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Polytheismus

Wie kann ein Philosoph, der sich auch als evangelischer Christ versteht, die Vielgötterei loben? Odo Marquard wendet sich gegen einen fanatisch verstandenen Glauben an EINEN Gott. Und erst recht dann, wenn sich dann auch noch der Mensch an die Stelle dieses Gottes setzt.
Was könnte der Philosoph Odo Marquard mit seinem Lob des Polytheismus meinen? Eine Wand volle Masken und Reliefs mit Darstellungen griechischer Götter
Was meint der Philosoph Odo Marquard mit seinem Lob des Polytheismus? (Bild: Greg MontaniPixabay)

Andacht in der Kirchenvorstandssitzung der evangelischen Paulusgemeinde Gießen am 9. April 2002

Ich las kürzlich einen Vortrag, den der in unserer Gemeinde lebende Professor Odo Marquard vor 24 Jahren gehalten hat: „Lob des Polytheismus“.

Ich war gespannt. Wie kann einer, der als Philosoph doch auch Christ ist, die Vielgötterei loben, die schon dem Volk Israel ein Greuel war? Wir glauben doch wie die Juden an EINEN Gott.

Ich habe Marquard so verstanden, daß er auf Gefahren aufmerksam macht. Wenn man dem einzigen Gott, der im Monotheismus alles regiert, total unterworfen ist, hat man dann nicht nur zwei Möglichkeiten?

Entweder ich beuge mich der Gewalt des EINEN Gottes und glaube an ihn – oder ich fühle mich so sehr eingeengt, daß ich dem unerträglichen Zwang entfliehe, indem ich ungläubig werde.

Marquard sagt nun, daß genau das in der Kirche des Mittelalters und noch der Reformation geschieht – Gott wird dem als christlich verstandenen Volk aufgezwungen – bis dahin, daß man seinen Verstand am Eingang der Kirche abgeben soll – und im Gegenzug setzt man in der Aufklärung kurzerhand Gott ab.

Trotzdem wirkt der Mono­theismus in weltlichem Gewand weiter – indem die Philosophen nun von der EINEN Geschichte sprechen, von dem EINEN Fortschritt, auf dem der Mensch unaufhaltsam immer besser wird.

So will der Mensch, der nicht mehr an den Himmel glaubt, auf eigene Faust den Himmel auf Erden schaffen, aber er erreicht das Gegenteil – die Hölle für Abweichler, Volksfeinde, Klassenfeinde, schließlich die Kriegs- oder Terrorhölle für ganze Völker.

Marquard wendet sich gegen einen fanatisch verstandenen Glauben an EINEN Gott. Ein bißchen augenzwinkernd meint er, im Polytheismus sei der Mensch mit einer Vielfalt der Götter besser gefahren: Wenn ihn ein Gott zu sehr beansprucht, kann er sich damit entschuldigen, daß ein anderer Gott etwas von ihm wolle. Er will sicher nicht, daß wir zur Vielgötterei zurückkehren, aber lassen wir uns durch ihn innerhalb unseres eigenen Glaubens Mut zur Vielfalt machen!

In der Bibel werden von dem EINEN Gott viele Geschichten erzählt. Am Anfang gleich zwei Schöpfungsgeschichten und Erzählungen von drei Patriarchen: Gott ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Propheten mit unterschiedlichsten Charakteren erleben – Gott geschieht ihnen – jedem auf seine Weise. Vier Evangelien von Jesus setzen deutlich andere Akzente in dem, was ihnen an der Person Jesu für den Glauben wichtig ist. Der Heilige Geist gibt den Menschen verschiedene Begabungen; Theologen wie Paulus oder Jakobus reden unterschiedlich von der Gerechtigkeit durch Glauben oder Werke.

Schon in der Bibel gibt es also eine Vielfalt verschiedener zunächst jüdischer, dann christlicher Glaubensausprägungen, die wir heute meist nur beklagen.

Beklagenswert ist aber vor allem die Unbarmherzigkeit, mit der abweichende Überzeugungen oft verurteilt wurden und werden – bis hin zur Gewalt gegen Andersglaubende.

In unserer Gemeinde, auch hier im Kirchenvorstand, bin ich froh darüber, daß wir einander gelten lassen, auch wenn wir verschieden denken und glauben.

Lied 268, 1-5: Strahlen brechen viele aus einem Licht

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