Bild: Helmut Schütz

Schizophrene Langzeitpatienten

Bericht über einen dreimonatigen Studienurlaub „Schizophrene Langzeitpatienten“ von Pfarrer Michael Schüßler, Alzey

Kapelle der Rheinhessen-Fachklinik Alzey nach der Renovierung im Jahr 2011
Kapelle der Rheinhessen-Fachklinik Alzey nach der Renovierung im Jahr 2011

Inhalt

Vorwort

1. Annäherung an den betroffenen Personenkreis

1.1 Was ist eigentlich Schizophrenie?

1.2 Wie kommt es zu schizophrenen Erkrankungen?

1.2.1 Vererbung (Genetik)

1.2.2 Neurologische Erklärungsansätze

1.2.3 Biologische und biochemische Begründungen

1.2.4 Individualpsychologische Ansätze

1.2.5 Systemische Ansätze

1.2.6 Äußere Faktoren

Zusammenfassung der Ursachendiskussion

1.3. Der langfristige Verlauf der Schizophrenie

1.3.1. Verlaufsformen und ihre Ausprägungen

1.3.2. Bleibende Beeinträchtigungen

1.3.2.1. Kognitive Störungen (Konzentrations-, Denk- und Gedächtnisstörungen)

1.3.2.2. Körperliche und seelisch-geistige Erschöpfbarkeit

1.3.2.3. Störungen des Allgemeinbefindens und Leistungsinsuffienz

1.3.2.4. Einbuße an Spannkraft, Energie, Ausdauer und Geduld

1.3.2.5. Leibgefühlsstörungen (Coenästhesien)

1.3.2.6. Erhöhte Erregbarkeit und Beeindruckbarkeit

1.3.2.7. Andere Merkmale

1.3.2.8. Bedeutung für das Selbstempfinden der Patienten

1.4. Chronische Verlaufsformen und langfristige Unterbringung

1.4.1. Ursachen

1.4.2. Auswirkungen eines längeren Klinikaufenthalts

1.4.3. Wie kommt es zur Dauerhospitalisierung?

2 Neue Zugänge zu Langzeitschizophrenen

2.1. Das Brennerprogramm

2.2. Das „Besuchsprogramm“

2.3. Konsequenzen

2.3.1. Schwergewicht auf Gruppenseelsorge

2.3.2. Angstabbau durch Überschaubarkeit des Settings

2.3.3. Beim Namen nennen (Anrede)

3. Theologische Implikationen

3.1. Praktisch-theologische Positionen

3.2. Weitere theologische Überlegungen

3.3. Beheimatung als seelsorgerliches Ziel

Literatur

Anmerkungen

Vorwort

Die nachstehende Arbeit entstand im Rahmen eines Studienurlaubs, den die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau ihren Pfarrern und Pfarrerinnen nach einer bestimmten Anzahl von Dienst- und Arbeitsjahren gewährt. Ich habe diese Möglichkeit dankbar aufgegriffen und mich dabei einer Personengruppe zugewandt, die mir in der bisherigen Arbeit als Seelsorger in der Landesnervenklinik Alzey viele Rätsel aufgegeben hatte: Ich meine Menschen, die als schizophrene Langzeitpatienten oft schon einige Jahrzehnte in der Klinik untergebracht sind; nur schwer ansprechbar und mit einem Blick, als sähen sie durch einen hindurch, aber hinter dessen Maske noch viel geschieht. Sie wollte ich besser verstehen lernen und Konsequenzen für den Umgang mit ihnen ziehen.

Bei der Beschäftigung mit der genannten Problematik war ich auf Gespräche und zusätzliche Erfahrungen angewiesen. So gilt mein besonderer Dank Herrn Dr. Feierabend, der in unserer Klinik zwei Stationen für Langzeitpatienten betreut, und dem ich viele klärende Gespräche und Literaturhinweise verdanke.

Auch den Ärztinnen Dr. Thiessen und Dr. Claußnitzer möchte ich für weiterbringende Gespräche danken, ebenso wie Frau Dipl.-Psych. Spang-Fitzek und Herrn Dr. Wagner Rudloff für die Möglichkeit, das Brenner-Programm in den von ihnen geleiteten Gruppen mitzuerleben.

Frau Dipl-Psych. U. Bartuschek hat mich freundlicherweise während des Studienurlaubs mit ihrem Rat begleitet.

Mein größter Dank gilt freilich meinem Kollegen, Pfr. H. Schütz, durch dessen dienstliche Vertretung ein solches Vorhaben erst überhaupt realisierbar war.

Während ich mit dieser Arbeit beschäftigt war, haben eine Reihe von Leuten, darunter auch viele Psychiatrie-Laien, ihr Interesse daran bekundet. Das hat mich sehr gefreut, denn dies zeigt – neben vielem anderen – ein zunehmendes Interesse an dem, was in der Psychiatrie geschieht und wie Kirche damit umgeht. Ich versuche diesem Interesse dadurch gerecht zu werden, dass ich mich bemüht habe, mit möglichst wenig Fachausdrücken auszukommen.

Alzey, im Juni 1991, Michael Schüßler

1. Annäherung an den betroffenen Personenkreis

Schizophrene Dauerpatienten. Dieser Personengruppe, der mein Interesse gilt, will ich mich in drei Schritten nähern:

  1. durch ein besseres Verständnis dafür, was die Krankheit Schizophrenie bedeutet;
  2. durch ein Herausarbeiten der besonderen Merkmale diese Krankheit bei ihrer Chronifizierung und
  3. durch die besondere Berücksichtigung der Auswirkungen eines jahrzehntelangen Klinikaufenthaltes für die so Erkrankten.

1.1. Was ist eigentlich Schizophrenie?

Über Schizophrenie wurde und wird weiter gestritten; nicht so sehr über die Ausformungen und Auswirkungen dieser Krankheit (mehr schon über die Behandlungsaussichten und -möglichkeiten), vor allem aber über ihre Ursachen. Besonders was den letztgenannten Punkt betrifft, so nahmen die wissenschaftlichen Auslassungen und ihre Entgegnungen häufig die Form und Schärfe religiöser Glaubenskriege an. Heute befinden sich die unterschiedlichen Positionen mehr in einem Stadium der Diskussion.

Was beobachtet wurde und wird, ist, dass es Menschen gibt, die – aus welchen Gründen auch immer – anders erleben und empfinden als die Menschen um sie herum: Sie hören Stimmen, welche die anderen nicht hören; sie riechen Gerüche, die ihre Mitmenschen nicht wahrnehmen können; sie sehen Blitze und andere optische Zeichen, die ihre Umwelt nicht sieht. Sie verkennen Personen.

(Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses Symptom erlebte ich zu Beginn meiner Tätigkeit als Seelsorger in der Psychiatrie: Ich saß im Aufenthaltsraum einer der Akutstationen und führte ein Gespräch mit einer Patientin. Plötzlich stürzte eine Frau herein und begrüßte mich überschwenglich als ihren Bruder. In meiner damaligen Unerfahrenheit versuchte ich ihr das auszureden; ganz freundlich und mit viel Mitgefühl, wie ich meinte. Sie wurde darüber immer aufgeregter und fing schließlich an zu weinen und zu klagen, dass alle sie im Stiche ließen und sich zu diesem Zweck sogar als fremde Personen verstellten. Als ich ihr noch einmal freundlich klarmachen wollte, dass ich der Klinikpfarrer sei und nicht ihr Bruder, kollabierte sie schließlich.)

Sie weigern sich, das Essen zu sich zu nehmen, da es vergiftet sei; sie deuten das Rauschen der Heizung als das Einleiten von Gas zu ihrer Ermordung. Manche liegen tage- oder wochenlang regungslos im Bett, weil sie sich von Strahlen gelähmt fühlen. Sie klagen darüber, dass sie ihre Gedanken nicht mehr zusammenbekommen und sich auf nichts mehr konzentrieren können. Sie leiden unter Schmerzen, für die es keinen organischen Anhaltspunkt gibt, oder empfinden merkwürdige körperliche Sensationen (z. B. „mein Gehirn liegt über der Schädeldecke“ oder „mein Arm ist so weit weg“) oder beziehen alles, was um sie herum geschieht, auf sich selbst: Wenn sie zwei Menschen sehen, die sich unterhalten, dann tun diese das sicher nur, um über sie zu spotten oder etwas gegen sie auszuhecken. Der Arzt, die Schwestern und Pfleger (1), die Verwandtschaft und u. U. auch noch der einweisende Richter stecken alle unter einer Decke. Die ganze Umwelt ist vereint zu einem einzigen Komplott, das nur ihre Erniedrigung, persönliche Demontage, ja sogar ihren Tod will. Andere Mächte ergreifen von ihnen Besitz. Stimmen flüstern ihnen ein oder befehlen laut: „Bring dich um. Du bist nichts wert“ oder berufen sie in ungeahnte Positionen (Gott, Jesus, Buddha, Kung Fu und andere), die sie dazu bewegen, zu predigen oder in Gedanken die Erlösung der Welt vorzubereiten. Bei manchen gerät die Welt aus den Fugen: Die Wände bewegen sich auf sie zu oder weichen zurück. Der Boden gibt nach. Das Bett schwimmt davon. Wieder andere leben ganz in ihrer eigenen Welt: Sie sprechen mit Personen, die offensichtlich nicht da sind. Sie streicheln Gegenstände und lächeln dabei. Sie grimassieren und bewegen sich eigentümlich steif. Manche laufen stundenlang hin und her. Andere fangen nach wenigen Sätzen Gespräch an, zu zittern und zu schwitzen und entschuldigen sich: „Das war jetzt genug. Ich kann mich nicht länger unterhalten“ oder laufen einfach davon. Wir stoßen in diesem Zusammenhang auf Menschen, die in einer eigenartigen Spannung regungslos über lange Zeit im Bett liegen (manche sogar mit hohem Fieber und in lebensbedrohliche Zustände geratend) genauso wie auf solche, die mit rasender Geschwindigkeit reden, dabei möglicherweise noch ständig neue Wortschöpfungen vornehmen oder dem sie behandelnden Arzt ein in sich geschlossenes und absolut folgerichtiges Referat darüber halten, warum sie die angeordnete Medizin nicht nehmen dürfen (2).

All diese uns fremd oder sogar bedrohlich anmutenden Erscheinungsweisen menschlichen Selbst- und Welterlebens werden von der medizinischen Wissenschaft unter dem Begriff Schizophrenie subsumiert und ihrer jeweiligen Ausprägung gemäß klassifiziert. Im klassischen Sprachgebrauch zählte die Schizophrenie zu den Geisteskrankheiten, während z. B. die Depression zu den Gemütskrankheiten gehörte; ein problematischer Sprachgebrauch schon insofern, als sich manche schizophrene Erkrankungen durch eine Depression ankündigen bzw. mit ihr beginnen.

1.2. Wie kommt es zu schizophrenen Erkrankungen?

Sowohl für die Behandlung der genannten Erkrankung als auch für den Umgang des Seelsorgers mit Menschen, die von dieser Krankheit betroffen sind, ist es wichtig, etwas über deren Ursachen zu wissen: Für den Arzt, damit er sein therapeutisches Programm adäquat koordinieren kann; für den Seelsorger, damit er sich ein angemessenes Bild von der Problemlage seines Gegenübers machen kann. (Das gilt vor allem für die in vielen Gesprächen thematisierte Schuldproblematik.)

Doch bei dieser Diskussion über die Ursachen gingen und gehen die Meinungen weit auseinander. Lange Jahre standen sich zwei Meinungsrichtungen gegenüber, die sich grob in die „Psychiker“ und die „Somatiker“ einteilen lassen; also Gruppierungen, die die Ursache für schizophrene Erkrankungen entweder mehr in körperlichen Voraussetzungen oder Veränderungen sahen oder die sie mehr in seelischen Entwicklungen und Beeinflussungen vermuteten. Beide Gruppen konnten und können Argumente für ihre Positionen ins Feld führen, und doch scheinen sie nie ausreichend zu sein, wenigstens nicht als alleinige Bedingung. Eine Zeit lang wurde dann gerne von einem „multifaktoriellen Geschehen“ gesprochen. Doch auch dies ist nicht unumstritten und bleibt jedenfalls zu unpräzise. Der Mainzer Psychiater J. Glatzel hat erst vor wenigen Jahren darauf hingewiesen: „Auch die Anhänger einer multikonditionalen Genese endogener Psychosen vermögen kein Faktorenbündel zu beschreiben, das in jedem Fall einer Schizophrenie … aufgewiesen werden könnte, dem also der Rang einer unerlässlichen Voraussetzung zukäme“ (3). Dieses Zitat bezeichnet allerdings auch den Endpunkt einer langen Diskussion. Um dies besser verstehen zu können, erscheint es mir sinnvoll, noch einmal der Frage nachzugehen, welche Positionen diskutiert wurden und wie sie sich zueinander verhalten.

1.2.1. Vererbung (Genetik)

Den mit der Schizophrenie befassten Ärzten war aufgefallen, dass diese Erkrankung in manchen Familien gehäuft auftritt. Dies legte die Vermutung nahe, dass diese Krankheit vererbbar sei. Eine solche Sicht der Dinge lässt sich am besten durch die sogenannte Zwillingsforschung verifizieren. Und hier gibt es nun interessante Feststellungen: Wenn z. B. ein Zwillingsgeschwister wegen klar eingegrenzter Diagnose Schizophrenie jemals in psychiatrischer Behandlung war, dann traf das auch in 30 % der Fälle für sein Geschwister zu.

Diese Feststellung gilt aber nur für eineiige Zwillingsgeschwister. Bei zweieiigen fällt der Anteil auf 6 % (bei gleichgeschlechtlichen) bzw. 7 % (bei gemischtgeschlechtlichen) ab. Das spricht zunächst deutlich für die Möglichkeit einer genetischen Ursache, wird aber durch genauere Untersuchungen wieder eingeschränkt: Diese zeigen recht deutlich, dass die Erkrankungshäufigkeit abnimmt, wenn die Zwillingsgeschwister – aus welchen Gründen auch immer – in unterschiedlichen Familien aufgewachsen sind, auch wenn sie dann immer noch häufiger auftritt als in der Durchschnittsbevölkerung.

Unbestritten scheint allerdings unterdessen, dass Vererbung nicht als alleinige Ursache für die Entstehung von Schizophrenie in Frage kommt. Dies war schon früher klar, weil eine Tatsache bereits lange Zeit beobachtet war: Schizophrene heiraten sehr selten und haben – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung – noch sehr viel seltener Kinder. Selbst wenn alle diese Kinder wieder an Schizophrenie erkranken würden, könnte das nicht ausreichen, um die Gesamtzahl der solchermaßen Erkrankten zu erklären (4).

