 209: „Ein nicht unerheblicher Teil der im Norden ‚freigesetzten‘ Menschen sind im Kapitalismus nicht einmal als Reserveearme brauchbar, also für das Kapital nutzlos. Sie sind nur noch ein Problem. Erst recht gilt das für viele Länder des Südens, wo die Menschen durch die Vernichtung ländlicher Strukturen in die Städte getrieben und nicht einmal der schamlosesten Ausbeutung für würdig befunden wurden. Der Kapitalismus verweigert weltweit einer schnell steigenden Zahl von Menschen einen gesellschaftlichen Ort.“

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.