Kein Segen für Esau, den Bruder Jakobs?

In einer Missionspredigt höre ich, Esau, der Bruder von Israels Stammvater Jakob, habe seine Mutter in den Selbstmord getrieben und sei verloren, da es für ihn keine Vergebung gebe. Wir Christen dagegen dürften wegen des am Kreuz vergossenen Blutes Christi auf Vergebung hoffen. Warum ich entsetzt bin über diese Art christlicher Verkündigung, erkläre ich in diesem Beitrag.

Ein Holzschnitt über die Versöhnung von Jakob und Esau
Darstellung der Versöhnung von Jakob und Esau auf einem Holzschnitt von Pieter de Bailliu nach einem Gemälde von Peter Paul Rubens (Bild: Rijksmuseum Antwerpen, Verzoening van Jakob en Esau, RP-P-H-S-3, CC0 1.0)

Als mich in der Nacht zum Sonntag vor zwei Wochen heftiger Schwindel befiel, der erst nach 48 Stunden abklang, kam ich einige Tage in die neurologische Klinik Braunfels, bis geklärt war, dass Gott sei Dank kein Schlaganfall oder eine andere schwerwiegende Ursache zugrunde lag. Da ich vergessen hatte, mir Lesestoff fürs Krankenhaus einzustecken, zappte ich mich dort, wenn ich im Bett liegend auf die nächste Untersuchung warten musste, durch zahlreiche Fernsehkanäle. Am ansprechend­sten fand ich Doku-Programme, die mehr oder weniger nützliches historisches oder naturkundliches Wissen zu vermitteln suchen, am schlimmsten jedoch empfand ich den Sender eines Missionswerks, in dem ich einige Minuten der Ansprache einer Predigerin zuhörte, in der um Esau ging, dem als dem älteren Zwillingsbruder Jakobs eigentlich das Erstgeburtsrecht und der Segen seines Vaters Isaak zugestanden hätte. Stattdessen aber verschaffte sich bekanntlich Jakob durch eine List diesen Segen, so dass er der Stammvater des Volkes Israel wurde.

Was war nun in dieser Ansprache über Esau zu hören? Er verkauft erstens in schändlicher Weise sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht an Jakob. Er hegt zweitens den Plan, Jakob aus Rache nach dem Tod des Vaters umzubringen. Drittens treibt er schließlich sogar seine Mutter in den Selbstmord. Und da es für ihn keine Vergebung gibt, ist er für immer verloren. Wie viel besser haben es nach der Sprecherin dieses Missionswerks wir Christen, denn wir können durch das am Kreuz vergossene Blut Jesu Christi auf Vergebung all unserer Schuld vertrauen! Das war die Stelle, an der ich weitergezappt habe. Unerträglich fand ich diese Art und Weise einer christlichen Missionspredigt. Und als ich wieder zu Hause war, habe ich nachgeschaut, ob das, was in der Bibel über Esau zu lesen ist, wirklich so ausgelegt werden könnte.

Nun kommt Esau ungefähr 100mal in der Bibel vor, und da Esau als der Stammvater der Edomiter gilt, ist weitere 100mal von Esau die Rede, wenn in der Bibel „Edom“ erwähnt wird. Die komplizierte Geschichte der Nachbarvölker Israel und Edom lasse ich hier aber außer Acht und auch, dass später das Römische Reich und sogar das Christentum, als es dessen Staatsreligion wurde, mit Esau bzw. Edom gleichgesetzt wurde.

Stattdessen konzentriere ich mich auf Esau, wie er im 1. Buch Mose dargestellt wird und wie der Hebräerbrief die Gestalt des Esau im Neuen Testament aufnimmt.

1. Hat Esau tatsächlich seine Mutter in den Selbstmord getrieben?

Diese Vorstellung geht offenbar auf die Stelle 1. Mose 27,46 zurück. Da befürchtet Rebekka, die Mutter Esaus und Jakobs, ihr Sohn Jakob könne sich wie sein Bruder Esau (26,34) eine Hetiterin aus Kanaan zur Frau nehmen und nicht eine Frau aus dem eigenen Sippenverband:

Mich verdrießt zu leben wegen der Hetiterinnen.
Wenn Jakob eine Frau nimmt von den Hetiterinnen wie diese,
eine von den Töchtern des Landes, was soll mir das Leben?

Aus dem Zusammenhang ist aber eindeutig zu erschließen, dass Rebekka nicht wirklich vorhat, sich das Leben zu nehmen. Vielmehr veranlasst sie ihren Mann dazu, dass er Jakob außer Reichweite des Zorns seines Bruders Esau zu seinem Onkel Laban schickt, damit er sich dort eine Frau aus der eigenen Großfamilie sucht.