1.2.2. Neurologische Erklärungsansätze

Bei schizophren Erkrankten wurden in einer überdurchschnittlichen Häufigkeit hirnorganische Veränderungen beobachtet. Für sie gilt ähnliches wie für die Frage der Vererbung: Sie reichen schon in ihrer Häufigkeit nicht aus, um die Entstehung von Schizophrenien zu erklären. Abgesehen davon, dass ich mir als Theologe schwer tue, solche naturwissenschaftliche Argumentationsreihen nachzuvollziehen oder gar zu bewerten, kann ich doch so weit gehen, dass ich als Problemstellung mitbekommen habe, dass die Frage offensichtlich nicht überzeugend zu beantworten ist, ob diese neuroanatomischen Besonderheiten die Ursache oder die Folge einer schizophrenen Erkrankung sind.

Dass hirnorganische Veränderungen psychische Auswirkungen haben können, ist den meisten von uns aus Erfahrung bekannt: Menschen, die einen Schlaganfall erlitten oder eine Hirnhautentzündung überstanden haben, sind nicht mehr so, wie wir sie früher kannten. Noch deutlicher sind die Veränderungen nach einer schweren Schädelverletzung oder einer Operation. Und doch sagen uns die nächsten Familienangehörigen oft, dass durch diese Veränderungen nur Wesenseigenschaften in den Vordergrund getreten seien, die vorher schon da waren; ja, die vorher möglicherweise noch im Zaum gehalten oder zurückgedrängt wurden.

In letzter Zeit werden häufiger neurophysiologische Ursachen oder Mitbeteiligungen bei der Krankheit Schizophrenie diskutiert: Dabei wird eine Störung des limbischen Systems angenommen. Das limbische System ist eine Art Zentrale eines unbewussten Regulationssystems, das die Ausschüttung von Körpersäften und vegetativ-nervöse Reaktionen steuert. Es verarbeitet Signale, die der Körper (z. B. Hunger) oder die Umwelt (z. B. Kälte) senden. Es handelt sich um ein gewaltiges Schalt- und Netzwerk. Dass es dabei Irritationen und Störungen geben kann, ist uns bekannt: Denken wir z. B. an den bei manchen Menschen kaum zu beherrschenden Drang, vor einer Prüfung immer wieder auf die Toilette zu gehen, obwohl Blasen- und Darminhalt dazu schon längst keinen Anlass mehr geben; oder die Schweißausbrüche, die jemand bekommen kann, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Auch unsere Sprache nimmt solche Regulationsmerkwürdigkeiten auf und formuliert sie: „einen roten Kopf bekommen“ oder „kalte Füße kriegen“ und andere. Die Frage erhebt sich nun, was geschieht bei Menschen, bei denen diese Regulation nicht nur irritiert, sondern gestört ist: Dass sie also länger oder sogar immer unangebrachte Signale sendet oder Signale falsch verknüpft und verarbeitet.

Wie wird sich z. B. das Signal Bedrohung – über längere Zeit bestehend – auf einen Menschen und sein seelisches Erleben auswirken? Auf seine Gedankenbildung und seine Weltsicht? Und wie wird sich das bei ihm festsetzen, was er an scheinbar objektivem Weltverständnis lernt? Wird er es benutzen wie eine Art Tarnkappe, damit er nicht auffällt in seinem Sich-bedroht-Fühlen? Wie lange wird er das tun können? Wie lange werden die Kräfte der Anpassung halten und wann werden sie reißen durch die Gewalt der herausbrechenden Angst – oder sind einfach ermüdet und verschlissen durch die jahrelange Anspannung? Oder wird ein solcher Mensch einen anderen Weg gehen: Wird er den Weg des Wahns gehen (müssen?), der ihm immerhin die Möglichkeit gibt, die Bedrohung insofern umzukehren, als er nun die Distanz zu den anderen bestimmt und er nicht mehr in der quälenden Zerreißprobe zwischen dem eigenen Empfinden und dem angepassten (und das heißt bei Gefühlen eindeutig dem ihm auf-angepassten, fremd-draufgepassten) der anderen existieren zu müssen?

Dörner und Plog beschreiben die Landschaft, in der Schizophrenie entsteht, als Landschaft der Zerreißproben: Die Gefühle sind in der Zerreißprobe, die sozialen Beziehungen sind in der Zerreißprobe, ja die Person selbst befindet sich in der Zerreißprobe.

Und doch bleibt das nur Beschreibung, die immer mehr Fragen nach sich zieht: Wie hat man sich eine solche Störung des limbischen Systems vorzustellen? Besteht sie immer oder nur sporadisch? Wodurch wird sie ausgelöst bzw. bewirkt? An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass einige Zeit auch die Möglichkeit einer Virusinfektion als letzendliche Ursache der Schizophrenie diskutiert wurde. Diese Theorie hätte einen großen Vorteil gehabt: Sie hätte nämlich erklären können, warum bei manchen Patienten die schizophrenen Schübe nur einmal, bei manchen öfters und bei manchen gewissermaßen chronisch auftreten; auch die gelegentlich auftretenden hirnorganischen Veränderungen wären damit erklärbar gewesen. Diese Theorie wird m. W. derzeit nicht ernsthaft diskutiert: Einerseits ließ sich der entsprechende Virus nicht finden (5); andererseits gibt es auch zu viele Indizien dafür, dass bei der Entstehung von Schizophrenie soziale Faktoren mitbeteiligt sind.

Eine Außenseitertheorie möchte ich in diesem Zusammenhang noch erwähnen. Der bekannte und erst vor kurzem verstorbene Wissenschaftspublizist H. v. Ditfurth (der allerdings „gelernter“ Psychiater war) beschreibt in seinem Buch „Der Geist fiel nicht vom Himmel“ die Entwicklung des menschlichen Gehirns (6). Er betont dabei, dass Stammhirn, Zwischenhirn und Großhirn in weit auseinanderliegenden Epochen entstanden sind und am besten als Antworten der Evolution auf die Aufgaben verstanden werden können, die sich auf dem jeweiligen Entwicklungsniveau stellten. Diese verschiedenen „Hirne“ funktionieren aber nur, wenn sie eine genaue Hierarchie einhalten: Im Sinne der physiologischen Abhängigkeit von unten nach oben, im Sinne der Funktionserfüllung und Dominanz von oben nach unten. Und letztere ist, so v. Ditfurth, bei der Schizophrenie gestört. Er vermutet, „schizophrene Störungen könnten sich eines Tages als die Folge einer abnormen Dominanz vom Zwischenhirn ausgehender Einflüsse herausstellen.“ (7) Er begründet das wie folgt: „Das, was die Patienten schildern und erleben, scheint mir jedenfalls eine präzise Beschreibung der Situation zu sein, die entstehen müsste, wenn ein Besitzer eines Großhirns in die archaische Welt des Zwischenhirns zurückversetzt würde: Das Fehlen belangloser Inhalte. Die perspektivische Anordnung, in der alles auf den Erlebenden ausgerichtet zu sein scheint … Die Möglichkeit einer solchen Entgleisung der Hierarchie ist grundsätzlich kaum zu bestreiten, um so weniger, als schon normalerweise vom Zwischenhirn Einflüsse auf das Großhirn ausgehen und in bestimmten Extremsituationen (z. B. im Zustand eines übermächtigen Affekts, etwa dann, wenn jemand in Panik gerät) eine vorübergehende Dominanz tieferer Hirnabschnitte vorkommen kann. Dass ein heutiger Mensch, der in der biologischen Katastrophe einer Schizophrenie in die archaische Welt seiner evolutionären Urahnen zurückstürzt, sich dort nicht heimisch fühlen kann, bedarf keiner Begründung. Ein von diesem Schicksal betroffener Mensch säße mit seiner Erkenntnis- und Erlebensfähigkeit existentiell zwischen sämtlichen Stühlen.“ (8)

1.2.3. Biologische und biochemische Begründungen

Im vorgenannten Zitat taucht der Begriff „biologisch“ auf, der neuerdings auch in der Schizophreniediskussion immer wieder gebraucht wird, allerdings ohne genau definiert oder belegt zu sein. Wenn ich es richtig verstehe, ist damit folgendes gemeint: Bislang wurden einige Faktoren bzw. Erklärungsversuche genannt, die für die Entstehung oder zumindest für die Disposition für schizophrene Erkrankungen diskutiert werden. Dazu zu nennen wären noch biochemische Einflüsse. (Dies ist naheliegend, nachdem sich gezeigt hat, dass Psychosen bei den meisten Patienten durch chemische Beeinflussung zumindest in ihren stärksten Auswirkungen gebremst, wenn nicht gar verhindert werden können.) Alle diese Faktoren könnten nun aber doch auch untereinander Wechselwirkungen haben; ja es wäre sogar unwahrscheinlich, wenn sie dies nicht hätten. Diese Zusammenhänge würden mehr oder weniger den persönlichen körperlichen Hintergrund bilden, der das Entstehen von Schizophrenie ermöglicht oder begünstigt oder bedingt. Dies lässt sich nicht präziser umschreiben, da kein einziger der genannten Faktoren noch ihr Ensemble dazu ausreichen, um auch nur die Wahrscheinlichkeit einer solchen Erkrankung zu belegen (vgl. das oben genannte Glatzel-Zitat). Ein weiteres Problem kommt hinzu: Bei den meisten der genannten Punkte bleibt ungeklärt, ob es sich um Ursachen oder Folgeerscheinungen der Krankheit handelt; handelt es sich bei den bislang genannten Phänomenen (mit Ausnahme der Vererbung) nicht möglicherweise um Reaktionen des Körpers auf eine krankmachende Umwelt? Hat nicht sogar der Abschnitt über die Vererbung eindeutige Indizien dafür aufgezeigt, dass unterschiedliche Kindheit und soziales Gefüge die Entstehung der genannten Krankheit beeinflussen?

1.2.4. Individualpsychologische Ansätze

Hier wird immer wieder die Unfähigkeit des Ichs genannt, sich gegen die Umwelt abzugrenzen. Das ist in der Kindheit schon schwierig, weil da noch die Kompetenz dazu fehlt. Dieses Problem verschärft sich in der Pubertät, wenn die Triebentwicklung integriert werden muss und der Jugendliche seinen Platz in der Welt finden soll. Es kann kaum mehr bewältigt werden in der beruflichen Auseinandersetzung oder im familiären Alltag. Dies ist auch das Alter, in dem die Schizophrenie häufig zum ersten Mal diagnostiziert wird (9).

Nachdem einige Zeit die sogenannte „schizophrenogene Mutter“ als die Ursache allen Übels angesehen wurde (10), treten in der neueren Diskussion andere Überzeugungen in den Vordergrund: die sogenannte live-event-Forschung hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Frage des Wie-sich-in-der-Welt-Befindens eine viel größere Rolle spielt als bisher angenommen: Also erlebe ich mein Dasein als störend, als unerwünscht oder überflüssig? Oder empfinde ich, dass ich gerade der/die Richtige am richtigen Platz bin. Freilich wird solches Sich-in-der-Welt-Befinden auch durch die Eltern vermittelt, und da dabei die frühen Prägungen sehr wichtig sind, spielt in unserem Kulturkreis meist die Mutter die entscheidende Rolle. Aber genauso schwierig scheinen Konstellationen zu sein, in denen sich die Eltern nicht einig sind und unterschiedliche Handlungsanweisungen geben (oder gar keine Richtlinien), so dass sich das Kind nicht bzw. schlecht orientieren kann; oder wenn die Gefühlslage bei einem der Erziehenden oder beiden gespalten ist. (Wenn also Mutter oder Vater das Kind ablehnen, diese Ablehnung aber durch Verwöhnung des Kindes zu kompensieren versuchen.)

Und doch ist mit diesen Aufzählungen nur die eine Seite der Problematik erläutert, denn es gibt ebenso viele Gegenbeispiele: Wo also Kinder, die aus einem so ungünstig erscheinenden Erziehungsklima kommen, gerade besonders früh und deutlich zu selbständigen Entwicklungsschritten neigen und sich im Leben gut zurechtfinden. So geht auch G. Benedetti (der vornehmlich psychotherapeutisch mit schizophrenen Patienten arbeitet(e)) davon aus, dass – anders als beim Neurotiker – zu den krankmachenden Erfahrungen in der Kindheit noch eine zweite Qualität hinzukommen müsste, die mehr im Bereich einer angeborenen Verletzlichkeit liegt. Doch nicht nur das. Er geht noch einen Schritt weiter: Er meint, dass diese angeborene Verletzbarkeit eine besondere psychische Entwicklung bedingt, denn ein Kind mit solchen Voraussetzungen provoziert ja bei seiner Mutter z. B. ganz andere Verhaltensweisen und Gefühle als ein Kind, das „normal“ angefasst werden kann. Und diese veränderten Verhaltensweisen, Gefühle und Haltungen fördern bei dem Kind wiederum eine ganz andere Psychodynamik als beispielsweise bei seinem unauffälligen Geschwister.“ (11)

Ein anderer Ansatz kommt von der Transaktionsanalyse her. Die Transaktionsanalyse geht von einem klar strukturierten Aufbau der psychischen Befindlichkeiten aus. Einem nährenden und strafenden (oder gar chaotischen) Eltern-Ich steht ein kreatives oder rebellisches Kinder-Ich gegenüber, die miteinander bestimmte Entwicklungen durchmachen und so langsam zu einem reifen Erwachsenen-Ich führen. So sieht verkürzt dargestellt eine durchschnittliche psychodynamische Entwicklung aus. Diese erscheint nun bei Schizophrenen gestört: Die zerstörenden Eltern-Ich-Anteile sind so stark, dass sie immer wieder zu chaotischen Kinder-Ich-Reaktionen führen bzw. zu Zusammenbrüchen des Erwachsenen-Ichs. Als angewandte Therapieform hat sich ein zweites Beeltern herauskristallisiert, das vor allem durch die zahlreichen dokumentierten Verbesserungen des Befindens und der Ich-kompetenz beeindruckt, allerdings auch ein ungeheures Engagement des therapeutischen Teams voraussetzt. Die so Erkrankten durchlaufen gewissermaßen ein zweites Mal ihre Kindheit (12). Und doch reichen diese – freilich mit Einschränkungen versehenen – Ansätze ebensowenig aus wie die vorher genannten. Es gibt genug Beispiele von später schizophren Erkrankten, deren Kindheit keiner der genannten Risikofaktoren überschattet hat. Sie sind in der Minderzahl – das sei bestätigt – aber es gibt sie.

1.2.5. Systemische Ansätze

Nun ja, könnte man sagen, dann ist in der Familie eben derjenige erkrankt, dem das System Familie die Rolle des Unauffälligen oder sogar des Ausgleichenden zugeschanzt hat und der ganz besonders die Spannungen verspürt, die durch die Familie laufen.

Dies erscheint als Hypothese vorstellbar. Meist ist aber der bereits oder später Erkrankte eher der Träger anderer Rollen (das Kind, um das sich die Familie besonders bemühen muss; der schwache Sohn, aus dem sowieso nichts wird; die hippelige Tochter, die alles durcheinander bringt und die nie einen Mann finden wird u. a.). Auch ist damit die Frage noch nicht beantwortet, warum die Familie gerade der entsprechenden Person diese Rolle des Spannungsausgleichers zuordnen konnte. Eine ursächliche Zuordnung erscheint kaum möglich. Andererseits ist kaum zu bestreiten, dass solche Rollenzuweisungen als Verstärker wirken, indem sie ein bestimmtes Verhalten fördern und andere Lebens- und Problemlösungsmöglichkeiten vernachlässigen oder verschließen.

1.2.6. Äußere Faktoren

Ein Gedanke sollte uns noch beschäftigen: Ist es nicht denkbar, dass jemand etwas so Schlimmes erlebt, dass er deshalb erkrankt? Wir kennen das, was unsere Sprache mitteilen will mit Äußerungen wie „Da dachte ich, ich werde verrückt“, d. h. Zustände, in denen die Fähigkeit, sich selbst und seine Umwelt zu verstehen, bis an die Grenzen der Belastbarkeit angespannt war oder sogar vorübergehend verloren ging. Dies kann durch eine schlimme persönliche Kränkung geschehen. Dies erscheint genauso gut vorstellbar durch einen Orientierungsverlust, der dadurch entsteht, dass jemand sein gewohntes Umfeld verlässt oder gar verlassen musste. In den 60er Jahren fiel schon auf, dass der Anteil an Heimatvertriebenen bei den Schizophreniekranken unverhältnismäßig hoch war (13). Und wer sich heute mit einigermaßen wachen Augen auf einer psychiatrischen Aufnahmestation umsieht, wird bemerken, dass bei den Patienten der Anteil an Aussiedlern (nicht Übersiedlern; dort trifft eher die umgekehrte Tendenz zu), an Gastarbeitern der zweiten Generation und von Deutschen geheirateten Ausländerinnen überdurchschnittlich groß ist.

Doch auch hier gilt dasselbe wie bei den anderen bislang diskutierten Faktoren: Sie kommen als alleinige Auslöser nicht in Betracht. Überall finden sich weit mehr Familienangehörige oder vergleichbare Schicksale, die nicht mit der gleichen Symptomatik reagieren.

Zusammenfassung der Ursachendiskussion

Es gibt noch einige andere Ansätze (14), die die Ursachenforschung betreffen. Auch ihnen ist gemein, was für die bislang erwähnten zutrifft: Sie reichen nicht aus, um als alleiniger Faktor von Schizophrenie zu erklären. Lediglich in Einzelfällen mag die genetische Erklärung einigermaßen plausibel sein. Doch auch hier ist die Frage noch ungeklärt, wie sich diese Krankheit psychodynamisch vermittelt.

In den letzten 15 Jahren hat sich angesichts dieser unbefriedigenden Situation der Begriff der „Vulnerabilität“ in den entsprechenden Diskussionen und Veröffentlichungen breitgemacht. Er will die besondere Verletzlichkeit (im deutschen Sprachgebrauch wird zwischen Verletzbarkeit und Verletzlichkeit kaum unterschieden. Dass es sich dabei um zwei in Ihrer Entstehung durchaus unterschiedliche Begriffe handelt, weist M. Schmidt-Degenhard in einer ausgezeichneten Diskussion des Begriffes Vulnerabilität nach (15). Er soll die besondere Verletzbarkeit der Schizophrenen umschreiben, die dazu führt, dass sie – immer oder gelegentlich – das, was sie erleben, als einen besonderen Stress empfinden. Diese Verletzbarkeit ist als Eigenschaft immer da, doch die Schwelle für Faktoren, die schließlich für den Ausbruch der Krankheit oder psychotischer Episoden sorgen, ist unterschiedlich hoch und hängt ab von Umwelteinflüssen (körperliche Verfassung; soziale Bezüge etc.). Es gibt ganze Modelle, die nach diesem Schema aufgebaut sind:

Die Grafik von R. Olbrich zeigt Zubins Konzept der Vulnerabilität. Ein Kasten "Schwelle für soziale Stressoren" wird beeinflusst von vier anderen Variablen: 1. Sozialer Stressor, 2. Prämorbide Persönlichkeit, 3. Soziales Netzwerk, 4. Ätiologie (mit den Unterpunkten: Genetik, Biochemie, Neurophysiologie, Neuroanatomie, Ökologie, Lerntheorie, Entwicklung). Vom Kasten "Schwelle für soziale Stressoren" zeigt ein Pfeil zu einem Kasten mit Fragezeichen, von dem aus wiederum ein Pfeil zum Kasten "Produktivsymptomatik, Rezidiv" führt.

Wie das Fragezeichen andeutet, bleibt auch bei diesem ausdifferenzierten Modell die Frage offen: Wo kann genau der Punkt gesetzt werden, an dem der Umschlag in die Psychose erfolgt? Trotzdem hat dieses Modell einen großen Vorteil. Es setzt die notwendigerweise angenommene Größe Vulnerabilität (sie muss angenommen werden, um überhaupt weiterdiskutieren zu können)

  1. an die richtige Stelle und gibt ihr nicht den Charakter einer Ursache;
  2. gibt es Raum für die Einflechtung der oben diskutierten unterschiedlichen Faktoren, die zum Entstehen von Schizophrenie führen können.

Doch dies ist nun sprachlich schon nicht mehr richtig ausgedrückt, denn mit diesem Modell hat sich auch die Ursachendiskussion verlagert. Alles was bisher – einzeln oder als wie immer geartetes Faktorenbündel – diskutiert wurde, gehört nun nicht mehr zu den Ursachen, sondern zu den Bedingungen. Es scheint unmöglich, in einem mechanistisch-naturwissenschaftlichen Sinne von einer Ursache reden zu können.

Kritisiert wurde am Zubinschen Modell, dass es nur soziale Stressoren als Auslöser für schizophrenogene Konflikte zulässt und nicht auch andere (z. B. körperliche) sowie die mangelnde Erklärung dessen, welche Störungen der Vulnerabilität exakt zugrunde liegen (16). In dieser Richtung sind auch einige Untersuchungen gestartet worden (17). Ich selbst bin da eher skeptisch: Werden sie etwas anderes zutage bringen können als ganz unterschiedliche persönliche Lebensläufe?

Ich sehe mich dabei bestätigt durch G. Benedetti, wenn er meint, „dass wir auch in der sogenannten Psychogenese der Schizophrenie niemals vermuten dürfen, auf Gesamtursachen vorzustoßen: Nur in der Darstellung kleiner Strecken dürfen wir von Kausalität reden.“ Und weiter: „Vieles spricht dafür, dass die Schizophrenie eine Krankheit ist, welche … sehr differenzierte Integrationsstätten unseres Gehirns stört, wo Symbolisationsvorgänge stattfinden, die sowohl von biochemischen Vorgängen des Organismus wie auch von seinem ständigen Kontakt mit der Umwelt beeinflusst werden.“ (18)

Glatzel geht noch einen Schritt weiter. „Man muss davon ausgehen, dass jeder Mensch fähig ist, schizophren zu werden, wenn man darunter eine Abwandlung des Welt- und Selbstverständnisses versteht, die unter dem Bild einer Schizophrenie … in Erscheinung tritt.“ Er beschreibt dann weiter, dass es prädisponierende Faktoren (wie oben diskutiert) und dazutretende zusätzliche Schädlichkeiten gibt, die schließlich zu einer Psychose führen können. „Hinweise auf Regelhaftigkeiten bezüglich des Zusammenwirkens disponierender und manifestationsfördernder Faktoren gibt es nicht, d. h. wir wissen nicht, welche Kombination den Ausbruch der Erkrankung garantiert. Das kann deswegen nicht überraschen, weil allenfalls die beiden Faktoren ermittelt und beschrieben werden können, nicht aber die individuelle Artung desjenigen, der unter ihrem Einfluss mit der Ausbildung einer entsprechenden Symptomatik antwortet. Dabei ist zu bedenken, dass auch die individuelle Artung keine Konstante darstellt, sich vielmehr in Abhängigkeit von der konkreten Lebenswirklichkeit jeweils unterschiedlich profiliert.“ Und später: „Vernünftig scheint es … lediglich, über das Warum (19) der endogenen Psychose eines einzelnen – eines ganz konkreten Menschen nachzudenken. Vernünftig ist es, nach dem Warum der schizophrenen Persönlichkeit des jeweils Betroffenen zu fragen, nicht nach den Ursachen der Schizophrenie …“ (20)

Mit anderen Worten: Das, was als Schizophrenie bezeichnet wird, ist von der Person nicht zu trennen: Die Krankheit ist Bestandteil der Person, so wie die Person Bestandteil der Krankheit wird.

1.3. Der langfristige Verlauf der Schizophrenie

1.3.1. Verlaufsformen und ihre Ausprägungen

Es gibt drei große Untersuchungen über den langfristigen Verlauf von Schizophrenien (21). Da die Studie von Huber die Ergebnisse der beiden anderen Untersuchungen mit aufgenommen hat und außerdem noch die ausführlichste ist, beziehe ich mich im folgenden auf diese: In dieser Studie wurden alle Patienten, die in den Jahren 1945 – 1959 unter der Diagnose Schizophrenie in der Bonner Universitätsklinik stationär behandelt worden waren, noch einmal aufgesucht und befragt, und zwar in den Jahren 1967 – 1973. So gut wie alle vermutbaren Ursachen und möglichen Querverbindungen wurden untersucht. Insofern handelt es sich um eine außergewöhnlich ausführliche und differenzierte Studie. Wodurch ihr aber eine besondere Stellung zukommt, ist das Herausarbeiten von verschiedenen Ausprägungsformen der Schizophrenie sowie deren Verlauf in einem längeren Zeitraum. Doch dazu später.

Diese Untersuchung bringt auch sonst noch einige Überraschungen: Sie weist nach, dass Schizophrenie in ihrer Erscheinungshäufigkeit geschlechtsunspezifisch ist. Doch ist sie geschlechtsspezifisch, was das Lebensalter bei der Ersterkrankung angeht: Männer kommen im Durchschnitt mit 20 Jahren zum ersten Mal mit dem Psychiater wegen der genannten Krankheit in Kontakt, Frauen etwa zehn Jahre später. Huber vermutet dahinter als Ursache, dass Frauen mehr in einem Beziehungszusammenhang aufwachsen als Männer. Das ist dann freilich auch eine historische Kategorie. Ich denke, dass man heute bei einer solchen Studie auch den Aspekt mituntersuchen würde, inwieweit Berufstätigkeit von Frauen und Erstauftreten schizophrener Krankheitszeichen miteinander korrelieren; ein Aspekt, der zum damaligen Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht ins Blickfeld geraten konnte.

Auch die soziale Schichtzugehörigkeit ist so gut wie unspezifisch. Diese Untersuchung widerlegt die lange allgemein gehegte Vermutung, dass Schizophrenien in den Unterschichten häufiger auftreten würden als in anderen Schichten. Eher trifft das Gegenteil zu: Sie tritt am häufigsten in der oberen Mittelschicht auf, am seltensten in der unteren Mittelschicht, wenn man die Schichtzugehörigkeit vor der Erkrankung zu Grunde legt. Anders verhält es sich, wenn die Krankheit begonnen hat: Dann rutschen die von ihr Betroffenen nach unten ab (ein Beleg für die sogenannte Drift-Hypothese).

Die Ledigenquote ist mit 45 % sehr hoch.

Personen, die schon vor der Ersterkrankung beeinträchtigt schienen (vor allem schizoide Personen) haben eine auffallend geringere Chance auf Heilung als solche, die unauffällig waren.

Gestörte Familienverhältnisse (sog. broken-home-Situationen) haben keinen Zusammenhang mit der Entstehungshäufigkeit von Schizophrenie (wohl aber von Suchtkrankheiten). Was die Heilungsaussichten betrifft, so zeigt sich, dass Frauen, die aus einem solchen Milieu kommen, deutlich schlechtere Aussichten haben als Männer, bei denen sich dieser Zusammenhang eher positiv zuordnen lässt.

Am erschreckendsten sind die Untersuchungen über die bereits verstorbenen Patienten. Von den ursprünglich 758 erfassten Patienten waren 142 verstorben. Ihr durchschnittliches Lebensalter beträgt 48,4 Jahre! 24,2 % der Verstorbenen begingen Suizid; 14,4 % starben an indirekten Folgen der Schizophrenie (z. B. Nahrungsverweigerung) und 6,1 % an perniciöser Katatonie (das ist eine lebensgefährliche Erscheinung der Schizophrenie mit hohem Fieber und starken Muskelverkrampfungen); d. h. 44,7 % starben an direkten oder indirekten Auswirkungen der Schizophrenie (dabei sind noch nicht die tödlichen Unfälle mitgezählt, die möglicherweise eine Suizidhandlung bedeuteten, aber nicht letztgültig als solche nachgewiesen werden konnten; das wären noch einmal 1,6 % gewesen.). Dies ist und bleibt eine bestürzende Beobachtung.

Doch nun zu den Ergebnissen, die diese Untersuchung so wichtig und wertvoll machen: Huber beschreibt 15 Typen von „Endzuständen“ (d. h. Endzustände zum Zeitpunkt der Untersuchung), die von Vollremissionen über verschiedene Residualzustände und chronische Psychosen bis zu Defektpsychose ohne und mit Strukturverformungen reichen. Er untersucht dann diese Krankheitsschicksale ausführlich auf ihren Verlauf und mögliche diesen bedingende Einflüsse hin und kommt schließlich zu einer Beschreibung von 12 Verlaufstypen, die von monophasischen Erkrankungen, die zur völligen Heilung gelangen, über unterschiedliche Verlaufstypen bis hin zu den typischen schizophrenen Defektpsychosen, den sog. „Katastrophenschizophrenien“ reichen. Es ist hier nicht der Platz, alle möglichen Verlaufstypen zu schildern, zumal mein Interesse ja denen gilt, die mit großer Wahrscheinlichkeit einen jahrzehntelangen Klinikaufenthalt mit sich brachten. Es sei nur kurz erwähnt, dass Schizophrenien äußerst unterschiedliche Verläufe nehmen können: Sie können in einer oder mehreren Phasen verlaufen. Diese Phasen können unspezifisch sein oder auch den Charakter eines Schubs annehmen. Die Erkrankungsdauer sagt nichts über die Heilungschancen aus. Huber erwähnt ein Beispiel, wo über 30 Jahre lang eine blühende Psychose bestand, die sich dann plötzlich zurückbildete (Vollremission), ohne bleibende Schäden zu hinterlassen; während auf der anderen Seite Fälle dargestellt werden, wo es nach drei Jahren schon zu katastrophalen und nicht mehr revidierbaren Endzuständen kommt. Das nicht mehr Revidierbare, die irreversiblen Defektzustände, das ist das, was wir bei langfristig hospitalisierten Patienten in einer besonderen Häufung und Ausprägung antreffen.