2. Ist Esau tatsächlich verloren, da es für ihn keine Vergebung gibt?

Dazu müssen wir im Hebräerbrief die Verse 12,16-17 anschauen. Dort wird im Zusammenhang mit der Aufforderung an die Leserinnen und Leser, dem Frieden mit jedermann nachzujagen (Vers 14), auch davor gewarnt,

dass nicht jemand sei ein Hurer oder Gottloser wie Esau,
der um der einen Speise willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte.
Ihr wisst ja,
dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde,
denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.

Hier zeigt sich, wie schwer es ist, biblische Texte zu verstehen, ohne über ihre Hintergründe Bescheid zu wissen. Dass Esau hier als pornos, „Hurer“, bezeichnet wird, hat absolut nichts mit sexuellen Verfehlungen zu tun; es bezieht sich vielmehr darauf, dass in den prophetischen Schriften die Abkehr vom befreienden Gott Israels zu fremden versklavenden Göttern mit dem Bild der „Hurerei“ ausgedrückt wurde. Und dass Esau sein Recht verkauft, als der Erstgeborene Isaaks den Segen des Gottes Israels zu bekommen, versteht der Hebräerbrief dementsprechend als einen Abfall von Gott. Damit ist Esau zugleich ein bebēlos, was Luther mit „Gottloser“ übersetzt; wörtlich ist Esau ein „Unheiliger“ geworden, er hat sich aus der Gemeinschaft des für Gott ausgesonderten („geheiligten“) Volkes ausgeschlossen.

Wie ist es aber zu begreifen, dass nach dem Hebräerbrief Esau „verworfen wurde“ und „keinen Raum zur Buße“, also zur Umkehr, fand, „obwohl er sie mit Tränen suchte“? Hier wird die Stelle 1. Mose 27,38 ausgelegt, wo auch Esau von seinem Vater Isaak gesegnet werden will, nachdem Jakob sich den Erstgeburtssegen durch List erschlichen hatte:

Esau sprach zu seinem Vater: Hast du denn nur einen Segen, mein Vater?
Segne mich auch, mein Vater! Und er erhob seine Stimme und weinte.

Trotz der Tränen Esaus kann Isaak seinem Sohn Jakob den einmal gegebenen Segen nicht wieder wegnehmen, der unter anderem zur Folge hat, dass Esau seinem Bruder unterworfen sein soll. Offenbar geht der Hebräerbrief davon aus, dass gedankenlose Entscheidungen wie Esaus Einwilligung in den Verkauf des Erstgeburtsrechts an seinen Bruder folgenreicher sein können als erwartet.

Ist mit all dem aber das gemeint, was die Fernsehpredigerin sagte? Gibt es für Esau keine Vergebung, ist er verloren?

Anscheinend meint das nicht einmal der Hebräerbrief, denn an einer anderen Stelle (11,20) betont er ausdrücklich:

Durch den Glauben segnete Isaak den Jakob und den Esau
auf die zukünftigen Dinge hin.

Tatsächlich hatte Isaak auch seinem Sohn Esau nicht jeden Segen vorenthalten, sondern ihm mit folgenden Worten eine Zukunft verheißen, die in der konfliktreichen Geschichte Israels und Edoms Wirklichkeit werden sollte (1. Mose 27,39-40):

Siehe, du wirst wohnen fern vom Fett der Erde
und fern vom Tau, der vom Himmel kommt.
Von deinem Schwerte wirst du dich nähren,
und deinem Bruder sollst du dienen.
Aber es wird geschehen,
dass du einmal sein Joch von deinem Halse reißen wirst.

Nirgends in der Bibel ist also davon die Rede, dass Esau keine Vergebung, keinen Segen, keine Zukunft hätte, dass er verloren wäre. Und das gilt nicht nur für die Zukunft Esaus in Gestalt seiner Nachkommenschaft, dem Volk der Edomiter, sondern sogar für die zukünftige Beziehung der individuellen Personen Jakob und Esau. Als beide sich nämlich nach Jahrzehnten wiedersehen und Jakob sich immer noch vor der Rache Esaus fürchtet, da heißt es (1. Mose 33,4):

Esau aber lief ihm entgegen und herzte ihn
und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und sie weinten.

In der Tat ist es sogar umgekehrt Jakob, der seinen Bruder Esau mit einem gewaltigen Geschenk um Gnade und Vergebung bittet, worauf die Brüder ihre Versöhnung mit folgenden Worten besiegeln (1. Mose 33,9-11):

Esau sprach: Ich habe genug, mein Bruder; behalte, was du hast.
Jakob antwortete: Ach nein! Hab ich Gnade gefunden vor dir,
so nimm mein Geschenk von meiner Hand;
denn ich sah dein Angesicht, als sähe ich Gottes Angesicht,
und du hast mich freundlich angesehen.
Nimm doch meine Segensgabe an, die dir gebracht wurde;
denn Gott hat sie mir beschert, und ich habe von allem genug.
So nötigte er ihn, dass er sie nahm.