Wenn es nicht zu einer Vollremission (22) kommt, dann bleiben Schäden, die von den Erkrankten (soweit sie sich noch dazu äußern können) als subjektiv schlimmes Erleben beschrieben werden: Sie können nicht mehr so wie früher. Die Krankheit wird erlebt wie ein Knick in der Lebenslinie. Das Leistungs- und Erlebensniveau vor der Erkrankung kann nicht mehr erreicht werden. Anstrengungen, um dies noch einmal zu erreichen, führen häufig zum Gegenteil. Bei manchen Krankheitsverläufen gibt es dann einen zweiten, als positiv erlebten Knick. Den Kranken gelingt es dann, auf einem neuen (niedrigeren) Niveau, sich einzurichten und ein anderes Leben zu führen. Sie können ihr Leben so gestalten, dass es ihnen weniger Stress zumutet; sie leben zurückgezogener als vorher. Meist ist diese Haltung begleitet von einer sorgfältig eingehaltenen Medikamentenneinahme und ärztlicher Begleitung. (Das bedeutet nicht, dass sie trotzdem noch gelegentlich akut erkranken können. Doch gelingt es dieser Patientengruppe meist, die ankündigenden Zeichen einer solchen Episode zu erkennen und sich rechtzeitig in ärztliche Behandlung zu begeben.)

1.3.2. Bleibende Beeinträchtigungen

Die meisten der befragten Patienten klagen über bleibende Beeinträchtigungen. Dabei waren auch mehrere Angaben möglich. Was die Untersuchung besonders wertvoll macht, ist, dass sie diese persönlichen Äußerungen bestimmten Defiziterfahrungen zuordnet. Ich halte diese Äußerungen für so lesenswert, dass ich sie in weiten Ausschnitten den jeweiligen Beeinträchtigungen zugeordnet zitiere.

1.3.2.1. Kognitive Störungen (Konzentrations-, Denk- und Gedächtnisstörungen)

Darüber klagen 75,4 % (69,8 % m, 80,1 % w).

„Jetzt bin ich eben nicht mehr der Mensch, der sich so konzentrieren und so viel leisten kann wie früher“.

„Ich bin vergesslich geworden. In meiner Wohnung sind z. B. viele Schranktüren; es fällt mir schwer zu behalten, was hinter den einzelnen Türen ist“.

„Was ich einmal geistig besaß, beherrsche ich nicht mehr. Ich meine, dass nicht alles so prompt aus dem Gedächtnis ans Tageslicht gebracht werden kann. Lernen, vor allen Dingen Rechnen ist nicht mehr das, was es einmal war“.

„Viel mit dem Kopf denken, das kann ich nicht mehr, das ist mir zu anstrengend geworden. Auch vieles Fernsehen ist mir zu anstrengend.“

„Wenn Besuch da ist, muss ich mich immer ganz auf den konzentrieren, der gerade spricht, sonst komme ich aus dem Konzept“.

Ein anderer Patient berichtet, er sehe ungern und selten fern, weil er keinen Zusammenhang finden könne; es sei, als ob er ein Brett vor dem Kopf habe. Gedächtnis und Konzentration seien ihm abhanden gekommen. Wenn viele Leute gleichzeitig sprechen, könne er nicht folgen; es werde ihm übel und er müsse sich hinlegen.

„Ich bin nicht mehr in der Lage, die Gedanken zusammenzuhalten“.

„Ich bin nicht mehr Herr über die Gedanken“.

„Ich habe keine Energie mehr zum Denken“.

„Das Reaktionsvermögen setzt aus.“

„Ich verstehe zwar, aber alles geht gleich wieder weg …“

„Das Denken ist so langsam, so verzettelt.“

„Das Lesen strengt an. Ich kann nicht mehr so aufnehmen.“

„Geistige Anstrengung über längere Zeit hin ist nicht möglich. Ich kann kein Buch lesen, kann den Inhalt nicht zusammenhalten oder zusammenfassen. Das Denken tut geradezu weh. Es ist nicht mehr so wie früher, gar kein Vergleich. Immer so ein gezwungenes Gefühl bei der Arbeit. Es läuft nicht mehr so am laufenden Band, so natürlich wie früher.“

„Ein Gefühl wie eine taube, dunkle Platte am Kopf. Ich kann nicht so gut denken, auch das Sehen ist behindert, das hält einen Tag oder Vormittag an.“

„Für alles brauche ich mehr Zeit, für jede Überlegung, die Gedanken sind weg, man muss immer wieder von Neuem anfangen. Ich muss immer wieder kontrollieren, die Dinge nochmals durchgehen. Ich kann nichts tun und es dann erledigt sein lassen. Alles muss ich nochmals von vorne überlegen. Ich bin dadurch viel unsicherer geworden, muss mich ständig anstrengen und konzentrieren.“

„Nach den Gesprächen muss ich, ob ich will oder nicht, jedes Wort, das ich sagte, wiederholen und mich fragen, ob ich nicht etwas Falsches oder zuviel sagte.“ (23)

1.3.2.2. Körperliche und seelisch-geistige Erschöpfbarkeit

Diese Beeinträchtigung wird von 71,2 % (72,1 % m, 70,5 % w) genannt:

„Ich ermüde jetzt schneller, bin ruhebedürftiger als früher.“

„Mit der Arbeit geht es nicht mehr so gut wie früher. Eine Stunde Arbeit, dann muss ich mich entspannen und hinlegen. Zwischendurch muss ich immer wieder ausruhen, um weitermachen zu können. Es ist wie ein ständiges seelisches Sich-aufraffen-Müssen.“

„Alles strengt mich besonders an, viel mehr als früher. Die körperliche Arbeit macht mich so fertig, dass ich keinen Gedanken mehr fassen kann.“

Nach dem Frühstück sei sie oft schon so fertig gewesen, dass sie sich habe wieder ins Bett legen müssen. Sie müsse überhaupt viel ruhen, könne nicht viel machen. Schon das Bettenmachen greife sie sehr an.

„Ich fühle mich nicht mehr so wie ein gesunder Mensch, höchstens noch zur Hälfte; z. B. wenn ich ein Stück Rasen geschnitten habe, bin ich so fertig, dass ich im ganzen Körper keine Kraft mehr habe. Acht Stunden an einem Stück wie früher könnte ich jetzt nicht mehr durcharbeiten; zwischendurch müsste ich mich immer wieder ausruhen.“

„Schon wenn ich 100 Meter gegangen bin, bin ich völlig fertig. Allein das Anziehen ist mir schon sehr beschwerlich.“ (24)

1.3.2.3. Störungen des Allgemeinbefindens und Leistungsinsuffienz

Darüber klagen 65,6 % der Befragten, dabei mit 70,5 % deutlich mehr Frauen als die Männer mit 59,7 %:

„Der Wille ist da, die Leistungsfähigkeit hat aber stark nachgelassen.“

„Es ist ein allgemeiner Kräfteabbau, eine allgemeine Körperschwäche.“

„Ich kann manchmal überhaupt nichts tun, liege im Bett. Ich muss mich selbst dazu überwinden, mich körperlich zu pflegen. Um etwas zu tun, muss ich mir immer vorsagen: du musst …“

Sie müsse sich oft hinlegen wegen ihrer Beschwerden, z. B. Leeregefühl im Kopf, innere Kälte, Vergesslichkeit. Häufig sei sie schlapp, dass sie tagelang nichts tun könne. Sie könne sich keine größeren Anstrengungen zumuten, selbst das Sprechen jetzt strenge sie an.

„In der letzten Zeit lag ich meistens. Nach dem Kaffeetrinken muss ich mich wieder bis mittags hinlegen … ganz abgeschlagen und erschöpft. Solche Zeiten des Absackens dauern oft Monate oder länger. Es geht auf und ab, aber es reicht nie zum Arbeiten.“

„Es ist kein Vergleich mehr mit früher. Eine unvorstellbare Müdigkeit, auch körperlich …“ (25)

1.3.2.4. Einbuße an Spannkraft, Energie, Ausdauer und Geduld

Diese stellen 61 % der nachuntersuchten Patienten fest:

„Früher habe ich mehr Ausdauer und Schwung gehabt als heute. Durchhaltevermögen und Spannkraft sind nicht mehr da.“

„Ich kann eine Arbeit nicht mehr lange tun, deswegen ist Hausarbeit, die abwechslungsreich ist und Pausen erlaubt, das Richtige für mich.“

„In den letzten Jahren habe ich Energie und Tatkraft eingebüßt. Das geht in Schüben vor sich. Ich werde immer langsamer.“

„Bei schweren Aushilfsarbeiten konnte ich morgens nur ein paar Stunden durchhalten, nachmittags war die Kraft weg. Elan und Spannkraft .. so wie das die anderen haben, das habe ich nicht mehr.“

„Im ganzen bin ich sehr ungeduldig geworden, besonders Kindern gegenüber.“

„Ich werde nervös, wenn ich etwas Feines flicken muss. Ich kann auch nicht mehr 1-2 Stunden dranbleiben. Ich habe die Ausdauer nicht mehr.“

„Mit meinem Sohn Karten zu spielen, ist mir zuviel. Ich habe zwar noch den Willen, etwas zu tun, der Körper aber tut nicht mehr mit.“ (26)

1.3.2.5. Leibgefühlsstörungen (Coenästhesien)

Darüber klagen 58,9 %, und mit 63,8 % deutlich mehr Männer als Frauen (55,1 %):

„Nach längerer Arbeit schlafen die Arme ein. Alles ist dann wie tot und abgestorben, irgendwie verkrampft. Manchmal habe ich einen Druck im Kopf, dann wieder einen Druck auf dem Ohr, auf der Stimme und auf den Augen. Dieses Druckgefühl wandert im Körper.“

„Ich habe immer einen dumpfen Kopf, eine dumpfe Stirn, oft auch ein Hitzegefühl im Kopf. Ich kann das nicht näher beschreiben oder lokalisieren. Ein brennendes Gefühl im Kopf wechselt mit einem kalten Gefühl ab, dann empfinde ich Körper und Kopf nicht mehr als angenehm und gesund. Die Beschwerden bestehen schon seit 22 Jahren.“

„In der Taillengegend habe ich so ein abschnürendes Gefühl, so eine schmerzliche Empfindung zum Herzen hin. Es ist nicht organisch schmerzlich, sondern mehr eine seelische schmerzliche Empfindung.“

„In der Schulter immer ein Reißen und Ziehen, in den Augenhöhlen ein Knistern, an der Fußhaut und in der Herzgegend ein Zittern, ein Vibrieren, ein Krabbeln. Das tritt besonders dann auf, wenn ich Menschen begegne oder jemanden treffe.“

„Bei der Arbeit empfinde ich plötzlich einen in die linke Seite hineinschießenden Schmerz, als ob man mit dem Messer hineinsticht. Ich bekomme dann keine Luft und glaube, dass ich sterben muss. Das Herz fängt an ganz schnell zu schlagen. Mir ist dann so zittrig und schlapp, das kommt ganz plötzlich. Ich kann singen und lachen und plötzlich wird mir schlecht, ganz automatisch. Wenn ich mich hinlege, geht es wieder vorbei.“

„Meine Glieder sind oft so schwer. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Glieder ganz dick würden. Dann ist es wieder so, als ob die Glieder weg wären, ganz komisch, ich kann das nicht beschreiben. Manchmal ist es auch so, als ob mir die Arme und Beine nicht mehr gehören und neben dem Körper schweben.“

„Plötzlich bekomme ich für etwa eine halbe Stunde auf der linken Seite einen Schweißausbruch und über der rechten Körperhälfte ein kaltes und schmerzhaftes Gefühl. Nachts um 2 Uhr tritt plötzlich Herzrasen auf, Beine und Arme versagen. Manchmal kann ich mich gar nicht rühren, das geht nach 10-15 min vorbei.“ (27)

1.3.2.6. Erhöhte Erregbarkeit und Beeindruckbarkeit

Dies wird von 58,2 % der Befragten angegeben, wobei sich die Frauen mit 65,4 % sehr deutlich von den Männern (49,6 %) abheben:

„Ich bin überempfindlich geworden, das macht sich auch im Beruf bemerkbar.“

„Ich bin nervöser, empfindsamer, rascher oben hinaus … Ich kann mich schwerer beherrschen.“

„Ich kann kein Buch mehr lesen. Ich erlebe dann alles noch einmal mit, komme nicht davon los. Alle Schwierigkeiten anderer Menschen empfinde ich mit und leide darunter.“

„Ich kann überhaupt schlecht abschalten. Nach Auseinandersetzungen muss ich unmäßig lange darüber nachdenken. Ich bin verletzlicher und kränkbarer geworden.“

„Ich bleibe an zufälligen Eindrücken und Fragen hängen. Fruchtlose Grübeleien über das, was tags zuvor war oder am nächsten Tag auf mich zukommt.“ (28)

Manche haben auch schon Konsequenzen gezogen:

„Ich will und muss mich abschirmen. Ich weiß, was mir nicht bekommt. Ich mache nur das, was ich unbedingt brauche.“

„Ich meide die Erinnerung an meine Erkrankung, weil ich in ihr eine Gefahr sehe.“

„Ich kann nicht mehr unter die Menschen gehen, ich bin dann irritiert. Alles, was plötzlich und unerwartet kommt, neu und ungewohnt ist, worauf ich nicht gerichtet bin, regt mich auf, macht mich beklommen und beengt… Ich werde leicht müde. Ich bin ca. 40 % schwächer als früher. Ich muss mich hinlegen, immer wieder Pausen machen, dann geht es wieder ein paar Stunden.“ (29)

1.3.2.7. Andere Merkmale

Die Liste der von der Huberstudie erfassten Klagen über Einbußen der persönlichen Lebensmöglichkeiten ist noch lang (insg. 24 Kategorien) und reicht von Belastungsunfähigkeit (46,7 %) über erlebte Impulsverarmung (24,2 %), das Unvermögen, sich zu freuen (20,3 %), bis zum Verlust an Frische und Unmittelbarkeit (2,1 %). Es wird darauf hingewiesen, dass 88,4 % der Patienten spontan und eindeutig des Erlebnis einer Veränderung, einer Minderung früherer vorhandener Fähigkeiten und Einbußen im Bereich des gesamtseelischen Antriebs und Gefühlslebens schildern. 53,3 % der Patienten sahen darin zugleich einen eindeutigen Zusammenhang zu ihrer Krankheit, obwohl sich bei einem Drittel im Verhalten eine ausgeprägte Abneigung feststellen ließ, sich mit dem früheren Krankheitsgeschehen zu beschäftigen (30).

1.3.2.8. Bedeutung für das Selbstempfinden der Patienten

Als Seelsorger interessiert mich insbesondere, wie ein solchermaßen Erkrankter seine Daseins- und Lebensmöglichkeiten empfindet. Wenn ich es richtig verstehe, dann empfindet er sein Leben vor allem als eine Erfahrung des Verlustes, des Fremdseins, aber auch der Beschämung. Solche Erfahrungen sind schlimm und verletzend, können auch als so demütigend erlebt werden, dass sie zu suizidalen Konsequenzen führen.

Auf die Bibel bezogen konkretisieren sie sich am deutlichsten im Schicksal des Hiob und in der babylonischen Vertreibung: Besiegt (um die Kompetenz gebracht), geschändet (um den eigenen Stolz gebracht) und fremdbestimmt (selbst der eigene Wille funktioniert nicht mehr); aber nicht nur das: auch noch verlacht (die doppelte Demütigung) und in die Rolle der Marginalität gedrängt (keiner kümmert sich mehr um sie).

Das Problematische beim Umgang mit dem genannten Personenkreis ist die Erfahrung, dass ein Erwähnen oder Benennen solcher Zusammenhänge möglicherweise zu einem Grad der Verletzheit führen kann, dass neue psychotische Rückfälle drohen. Es ist so, als würde man einen Menschen an einer besonders dünnhäutigen Stelle berühren, die zudem noch besonders sensibel ist und deren Berührung ihn zurückzucken lässt. Das Verständnis für einen solchen Menschen zeigt sich nicht im Berühren der genannten Stelle, sondern in ihrer Umgehung.

1.4. Chronische Verlaufsformen und langfristige Unterbringung

1.4.1. Ursachen

Wir nähern uns nun der Patientengruppe, die mich besonders interessiert. Es sind die bei Huber beschriebenen Verlaufsformen X-XII sowie die seltenen Fälle der Verlaufsform III. Mit Form III sind die reinen chronischen Psychosen. Sie treten sehr selten auf (4,2 %), aber sie stehen für die Menschen, von denen man landläufig sagt, dass sie total verrückt sind; also Menschen, die in ihrer Psychose leben und zu ihr so gut wie keine Distanzierungsmöglichkeit haben.

Die bei Huber beschriebenen Verlaufsformen X-XII umfassen immerhin 35,1 % der Erkrankten, die nicht vorher durch direkte oder indirekte Folgen der Schizophrenie verstorben sind. Das ist ein hoher Anteil. Dass sie schließlich (zusammen mit den Patienten der Verlaufsform III) dazu neigen, auf Dauer hospitalisiert zu werden, hängt auch mit den Beziehungen zur Umwelt zusammen. Es sind nur wenige familiäre oder sonstige sozialen Konstellationen denkbar, die es über Jahrzehnte fertigbringen, mit einem Menschen zusammenzuleben, der entweder in seiner permanenten psychotischen Produktivität seine Umwelt vor immer neue Rätsel stellt oder unter einem solchen Maß an Residualsymptomatik leidet, dass die damit Befassten die Flagge streichen (31).

(Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einige Beispiele, die ich als Gemeindepfarrer erlebte. Es handelte sich dabei meist um Erscheinungsweisen dieser Krankheit, die in den gerontopsychiatrischen Bereich fallen; da war es oft so, dass die mitbetroffenen Familien kurz vor der Auflösung standen, bevor sie sich zu einem psychiatrischen Hilferuf entschließen konnten.)

Ein zweiter Aspekt ist hier wichtig: Psychiatrische Auffälligkeiten sind für Angehörige (besonders im ländlichen Bereich) immer noch kaum verarbeitbar. Sie bedeuten Beschämung, Auffälligkeit und – auch als Folge der besonderen Zuwendung zu den Erkrankten – häufig sozialen Rückzug. So kommt es oft zu einem Drängen, die Erkrankten – wenn sie schon einmal in der Klinik gelandet sind – auch dort zu belassen.

1.4.2. Auswirkungen eines längeren Klinikaufenthalts

„Die Klinik ist die Ursache allen Übels“ oder „Schizophrene Dauerschäden sind Ergebnisse eines Anstaltsartefakts“, so war es immer wieder zu hören. Damit wird die Frage gestellt, ob es nicht die Nervenkrankenhäuser selbst sind, die solche irreversiblen Ausgänge der Krankheit Schizophrenie produzieren; oder handelt es sich dabei um Vorwürfe einer rationalisierten Umwelt, die es nicht ertragen kann, mit dem immer noch vorhandenen Leid fertig zu werden?

Wer eine Station mit dauerhospitalisierten Patienten oder Patientinnen betritt, den kann das Grauen überkommen. Auch hier in Alzey gibt es noch einige wenige Stationen, wo bis zu 16 Personen in einem Schlafsaal untergebracht sind, von dem anderen nur durch eine Glaswand getrennt. In manchen Stationen gibt es keine Schränke für die Patienten. Hinter einem Vorhang hängen die Kleider für alle. Es gibt einigermaßen freundlich eingerichtete Aufenthaltsbezirke, in denen häufig der Fernseher läuft, dessen Bildern viele der Patienten ohne Verständnis zu folgen versuchen.

Die Psychiatrieenquete der 70er Jahre hat diese und noch viel schlimmere Verhältnisse gegeißelt und manche Änderungen bewirkt. Doch vieles geht unsagbar zäh und langsam vorwärts. Auch die baulichen Maßnahmen, die in unserer Klinik angesagt sind, um einigermaßen humane Zustände auf die Stationen zu bekommen, werden mindestens noch zehn Jahre andauern; wobei es sicher nicht nur ein Zufall ist, dass die Stationen der Langzeitpatienten das Schlusslicht bilden.

Auch was die Frage der personellen Ausstattung mit Ärzten, Psychologen und Beschäftigungstherapeuten betrifft, liegen sie hinter anderen Stationen zurück (32).

1.4.3. Wie kommt es zur Dauerhospitalisierung?

Ich meine, dass es sich dabei um ein dialektisches Geschehen handelt, bei dem medizinische, soziale und lebensgeschichtliche Faktoren ineinandergreifen und diese Entwicklung fördern. Es gibt z. B. Patienten, bei denen Medikamente kaum eine oder gar keine Wirkung zeigen (33). Bei anderen lässt sich nur dann eine positive Beeinflussung erreichen, wenn die Medikation mit einer ausführlichen beruflichen und sozialen Rehabilitation kombiniert wird, wobei die verschiedenen noch zu gehenden Schritte hier erst einmal offen bleiben (34).

Was bei dauerhospitalisierten Patienten auffällt, ist der Umstand, dass soziale Verbindungen und Bezüge kaum mehr bestehen, ja teilweise auch schon vor der Dauerunterbringung kaum bestanden. In einer von W. Hartmann durchgeführten Untersuchung über schizophrene Patienten in Niedersachsen, die mindestens 5 Jahre dauernd in einer psychiatrischen Klinik untergebracht waren, wird auf folgende bemerkenswerte Ergebnisse hingewiesen: Nur ein Drittel dieser Patienten war jemals verheiratet (Gesamtbevölkerung damals 80 %). Zum Zeitpunkt des ersten Klinikaufenthaltes waren nur noch 20 % verheiratet, nach fünfjähriger Dauerunterbringung nur noch 2,6 %. Zwei Drittel der Dauerhospitalisierten hatten in den letzten 12 Monaten vor der Untersuchung überhaupt keinen Besuch mehr bekommen. Umgekehrt fällt auf, dass für die Patienten, die später wieder entlassen wurden, andere Begleitmerkmale zutreffen: bei ihnen sind mehr Personen anzutreffen, die jemals oder zum Zeitpunkt der ersten Klinikeinweisung verheiratet waren; sie haben häufiger noch lebende Angehörige und wurden auch oft noch von jemand ihnen Nahestehenden begleitet, als sie in die Klinik kamen. Vor allem wurden sie sehr viel häufiger besucht als diejenigen, deren Lebensweg dann oft in der Dauerunterbringung endet (35).

Damit ist freilich noch lange nicht alles erklärt. Es gibt auch persönlichkeits- und krankheitsspezifische Faktoren. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass schwierige und sozial schlecht angepasste Menschen eine sehr ungünstige Prognose haben genauso wie diejenigen, deren Ausprägung der Schizophrenie sich in Wahn und Stimmenhören äußert (36).

Darüber hinaus gibt es auch so etwas wie einen totalen sozialen Rückzug auf die Klinik. Dieser wird durch die Wesensmerkmale der Krankheit begünstigt. Aber auch das pflegerische Setting kommt dem entgegen und bekommt durch die meist unzureichende personelle Ausstattung mit Pflegekräften seine eigene Dynamik. Vieles kann auf Station schneller und ordentlicher erledigt werden, wenn es Schwestern und Pfleger alleine tun. Da braucht es auch viel weniger Ärger und Überzeugungsaufwand. Und den meisten Patienten kommt es subjektiv entgegen, wenn sie in jeder Hinsicht versorgt werden. Sie können in ihrer Wahnwelt bleiben; sie erfahren keine Beschämung dadurch, dass sie auf ihre herabgesetzten Leistungsmöglichkeiten gestoßen werden. Sie brauchen sich keiner Aufgabe zu stellen, die Disziplin und Durchhaltevermögen verlangt. Nur wenn es um Fragen des Geldes, der Zigaretten etc. geht, dann wird die Abhängigkeit in einem verletzenden Ausmaß erlebt und auch gelegentlich dagegen rebelliert. (Die wenigen geistig Behinderten, die noch auf unseren Langzeitstationen wohnen und leben, erfahren diese Situation m. E. ganz anders: Sie lassen sich gerne Aufgaben geben und dafür auch loben, sind andererseits recht zufrieden damit, dass sie versorgt werden.)

In den Reformansätzen der Psychiatrie (vor allem im letzten Jahrhundert unter Conolly (37) in England und im ersten Viertel unseres Jahrhunderts in Deutschland) gewann die Arbeitstherapie eine hervorragende Bedeutung: Die Patienten wurden in den Bereichen besonders ernst genommen, wo sie einerseits mit ihrer Umwelt (auch der rein materiellen, der Ackererde z. B.) in Kontakt treten konnten, andererseits aber auch soziale Kontakte aufnehmen mussten (und sei es nur ein kurzer Wortwechsel mit dem Kolonnenführer) und so gefordert wurden (38). Dabei war es offensichtlich über lange Zeit möglich, ein solches Zusammenleben wie ein betreutes Wohnen und Arbeiten zu gestalten, bis andere Einflüsse so stark wurden, dass solche Konzepte wieder aufgegeben wurden. Merkwürdigerweise wurde gerade dieses Nicht-mehr-Mitarbeiten, diese sogenannte Unproduktivität der Patienten diesen dann zum Vorwurf (mit weitreichenden Konsequenzen) gemacht (39). Viele Dauerpatienten haben unterdessen einen Arbeitsplatz in der Klinik oder in Werkstätten für Behinderte oder an anderen Stellen gefunden, wobei die Klinik ihr Zuhause bleibt. Bei solchen Arbeiten ist kein großes Geld zu verdienen. Aber es wirkt sich auf das Selbstbewusstsein der Patienten recht deutlich aus, wenn sie wissen, dass sie sozial- und krankenversichert sind; dass sie Artikel des täglichen Bedarfs (z. B. Zigaretten und Getränke) aus der eigenen Tasche bezahlen können und nicht mehr auf die durchschnittlich 80 DM angewiesen sind, die die Sozialhilfe oder anderen Kostenträger monatlich als Taschengeld gewähren. Voller Stolz erzählen sie auch immer wieder, dass sie Urlaub haben bzw. gehabt haben.

Auch sonst ist in die Langzeitstationen einige Bewegung geraten. Zunächst wurden wegen des Wunsches, diese Stationen zu verkleinern, viele Patienten in Heime verlegt. Es handelte sich dabei meist um Patienten, die von der Ausprägung ihrer Krankheit her eher unauffällig und gut zu haben waren. Das ist ein bedauerlicher Vorgang insofern, als gerade sie für Resozialisierungsprogramme besonders geeignet gewesen wären. In einer zweiten Stufe wird nun seit einigen Jahren versucht, langfristig hospitalisierte Patienten nach einem intensiven Training (Kochen, Einkaufen, selbständige Behördengänge etc.) wieder in Wohnungen oder betreuten Wohngemeinschaften anzusiedeln. Doch es gab auch Widerstände: Nur ungern wollte man solche Patienten gehen lassen, auf die man sich wegen ihrer Zuverlässigkeit in der Arbeitstherapie und auch ihrer relativen Belastbarkeit im kliniksozialen Kontext gerne verlassen oder an die man sich einfach gewöhnt hatte. Auch wucherten gewisse Ängste beim Personal: Wurden durch solche Maßnahmen nicht letztendlich Arbeitsplätze des Pflegepersonals gefährdet. In dieser Besorgnis stand man den Aussichten dieser Resozialisierungsmaßnahmen eher skeptisch gegenüber und nahm die anfängliche Unsicherheit und Unentschlossenheit der Patienten noch als stützendes Argument auf (40). Unterdessen haben sich Optimismus und Skepsis in etwa eingependelt. Es gibt meines Wissens kein psychiatrisches Krankenhaus mit Langzeitpatienten, das diesen Weg der Ausgliederung in Wohnungen nicht versucht. Es gibt aber umgekehrt immer wieder Patienten, die mit den Wohn- und Lebensformen außerhalb der Klinik nicht zurechtkommen. Gut geht es nach meiner Beobachtung vor allem bei denen, die einen regelmäßigen Kontakt mit der Klinik halten. Wichtig sind dabei auch begleitende Angebote, die von Kirchengemeinden oder örtlichen Gruppen der Wohlfahrtspflege geleistet werden können und einer qualifizierten Leitung bedürfen. Hier in Alzey gehen viele der ehemaligen Klinikdauerpatienten, die nun in der Stadt wohnen, in ökumenischer Eintracht dienstags zu den Katholiken und donnerstags zu den Evangelischen.