Indem beide Brüder ihre Zufriedenheit mit dem bekunden, was sie haben, zeigt sich, dass sowohl Jakob als auch Esau sich inzwischen von Gott reichlich gesegnet wissen.

3. Kann der Tod Jesu am Kreuz etwas mit Esau zu tun haben?

Nachdem klar ist, dass Esau sowohl nach dem 1. Buch Mose als auch nach dem Hebräerbrief nicht auf jeden Segen Gottes verzichten musste und sich sogar mit seinem Bruder Jakob versöhnte, steht noch die Aussage der Fernsehpredigerin im Raum, dass wir Christen besser dran seien als Esau, da wir durch das am Kreuz vergossene Blut Jesu Christi auf Vergebung all unserer Schuld vertrauen können.

Mich stört an dieser Aussage grundlegend ihre stillschweigende Voraussetzung, dass nur Christen Vergebung ihrer Schuld erlangen können und sonst niemand, kein Mensch einer anderen Religion oder Weltanschauung – und nicht einmal diejenigen, die auf den Gott Israels vertrauten und bis heute vertrauen.

Dieser Aussage widerspreche ich schon deswegen, weil nach dem Zeugnis der gesamten jüdischen Bibel bei Gott „die Vergebung“ ist (Psalm 130,4); nach 2. Mose 34,6 ist er „barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue.“ Ähnlich nennt der Koran an etwa hundert Stellen Gott den „Allvergebenden“.

Und auch als Christ bin ich davon überzeugt, dass Gott nicht den Tod Jesu am Kreuz notwendig braucht, um unsere Schuld zu sühnen, denn schon Abraham erfuhr lange vor Christi Tod Gottes Vergebung auf Grund seines Vertrauens, wie Paulus im Römerbrief (4,9) schreibt.

Aber worin liegt dann die Besonderheit des Todes Jesu am Kreuz? Warum begehen wir Christen den Karfreitag?

Ich widerstehe der Versuchung, hier noch eine Karfreitagspredigt folgen zu lassen (verweise allerdings auf den Beitrag Der Störenfried), und hoffe, dass in fünf Tagen in unseren christlichen Kirchen die Karfreitagsbotschaft angemessener laut wird als in der von mir nur im Vorüberzappen angehörten Fernsehansprache.

Euch und Ihnen allen wünsche ich je nach den eigenen Überzeugungen

  • eine gesegnete Karwoche und frohe Ostern
  • ein fröhliches Pessach
  • weiterhin einen gesegneten Ramadan
  • sowie ganz allgemein Wohlergehen und Frieden

Ihr und euer Pfarrer Helmut Schütz

2 Kommentare zu „Kein Segen für Esau, den Bruder Jakobs?“

  1. Jesus ist der Weg (nicht einer von vielen), die Wahrheit ( nicht eine von vielen) und das Leben (nicht eins von vielen),. Also gibt es nur einen Sohn Gottes (nicht Prophet wie im Islam), der die Tür zum Vater ist. Andere Religionen sind menschengemachte Verführungen unter zwielichtigem Einfluß, die keine wirkliche Erlösung bringen. Ansonsten hätte es den Opfertod Jesu nicht bedurft. Z.B. Abraham wurde sein Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet, nicht eine Multikultihaltung. Das Gegenteil von Jesus (Weg, Wahrheit, Leben) ist Irrweg, Lüge und ewiger Tod (Verdammnis). Klingt autoritär und anmaßend, ist nun aber ‚mal so. Traurig, dass man das einem Pfarrer noch sagen muss.

    1. Ich habe mich mein ganzes Pfarrerleben hindurch niemals als autoritärer und anmaßender Pfarrherr verstanden, sondern als Seelsorger, der sich von der Liebe Gottes inspiriert wusste, die ich als Christ durch Jesus spürbar kennengelernt habe. Sie missverstehen das Wort Jesu, das mit „ICH BIN“ beginnt, womit er deutlich macht, dass aus ihm nichts anderes spricht als der befreiende NAME des Gottes Israels – seine Treue (womit das griechische Wort aletheia besser übersetzt ist als mit einer Wahrheit, die man gezwungen sein soll, für wahr zuhalten) führt zu unverlierbarem Leben auf einem Weg, der von Liebe geprägt ist. Ein muslimischer Physiotherapeut, auf dessen Massagebank ich gerade lag, fragte mich einmal, ob er wirklich in die Hölle käme, wie eine Christin ihm gesagt hatte, wenn er nicht an Jesus glauben würde. Mir fiel das Gleichnis Jesu ein, in dem er über das Weltgericht erzählte, dass nur diejenigen verloren sind, die ihrem Mitmenschen nicht hilreich und barmherzig begegnen. Ich halte es für unbarmherzig, Menschen die Hölle anzudrohen, nur weil sie nicht auf dieselbe Art und Weise an Gott oder Jesus glauben, wie man es in der eigenen Religionsgemeinschaft gelernt hat.

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