In letzter Zeit stoßen die Hilfsdienste oder -vereine, die in und mit den psychiatrischen Kliniken zusammenarbeiten und die soziale Reintegration von Langzeitpatienten fördern, auf ein ganz anderes Problem: Es wird immer schwieriger, überhaupt Wohnraum zu finden, geschweige denn solchen, der für solche Zwecke besonders geeignet wäre. Diesem Dilemma wird in den nächsten Jahren kaum zu begegnen sein, es sei denn, besondere Fördermöglichkeiten für die Erstellung eines solchermaßen zweckgebundenen Wohnraums würden geschaffen.

Aber auch wenn so gut wie alle, die für solche Maßnahmen infrage kämen, eines Tages die Kliniken verlassen hätten, bliebe dennoch eine stattliche Anzahl von Patienten zurück, die nicht nach draußen entlassen werden können und deren Verlegung in psychiatrisch nicht qualifizierte Heime eine Verschlechterung für sie selbst bedeuten würde. Wie bereits angedeutet, handelt es sich dabei um Patienten, die bei Huber unter den Verlaufsformen III und X-XII beschrieben sind (41). Um diese Kategorisierungen etwas deutlicher zu machen, will ich einige solcher Krankheitsverläufe schildern, die immer gleichzeitig auch Lebensläufe sind. (Sie sind so abgeändert, dass die Anonymität der Betroffenen geschützt bleibt.)

Patient 1: Seit über 35 Jahren krank. Zu Beginn Schlafstörungen, Konzentrationsverlust, Beeinflussungsideen. Erste Behandlungen in der Uniklinik. Nach der zweiten Einweisung in unsere Klinik berentet. Die 3. Einweisung (Stimmen sagen ihm, er solle sich umbringen) entwickelt sich dann zur Dauerunterbringung. Im Laufe der Jahre chronische Verschlechterung. Eine Zeit lang noch Teilnahme an der Arbeitstherapie (AT), doch auch dies wird aufgegeben. Gesprächstherapie ebenfalls abgebrochen wegen heftiger Erkrankung des Patienten. Weiter Leiden unter optischen und akustischen Hallunizationen und Leibgefühlsstörungen (von denen sich bei einigen dann allerdings doch eine organische Ursache zeigt). Dabei immer suizidgefährdet. Nimmt seit Jahren so gut wie keinen Kontakt zu seiner Umwelt auf, kommt aber recht häufig zu unseren Veranstaltungen. Meine Gespräche mit ihm gehen selten über einige Sätze hinaus, bei denen er meist über seine körperlichen Beschwerden klagt oder danach fragt, wann wir uns das nächste mal treffen.

Patient 2: Mitte 40. Kindheit unauffällig. Wurde von den Angehörigen als ein frohes Kind beschrieben. Erste Probleme nach Ende der Schulzeit. Häufige Behandlungen in der Uniklinik. Verschiedene Arbeitsversuche (zuletzt in einer Werksattt für Behinderte) scheitern. Kommt in die Klinik nach einem Suizidversuch (Stimmen befahlen ihm, in den Tod zu springen). Die Krankheit weitet sich aus: Verfolgungsideen, Stimmen, Essen vergiftet, Strahlenschäden durch Fernsehen etc. Familie lehnt ab, ihn aufzunehmen (!). Verlegung in ein Alters- und Pflegeheim, aus dem er nach geraumer Zeit wieder zurückverlegt wird, da ein weiterer Aufenthalt nicht möglich. Neuer Schub mit starker Wahnbildung in Richtung autistische Defektschizophrenie. Er geht weg, wenn er angesprochen wird; will keine Gespräche führen; äußert sich – wenn überhaupt – in kaum verständlicher Sprache (Nuscheln). Seit dieser Zeit kaum Veränderungen und ständig erneuerter Dauerunterbringungsbeschluss. Mir ist es bisher kaum gelungen, mit ihm Kontakt aufzunehmen, obwohl er mit den Augen sehr stark reagiert, wenn er mich sieht und öfters eine Miene macht, als wollte er etwas sagen. Er kommt aber regelmäßig zu unseren Veranstaltungen. Als es ihm einmal von seinem Befinden her nicht möglich war, mitzukommen, hat er Geschenke (Gummibärchen) für die Mitpatienten mitgegeben.

Patient 3: Unauffällige Kindheit und Schulzeit, die er mit der mittleren Reife abschließt. Bekommt langdauernde Kopfschmerzen. Daraufhin kommt es zu einer Infektionsidee (er ist infiziert – er wird infiziert – die anderen wollen ihn umbringen). Wird von den Eltern in die Klinik gebracht. Macht gut bei der Behandlung mit und bei der AT. Wird entlassen, kommt einige Monate später aus eigenem Antrieb in die Klinik. Klagt über Denkzerfahrenheit. Wieder entlassen, bis er mit einer akuten Psychose wieder von den Eltern gebracht wird. Zunächst klagt er über Konzentrationsschwäche, später kommt es zu verwirrten Handlungen (übergießt sich mit kaltem Wasser und isst Seife, um sich zu reinigen). Wird tätlich gegen Mitpatienten. Später Selbstverletzungen unter dem Befehl von Stimmen. Langsame Besserung. Wird regelmäßig besucht. Wird nach geraumer Zeit wieder entlassen. Nach einigen Monaten nehmen Unruhe und Angst wieder zu. Erste Aggressionshandlung gegen die Mutter. Er will aus eigenem Antrieb wieder aufgenommen werden und klagt darüber, dass er selbst einfachste Tätigkeiten nicht mehr hinbekomme. Beschuldigt sich selbst für seine Krankheit. Findet sich gut ein in die AT; bekommt weiterhin regelmäßigen Besuch von daheim und wird auch öfters für einige Tage nach Hause entlassen. Nach geraumer Zeit Verschlechterung. Wird aggressiv gegen Mitpatienten. Starke Rückzugstendenzen aus Angst vor Versagen. Die Heimurlaube gehen aber weiter gut. Nach einigen Jahren Besserung. Teilnahme an Arbeiten unter Aufsicht. Er wird in eine Rehaeinrichtung überwiesen. Dort bleibt er unauffällig und arbeitet mit, bis er plötzlich ohne jeden erkennbaren Anlass verschwindet. Wird von der Polizei aufgegriffen. Im Laufe der Jahre verschlechtert sich sein Zustand (Unsauberkeit, Getriebensein, Weglaufen bei Angesprochenwerden, ständige Selbstgespräche). Leichte Besserung durch veränderte Medikation. Dann wieder Verschlechterung. Verursacht häufig Körperverletzungen beim Pflegepersonal. Diese Aggressionen hören plötzlich auf, als die produktive Symptomatik verschwindet. Allerdings ist er nun nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Dazu kommt noch eine starke Antriebslosigkeit. Nach 12 Jahren Dauerunterbringung fängt er wieder mit Beschäftigungstherapie (BT) an, zunächst eine Stunde täglich. Es kommt zu einer langsamen Steigerung seiner Konzentrationsfähigkeit. Einige Jahre später Eingliederung in eine WfB, wo der Patient nach anfänglichem Widerstand nun seit einigen Jahren die volle Arbeitszeit mitmacht und sich zufrieden über seinen Arbeitsplatz äußert. Er kommt zu allen unseren Veranstaltungen und singt auch gerne mit. Bei Fragespielen möchte er gerne mitmachen, muss aber meist in ein Lächeln ausweichen und zeigt oft eine Mimik, die in meinen Augen ausdrückt: „Das habe ich doch schon mal gewusst.“

Patienten 4 und 5: Beide haben ein ähnliches Schicksal und auch eine ähnliche medizinische Diagnose: Es handelt sich um oligophrene Patienten mit einer sogenannten aufgepfropften Schizophrenie. Beide verloren als Kind schon ihre familiären Bezüge und wuchsen in Heimen auf. Irgendwie ist es ihnen auch gelungen, die Zeit des Dritten Reiches zu überstehen. Bei einem ist die produktive Symtomatik noch sehr auffällig, während der andere eher still ist. Beide kommen sehr gerne zu unseren Veranstaltungen und fallen eigentlich besonders dadurch auf, dass sie gerne mithelfen (Handgriffe machen), was die anderen geistig Behinderten ja auch ganz gerne machen, während es die anderen Langzeitschizophrenen eher ablehnen. Was ich für die beiden Genannten besonders erfreulich empfinde, ist die Tatsache, dass sie – obwohl sie praktisch ihr ganzes Leben in Heimen und Kliniken verbracht haben – trotzdem eine Rente bekommen, da sie in den letzten Jahren vor Erreichen der Altersgrenze durch arbeitsbeschaffende Maßnahmen noch sozialversichert wurden.

2 Neue Zugänge zu Langzeitschizophrenen

2.1. Das Brennerprogramm

Das Brennerprogramm geht von der Tatsache aus, dass die meisten Schizophreniekranken über einen Einbruch ihrer kognitiven Fähigkeiten klagen (s. o.). Und dies ist ja nicht nur ein subjektives Empfinden, sondern wird ebenso von der Umwelt als ein gestörtes Sich-in-der-Welt-Befinden wahrgenommen (42). Dem versucht das Brennerprogramm gegenzusteuern. Es versteht sich dabei als Bestandteil einer umfassenden Therapie, bei der auf mehreren Ebenen gearbeitet wird. Dabei weitet sich das therapeutische Konzept aus auch auf die gestörten kommunikativen und sozialen Bereiche (43).

Gegliedert ist das Programm in fünf Stufen: Es beginnt mit einem Training der kognitiven Differenzierung (44) und geht weiter über eine Verbesserung der sozialen Wahrnehmung (45) zu einem Training der verbalen Kommunikation (46). Es kommen dann in dem Konzept noch zwei weitere Schritte, nämlich das Training sozialer Fertigkeiten und des interpersonellen Problemlösens (47), doch meist kommen die Gruppen nicht bis zu diesen Stufen, zumindest nicht in Landeskrankenhäusern (48).

In unserer Klinik wird derzeit nur im mittelfristigen Bereich mit diesem Konzept gearbeitet. Dies ist insofern bedauerlich, als die bereits durchgeführten und zitierten Trainingsmaßnahmen mit Langzeitpatienten sehr gute Ergebnisse gebracht haben (49). Dies wird sich möglicherweise ändern, da in diesem Jahr erstmals in der Geschichte der Klinik ein Psychologe für den langfristigen Bereich eingestellt werden soll.

2.2. Das „Besuchsprogramm“

Dabei dreht es sich um eine alte Forderung der in der Psychiatrie Tätigen: Kontakte herstellen und pflegen zu Menschen, die im sogenannten Normalbereich leben und arbeiten. Wie in dem Kapitel über die Ursachen der Dauerhospitalisierung schon beschrieben, ist für den schizophren Erkrankten nichts so schädlich wie die völlige Abkapselung von der Welt außerhalb der Klinik. Es gibt unterschiedliche Ansätze für ein solches Programm. Meist hat sich die Form einer Patenschaft durchgesetzt, zumindest was ihre Wünschbarkeit betrifft. Denn in der Realität sehen die Ergebnisse meist mager aus. In unserer Klinik ist der Hilfsverein für psychisch Kranke zuständig für die Vermittlung solcher Patenschaften. Wie die Vorsitzende berichtet, ist es selten gelungen, mehr als 10 Paten zu gewinnen (bei derzeit insgesamt 210 Langzeitpatienten, davon etwa 40 % Langzeitschizophrene). Aber auch in anderen Kliniken besteht dieses Problem (50). Viele Landeskrankenhäuser sind schwer zu erreichen. Gerade die Langzeitpatienten stellen nicht vorher geschulte Laien vor schier unlösbare Probleme der Kommunikation. Die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen sowie die größere Mobilität machen dauerhafte Verpflichtungen in diesem und anderen Bereichen immer unwahrscheinlicher. Aber gerade die Konstanz von solchen Beziehungen wäre für Langzeitschizophrene sehr wichtig. Selbst Sozialarbeiter, die Pflegschaften von Berufs wegen übernommen haben, schaffen selten mehr als die jährlichen zwei Besuche (Geburtstag und Weihnachtsfeier) und fühlen sich dabei oft noch ausgebrannt. Wir sind froh, als Klinikseelsorger seit Jahren mit zwei ehrenamtlichen Helferinnen zusammenarbeiten zu können, von denen die eine erst im letzten Jahr dazugestoßen ist, nachdem eine andere aus Altersgründen ausgeschieden war. Wir werden immer wieder von den Langzeitpatienten angefragt, wann die Frauen wieder kommen. Diese Nachmittage bedeuten für die Patienten offensichtlich unverzichtbare Begegnungen.

2.3. Konsequenzen

2.3.1. Schwergewicht auf Gruppenseelsorge

Eine der Konsequenzen aus dem in den letzten beiden Absätzen Berichteten besteht darin, Langzeitpatienten vor allem als Gruppe seelsorgerlich zu betreuen. Dies hat mehrere Gründe und Ziele:

  1. Gemeinschaft wird erfahren.
  2. Die häufig erfahrene Situation des Nichts-Sagen-Könnens wird vermieden.
  3. Die Gruppenmitglieder regen sich gegenseitig an.
  4. Die Gruppennachmittage werden ein zuverlässiger Bestandteil des Lebens.
  5. Regelmäßiger Kontakt mit Menschen, die nicht zur Klinik gehören.
2.3.2. Angstabbau durch Überschaubarkeit des Settings

Was mich bei der beobachtenden Teilnahme der Brennergruppen besonders beeindruckt hat, ist die Erfahrung, dass weiterführendes Aufnehmen und Lernen offensichtlich dort für schizophrene Patienten möglich wird, wo das Setting klar ist. Das entspricht in etwa den Erfahrungen, die wir als Klinikseelsorger bereits vorher mit den Langzeitpatienten gemacht hatten, wenn auch nicht so dezidiert und als methodisches System verstanden. Was mir schon lange deutlich wurde, ist, dass die Patienten einen klaren und wenn möglich immer gleichen bzw. ähnlichen Ablauf wünschen, der dann inhaltlich sehr wohl geändert werden kann und soll. Aber gerade diese Zuverlässigkeit des Ablaufs und der methodischen Bestandteile sind ihnen sehr wichtig. Jede abrupte Störung wird ängstlich oder sogar als katastrophal erlebt (51). So hat sich im Laufe der Zeit ein Verlaufsraster der Nachmittage herausgebildet, das einen fast liturgischen Charakter hat und bei dem die Patienten bisweilen den nächsten Schritt anmahnen (52). Als Verlaufsschema hat sich bislang folgendes formales Raster herausgebildet:

  1. Wir nehmen unsere Plätze ein. Das dauert seine Zeit. Einige sind unbeholfen und es muss ihnen geholfen werden. Andere suchen nach den Aschenbechern und verteilen sie (Rauchen ist einfach das täglich Brot der Psychiatrie). Dann entsteht ein Gemurmel, begleitet vom Hin- und Herrücken der Stühle. Ein oder zwei Patienten sind meist noch nicht ganz orientiert und wollen davonlaufen. Ihnen sagen wir dann, dass wir diesen Nachmittag hier zusammen verbringen und lotsen sie auf ihre Plätze. Manchmal steht auch der Wunsch hinter diesem Weglaufen, dass jemand woanders sitzen möchte. Nach einiger Zeit konzentriert sich die Atmosphäre auf den Beginn des Nachmittags.
  2. Begrüßung: Ich heiße alle willkommen und ordne das Treffen zeitlich ein (nehme also Bezug auf das letzte Treffen oder auf die Jahreszeit und das Wetter oder auf ein Fest, das bevorsteht bzw. gerade zurückliegt). Dann nenne ich das Thema des Nachmittags. Wir haben immer nur ein Thema und üben uns immer noch darin, es möglichst eng zu fassen (53).
  3. Lied zum Anfang: Sehr gerne singen wir das Dankelied. Überhaupt singen die Patienten recht gerne und haben mit Musik zu tun. Wenn es vom Thema her möglich ist, singen wir auch ein dazu passendes Lied. Die Qualität des Gesangs ist denkbar schlecht. Manche summen nur mit oder stoßen irgendwelche Töne aus. Aber die Patienten wissen sehr wohl zu unterscheiden, ob sich ihre Bemühungen der Melodie angenähert haben oder nicht. Wenn es gut geklappt hat, dann fangen sie oft an zu klatschen und zu trommeln, um so ihrer Freude Ausdruck zu geben.
  4. Evangelium (biblische Besinnung): Dazu nehme ich eigentlich immer eine Diageschichte. Stehende Bilder sind etwas sehr Anziehendes für schizophrene Patienten, die den schnell laufenden Fernsehbildern meist nicht folgen können. Die Bilder können nicht einfach genug sein. Sehr bewährt haben sich Diaserien mit Bildern von Kees de Kort, soweit sie Gesamtansichten und keine Ausschnitte zeigen. Bei diesem Punkt des Programms wird die Atmosphäre meist recht konzentriert. Manchmal ergänze ich diesen Teil noch durch eine entsprechende Bibellesung. Dann singen wir noch ein Lied, das zu dem Thema passt und kommen zum
  5. Kaffeetrinken und Kuchenessen: Dies ist der sichtbare Höhepunkt unserer Nachmittage und auch der Anlass für immer neu aufflackernde Debatten. Sicherlich ist es richtig, dass viele Patienten wegen dieses Programmpunktes (auch) kommen. Nun kann ich daran nichts Schlimmes finden. Besonders die geistig Behinderten, die auch auf den Langzeitstationen leben, schlagen bei diesem Punkt voll zu. Was mich ärgert ist die Argumentation von einigen Pflegekräften, die ein gemeinsames Essen und Trinken nicht als Bestandteil der Seelsorge anerkennen wollen und dabei schon viel Porzellan zerschlagen haben (54). Faktum ist, dass die Patienten jeden Nachmittag etwas zu Essen und Trinken auf ihren Stationen bekommen. Was mag sie dann so für unser gemeinsames Essen erwärmen? Ich denke mir, dass es die Atmosphäre ist: Das Spüren, dass sie eingeladen sind und dass sie als Personen ernstgenommen werden mit ihren Fragen und manchmal bizarren Gefühlen. Damit tut sich eine Mannschaft, die außerhalb des Stationsalltags lebt, zweifelsohne leichter als diejenigen, die häufig in Unterbesetzung bis zu 25 Patienten und mehr betreuen und durch den Tag führen müssen. Ein gegenseitiges Anerkennen der jeweiligen Arbeit bringt meines Erachtens allen Beteiligten mehr. – Das Kaffeetrinken ist ein Programmpunkt, den ich ohne Bedenken als Mahlgemeinschaft charakterisieren möchte (ohne ihm den Rang eines Sakramentes beizumessen; an dieser Stelle muss sich die Kirche sicherlich schützen). Aber von der seelsorgerlichen Qualität einer solchen Gemeinschaft her gesehen, sind sicherlich keine Abstriche möglich oder nötig.
  6. Weiteres Programm: Manchmal singen wir nur Lieder zum Thema (z. B. Winter oder Erntedank). Diese unterbrechen wir oft durch einfache Ratespiele. Manchmal bringen auch die Mitarbeiterinnen ein dazu passendes Gedicht mit oder erzählen eine Begebenheit. Dies wird von den Patienten meist mit Beifallskundgebungen bedacht. Sie spüren genau, dass sich da jemand etwas für sie ausgedacht oder mitgebracht hat. Gute Dienste leisten uns in diesem Zusammenhang auch Diaserien für den Schulgebrauch (55). Oder Gegenstände mitbringen (56). Was sich bei allen Patienten (ganz gleich ob Langzeitschizophrene, Langzeitepileptiker oder geistig Behinderte) großer Beliebtheit erfreut, sind Sitztänze, nach Möglichkeit als Lied. Wir singen also ein Lied und machen bestimmte Bewegungen dazu. Dabei entwickelt sich doch ein gewisser Ehrgeiz, diesem Bewegungsablauf folgen zu können. Wegen der durch die jahrelange Medikation verursachten Unsicherheit des Gleichgewichtssinnes machen wir nur Sitztänze und keine Bewegungstänze im Stehen.
  7. Gebet und Vaterunser: Nach einem neuerlichen Lied kommt dann der Zeitpunkt (57), an dem wir meist an das Gebet erinnert werden. Ich versuche immer, in dem Gebet das Thema des Nachmittags aufzunehmen und in ihm auch die unterschiedlichen Beziehungen untereinander und zur Umwelt einzubringen. Das Vaterunser ist ein Gebet, das alle Patienten können und das wir gemeinsam sprechen. Es ist wie das gemeinsame Essen ein Stück gemeinsamer Teilnahme und auch der Erfahrung, etwas mit anderen gemeinsam zu können.
  8. Abschluss: Zum Abschluss gehört der Dank an die Mitarbeiterinnen und diejenigen, die mitgeholfen haben, den Nachmittag zu gestalten sowie ein Segenswunsch. Danach räumen wir noch gemeinsam auf und begeben uns auf den Weg zurück auf die Stationen, sofern die Veranstaltung nicht schon selbst auf der Station stattfindet.
2.3.3. Beim Namen nennen (Anrede)

Soweit ich das beurteilen kann, sind gerade schizophrene Patienten extrem empfindsam, was den Umgang mit ihnen angeht. Selbst wenn sie zu einem sogenannten Defektschizophrenen der schlimmsten Kategorie (58) geworden sind, haben sie trotzdem ein gutes Gespür dafür, ob sie als Mensch ernst genommen werden oder nicht. Mir erscheint es deshalb richtig, alle schizophrenen Patienten zu siezen (mit Sie anzureden), selbst dann, wenn sie einen mit Du ansprechen (was ich bei geistig Behinderten z. B. nicht mache). Ich rede sie auch grundsätzlich mit Herr oder Frau und ihrem Nachnamen an. Dies schafft auch den Raum, in den hinein sich jemand, der aus welchen Gründen auch immer, einen Teil seiner Selbstkompetenz verloren hat, wieder zurückentwickeln kann. Es erspart ihm aber vor allem unnötige Verletzungen. Denn so schlimm die Schäden auch sein mögen, immer scheinen sich diese Patienten doch eine Erinnerung dafür behalten zu haben, dass sie einmal jemand anders waren und sein könnten. (Das unterscheidet sie in deutlicher Weise von geistig Behinderten.)

3. Theologische Implikationen

3.1. Praktisch-theologische Positionen

Es gibt bislang kein praktisch-theologisches Konzept, geschweige denn eine fundierte Theologie für die Seelsorge in Krankenhäusern, obwohl unterdessen fast jedes Leben in solchen Häusern beginnt, in Krisen begleitet wird und dort endet. Noch erstaunlicher ist, dass ein solches Konzept für die Seelsorge an psychisch Kranken noch nicht in Angriff genommen ist, die kurze oder längere Zeit in einer Klinik untergebracht sind. Von einigen zaghaften Ansätzen (die sich mit dem Problem der Depression befassen) abgesehen, gibt es nur einige Aufsätze zur Rolle (nicht zur Aufgabe!) der KlinikseelsorgerInnen oder dem persönlichen Erleben der mit ihr Befassten (59). Dabei werden einige Ansätze zu einer Positionsbestimmung (60), (61) (das ist schon mehr als eine Rollendefinition) erkennbar. Schizophrene Langzeitpatienten tauchen in ihnen so gut wie nicht auf. Hier setzt sich die Ausgrenzung der Gesellschaft fort (62). Die wenigen Ansätze, die ich gefunden habe, weisen einerseits darauf hin, dass der Faktor Zeit eine wichtige Rolle spielt und oft nur ganz geringe seelische Bewegungen zu erreichen sind (63), (64). Wichtiger sind aber noch Positionsbestimmungen, die deutlich aussagen, daß Seelsorge nicht dort aufhört, wo keine Therapie mehr möglich ist, sondern als eine den Menschen begleitende Aufgabe bei psychiatrischen Pflegefällen selbstverständlich weiter mitgeht genauso wie bei dem Aids-Patienten, für den es keine medizinische Hoffnung mehr gibt (65).

3.2 Weitere theologische Überlegungen

Es wäre schön und nicht ganz unbequem, wenn es direkte Anweisungen aus der Bibel für den Umgang mit psychisch Kranken heute gäbe. Aber diese gibt es so nicht, und wo der Versuch gemacht wird, gerät das Unternehmen leicht in die Richtung eines dürftigen Plagiats (66). Sicherlich gibt es grundlegende Überzeugungen, die seit der jesuanischen Wende ihre Gültigkeit haben und diese unter Beweis stellten: So z. B. das Besuchsgebot (67). Aber eine direkte Abgleichung des Umgangs Jesu mit den Kranken auf die Behandlung von psychisch Kranken unter den Bedingungen einer medizinisch-wissenschaftlich arbeitenden Klinik erscheint nicht nur schwer möglich, sondern umgeht auch die noch zu leistende Aufgabe, die notwendigen Vermittlungsschritte zu gehen – und zwar sowohl für das eigene Selbstverständnis der Seelsorger(innen) als auch der Erkrankten (68). Es gibt wohl Begleitaspekte, die sich ähneln, so z. B. die soziale Isolation der Kranken mit den Konsequenzen eines innerlichen Rückzugs und die schwierige Aufgabe, einen Zugang zu ihnen zu finden (69). Aber andererseits ist z. B. der Zusammenhang zwischen dem Entstehen psychiatrischer Krankenhäuser und den durch die Industrialisierung hervorgerufenen sozialen und ethischen Umbrüchen zumindest zeitlich nicht zu leugnen (70). Das sagt nichts anderes aus, als dass Menschen nur noch danach bewertet werden, inwieweit sie im industriellen Produktonsprozess als sogenannte freie (71) Arbeiter zu gebrauchen sind bzw. ob sie die üblichen Verkehrsformen einer arbeits- und konsumteiligen Gesellschaft stören oder nicht. Was vormals Strafe Gottes oder Besessenheit war, wird nun Krankheit, im schlimmsten Falle chronische Krankheit und damit chronische Nichtbrauchbarkeit. Der Platz in der Gesellschaft geht verloren. Existenzmöglichkeit besteht anscheinend nur noch in den von der Gesellschaft ausgegrenzten Bereichen. Dies bedeutet weitere Verletzung und als Reaktion häufig Suizid, völlige Abkapselung und seelische Verödung oder psychotische Dauerflucht.

3.3 Beheimatung als seelsorgerliches Ziel

Wenden wir uns noch einmal der angesprochenen Personengruppe zu und fragen danach, welche Zielrichtung seelsorgerliches Bemühen für sie haben könnte, und halten uns dabei alles vor Augen, was wir bislang über ihr Situation und ihre Befindlichkeit erfahren haben: Also die Entstehung der Krankheit und ihre möglichen Ursachen; die Zeiten, in denen mit einer gewissen Berechtigung und Hoffnung gegen die Krankheit angegangen wurde; das langsame Absterben der sozialen Beziehungen und der persönlichen Fähigkeiten, die eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen; schließlich das Sich-Einrichten(-Lassen) in einem Krankenhaus oder Pflegeheim. Dazu gehört auch die Erfahrung des Verwaltetwerdens und der Einbuße verschiedener Fähigkeiten und Energien sowie des Getrenntseins von der sog. Normalwelt. Mich selbst erinnern schizophrene Langzeitpatienten immer ein wenig an eine Menschengruppe, die ich in meiner Kindheit im ersten Nachkriegsjahrzehnt kennengelernt habe: Menschen, die aus welchen Gründen auch immer mit den chaotischen Auswirkungen des Krieges nicht mehr zurechtkamen bzw. den Weg der anderen in die Welt des Wirtschaftswunders nicht mitgehen konnten. Die meisten richteten sich in Gartenlauben oder barackenähnlichen Behausungen vor den Toren der Stadt ein und weigerten sich hartnäckig, von dort wegzuziehen, trotz aller gesellschaftlichen Ächtung, die sie erfuhren. Als ähnlich meine ich die Stimmungslage von Langzeitschizophrenen nachempfinden zu können: Ich würde es als ein geistig-seelisches Ausgebombtsein bezeichnen, bei dem einfach die Kraft fehlt, noch einmal von vorne oder von neuem zu beginnen; manchmal auch als ein Herumirren in seelischen Ruinen oder ein Sich-Verstecken darin. Insofern ist es eine äußerst heikle Frage, wann und wo der Punkt gekommen ist, wo es nicht mehr gut und zuträglich für den Patienten ist, mit ihm noch weitere Rehabilitationsmaßnahmen zu beginnen, weil ihm damit sein letztes bisschen Land noch in Frage gestellt wird. Aus seelsorgerlicher Sicht scheint es mir in vielen Fällen besser, ihm seinen Platz zu lassen und lebenswerter zu gestalten. Das bedeutet für die mit der Pflege befassten Berufsgruppen, eine freundlichere Ausgestaltung der Lebensräume (Zimmer, Aufenthaltsräume etc.), für den Seelsorger einen Wechsel der Zielangaben. An die Stelle von Ermutigung z. B. tritt dann so etwas wie Beschaulichkeit, an die Stelle von hoffnungsfroher Planung wehmütige oder dankbare Erinnerung, an die Stelle von Aufbruch Beheimatung. Gerade dieses letztgenannte Ziel ist die Antwort auf das Thema „Verlust, Vertreibung, Auf-der-Flucht-Sein“, das das Leben der schizophrenen Langzeitpatienten begleitet, ja in seiner wahnhaften Ausdeutung oft schon bei den Ersterkrankungen auftaucht (z. B. jemand will mir den Platz wegnehmen; die anderen lassen mich beobachten, weil sie mir Böses wollen etc.).

Ein solches seelsorgerliches Ziel anzusteuern, verlangt große Sensibilität und Rücksichtnahme bei den angewandten Vermittlungsschritten. Nach meinen bisherigen Erfahrungen bewähren sich dabei vor allem Lieder, die bei den Patienten als von früher her bekannt vorausgesetzt werden können. Diese lösen oft starke Gefühlsbewegungen aus (72). Gleiches gilt für Bildmotive, angesprochene Themen und auch das praktizierte Miteinander. Auch nach mehrjährigen Erfahrungen mit solchen Patientengruppen lerne ich immer noch dazu, die verwendeten Bilder, Themen und Motive noch einfacher zu machen (und damit eindeutiger) und uns beim Miteinander noch mehr Zeit zu lassen. Dabei können wir dann immer wieder Überraschendes erleben (73). Die Kategorie Beheimatung bedeutet aber noch etwas anderes. Sie sagt zu dem Patienten: Du bist akzeptiert hier, so wie jeder Mensch in einem übergeordneten Sinn akzeptiert ist. Dein Dasein als Dauerkranker wird nicht (mehr) in Frage gestellt. Wir suchen gemeinsam nach Wegen, wie wir es uns auch einmal schön machen können, indem wir gemeinsam fröhlich oder besinnlich sind, miteinander singen, spielen oder Bilder betrachten. Theologisch ausgedrückt heißt das, dass der von Gott übernommenen Akzeptation des Menschen nichts mehr hinzugefügt wird. Sie drückt sich aus in dem, wie wir in diesen Stunden miteinander umgehen.

Dazu kommt noch die objektive Tatsache, dass der Seelsorger immer gleichzeitig ein Repräsentant der Welt außerhalb der Klinik ist; dies umso mehr, wenn er mit Laienhelfer(inne)n zusammen solche Nachmittage gestaltet. Dies bedeutet aber keineswegs Laienmitbeteiligung um jeden Preis (74), vielmehr muss ein Vertrauensverhältnis gewachsen sein, was freilich seine Zeit braucht. Und dieses sich auf die Patient(inn)en Einlassen, das sie Ernstnehmen in ihrer Verletztheit und Gebrochenheit (auch in der oft so schwerfällig erscheinenden Langsamkeit der emotionalen Kommunikation), ist die unabdingbare Grundlage jedes therapeutischen und seelsorgerlichen Bemühens, schafft aber zugleich auch schon jene Inseln, auf denen so etwas wie Daheimsein (75) entstehen kann. Damit ist nun aber kein räumlicher Bereich gemeint, sondern ein Raum, in dem die Seele der Patient(inn)en ihren Platz finden kann.

Also doch nur Kommunikation? Dazu ein ganz klares Ja, wobei mir das „nur“ merkwürdig erscheint, weil es – wie geschildert – gerade so schwierig ist, mit der angesprochenen Patientengruppe in Kontakt zu kommen. Ich würde zwar nicht so weit gehen wie D. Stollberg und vom „Sakrament echter Kommunikation“ (76) reden, meine aber schon so weit gehen zu können, dass ich eine solche gelungene Kommunikation auch als ein Stück gelebtes Evangelium empfinde und ansehe: „Gelingende, in der Seelsorge stattfindende Kommunikation hat damit Anteil an dem Heil, das das Evangelium verheißt, wenngleich bescheidener und bruchstückhafter, jedoch auch erfahrbarer und konkreter.“ (77) Oder anders gesagt und ein Motiv aus dem Neuen Testament aufnehmend: Es ist „offenbar nicht möglich, des guten Hirten gewiss zu werden, ohne dass wir Menschen erleben, die uns und denen wir Hirten werden.“ (78) Das Erstaunen des Dogmatikers über die materiale Wirklichkeit des Evangeliums ist bei diesem Zitat unüberhörbar (vielleicht könnte der Begriff „offenbar“ zu einer ganz neuen Offenbarungstheologie führen!).

Ich möchte an dieser Stelle noch einige Schritte weiter gehen und den Gedankengang dieser Arbeit mit einem Brückenschlag zur Philosophie abschließen (auch wissend, welche Missverständnisse die Einführung des Begriffes „Heimat“ oder „Beheimatung“ als seefsorgerliche Kategorie auslösen kann):

Der Philosoph Ernst Bloch beendet sein Werk „Das Prinzip Hoffnung“ mit dem Hinweis, dass wir als Menschen eigentlich noch in der Vorgeschichte leben und die eigentliche Genesis noch ausstehe: „Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende.“ (79) Genesis als befreite Menschwerdung. Um zu ihr zu gelangen, muss der Mensch noch einige Schritte tun: „Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (80)

Nun sind es gerade die Entäußerungen und Entfremdungen, ja auch der Mangel an realer Demokratie, die das Sein von schizophrenen Kranken ausmachen; wenn sie zu Langzeitpatienten werden, in einem noch stärkeren Maße. Und gleichzeitig scheint die seelische Heimatlosigkeit der Ausgangspunkt ihrer Leiden zu sein. Ich frage deshalb, ob diese Kranken (so nennen wir sie) in ihrem spezifischen So-Sein nicht auch ein Spiegelbild einer spaltungskranken Welt sind, die von Freiheit redet, aber ständig neue Abhängigkeiten schafft; die den Frieden im Munde und die Waffen gleichzeitig mit der Hand führt; die die Einheit (81) hochhebt und von der Spaltung profitiert. (Damit keine Missverständnisse entstehen: Damit ist nicht die grundsätzliche Möglichkeit gemeint, dass Menschen an Schizophrenie erkranken, sondern die jeweils spezifische Form, Ausprägung und Themenaffinität der Schizophrenie.)

Es wäre also auch umgekehrt zu fragen: Welche Aufschlüsse über unsere Existenz können wir von den angesprochenen Menschen bekommen, die im Profil unserer Lebensart ihre Schattenexistenz leben. Können sie nicht auch ein Schlüssel zum besseren Verständnis unserer selbst werden? Ich will dies anhand einer Meditation über den Psalm 23 versuchen (82): Die in der Anmerkung erwähnten Möglichkeiten erscheinen im Bezug auf das Verhältnis zu schizophrenen Dauerpatienten entweder als unangemessen oder sogar als Verspottung. So bleibt eigentlich nur die Möglichkeit der paradoxen Beziehungsumkehrung. In Ihr kann dann deutlich werden, welche Eigenschaften und Ängste von der „normalen“ Welt abgespalten werden (müssen?), auch in der möglicherweise lebenslangen Ausgrenzung solcher chronisch Kranker; sei es nun eine gewollte oder durch die faktischen Verhältnisse so entstandene. In jedem Falle kann sie uns etwas über unsere eigenen Schwächen und Defizite klarmachen, aber eben nicht von vorne, sondern von hinten her gesehen.

Ich würde diese Meditation über Psalm 23 so fortsetzen:

Du bist für mich kein Hirte, sondern eine Herausforderung.
Wenn ich Dir begegne, merke ich, was mir alles fehlt.
Du erinnerst mich an die Wüsten meiner Seele
und daran, wie abgestanden mein Lebenswasser oft schmeckt.
Das Zusammensein mit Dir belastet mich:
Unsere Gespräche enden fast immer in Sackgassen.
Deine finstere Traurigkeit
kann ich manchmal kaum mehr aushalten
und wenn Du zornig wirst, bekomme ich Angst.
Den Tisch räumst Du ab,
bevor ich mich dazu setzen kann.
Meinen Teller hast Du leergefuttert und meinen Kaffee umgekippt.
Du schimpfst herum, wenn der Zucker alle ist.
Dein Schicksal verunsichert mich und mein Lebenskonzept.
Und wenn Du während der Predigt aufstehst
und türeknallend die Kirche verlässt, dann merke ich:
Dich kann heute keiner erreichen.

Literatur

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Küenzlen, G.: Tendenzen gegenwärtigen Lebensgefühls, in WzM 1988, S. 465-475

Kleucker, E.: Probleme der Krankenseelsorge, Beispiel Psychiatrie; Berliner Hefte 38, Berlin 1975

Lange, E.: Arbeitstherapie und rehabilatives Arbeitstraining unter neuroleptisch-thymoleptischer Behandlung, in: Hinterhuber / Kulhanek / Fleischhacker (Hrsg.): Kombination therapeutischer Strategien bei schizophrenen Erkrankungen, Vieweg Verlag 1990

Lücht-Steinberg, M.: Seelsorge in der Psychiatrie, in: WzM 1983, S. 178-194

Marx, K.: Das Kapital, Bd. I, Dietz Verlag Berlin 1969

Mohs, U.: Statistische Untersuchungen an langjährig hospitalisierten Schizophrenen, in: Der Nervenarzt 1966, S. 34ff

Olbrich R.: Die Verletzbarkeit der Schizophrenen: J. Zubins Konzept der Vulnerabilität; in: Der Nervenarzt 1987, S. 65-71

Poensgen, H.: Alternative Verkündigung mit Psychiatriepatienten, in WzM 1983, S. 194-202

Roder / Brenner / Kienzle / Hodel: Integriertes psychologisches Therapieprogramm für schizophrene Patienten (ITP), Psychologie Verlags Union München – Weinheim 1988

Schiff, J. L.: Alle meine Kinder; Kaiser Verlag München 1980

Schmidt-Degenhardt, M.: Disposition – Vulnerabilität – Verletzlichkeit; in: Der Nervenarzt 1988, S. 573-585

Scholten: Die Seelsorge in der Geisteskrankenpflege, in: Jaspersen, K.: Lehrbuch der Geistes- und Nervenkrankenpflege, Verlagshandlung der Anstalt Bethel (6. Aufl.) 1965

Schulte / Tölle: Psychiatrie (4. Aufl.); Springer-Verlag 1977

Seiler, D.: Beziehungen – Phantasie – Meditation; in WzM 1975, S. 213ff

Simon, H.: Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt; Walter de Gruyter & Co. Verlag

Stollberg, D.: Mein Auftrag – Deine Freiheit; Claudius Verlag München 1972

Süllwold, L.: Schizophrenie; Kohlhammer Verlag 1983

Veltins, A. u. a.: Arbeitstherapeutische Situation langjährig hospitalisierter Patienten, in: Der Nervenarzt 1970 / S. 173-177

Zaunbrecher, D.: Sind frühe Stufen der visuellen Informationsverarbeitung bei Schizophrenen gestört?, in: Der Nervenarzt 1990, S. 418-425

Anmerkungen

1 Sehr gut beschrieben sind die Probleme, die zwischen ärztlichem, bzw. pflegerischen Personal und Patienten auftreten können in: Das fehlende Krankheitsbewusstsein der Patienten als praktische Gegebenheit psychiatrischer Therapie und wie Therapeuten mit ihr fertig werden, aus: Fengler, C. u. T.: Alltag in der Anstalt; Psychiatrie-Verlag Rehburg-Loccum 1980.

2 Eine kurze und präzise Beschreibung der schizophrenen Symptome sowie deren Klassifizierung in Untergruppen findet sich bei Schulte / Tölle: Psychiatrie (4. Aufl.); Springer-Verlag 1977, S. 160ff sowie bei Dörner, K. / Plog, U.: Irren ist menschlich (2. Aufl.), Psychiatrie Verlag Bonn 1984, S. 152ff. Eine etwas davon differenzierende Beschreibung kann man bei Glatzel, J.: Spezielle Psychopathologie, Enke Verl. Stuttgart 1981, finden. Er geht dabei von den verschiedenen ursprünglichen Wesensäußerungen von Schizophrenie und Depression aus (z. B. Wahngedanken, Manien etc.) und interpretiert dann eine weiterreichende psychische Schädigung als Melancholie.

3 Glatzel, J.: Haben Psychosen Ursachen, in: Neue Praxis braucht neue Theorie, Verlag Jakob van Hoddis Gütersloh 1987, S. 101.

4 Vgl. die Untersuchungen des norwegischen Psychiaters E. Kringlen, zitiert und interpretiert bei Benedetti, G.: Ausgewählte Aufsätze zur Schizophrenielehre; Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1975, S. 35ff; zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Lilo Süllwold in ihrem Buch Schizophrenie, Kohlhammer Verlag 1983, S. 59ff.

5 Spötter sprechen in diesem Zusammenhang gerne von der Suche nach den „Schizophrenokokken“.

6 Ditfurth, H. v.: Der Geist fiel nicht vom Himmel; Hoffmann und Campe, Hamburg 1976.

7 Ebd. S. 331.

8 Ebd., S. 332.

9 Dörner, K. / Plog, U.: Irren ist menschlich (2. Aufl.), Psychiatrie Verlag Bonn 1984, S. 150ff.

10 Benedetti, G.: Ausgewählte Aufsätze zur Schizophrenielehre; Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1975, bes. S. 25-31.

11 Ebd.

12 Schiff, J. L.: Alle meine Kinder; Kaiser Verlag München 1980.

13 Hartmann, W.: Schizophrene Dauerpatienten; Enke Verlag, Stuttgart 1980, S. 75ff.

14 In letzter Zeit wird z. B. der Frage nachgegangen, ob zwischen der Entstehung von Schizophrenie und Augenkrankheiten ein Zusammenhang bestehen konnte: vgl. Zaunbrecher, D.: Sind frühe Stufen der visuellen Informationsverarbeitung bei Schizophrenen gestört?, in: Der Nervenarzt 1990, S. 418-425.

15 Schmidt-Degenhardt, M.: Disposition – Vulnerabilität – Verletzlichkeit; in: Der Nervenarzt 1988, S. 573-585.

16 Olbrich R.: Die Verletzbarkeit der Schizophrenen: J. Zubins Konzept der Vulnerabilität; in: Der Nervenarzt 1987, S. 65-71.

17 Ebd.

18 Benedetti, G.: Der psychisch Leidende und seine Welt; Fischer Verlag Frankfurt a. M. 1984, S. 152.

19 Hervorhebung von mir.

20 Glatzel, J.: Haben Psychosen Ursachen, in: Neue Praxis braucht neue Theorie, Verlag Jakob van Hoddis Gütersloh 1987, S. 104f.

21 a) Ciompi, L. / Müller, C.: Lebensweg und Alter der Schizophrenen. Eine katamnestische Langzeitstudie bis ins Senium; Springer V. 1976; b) Bleuler, M.: Die schizophrenen Geistesstörungen im Lichte langjähriger Kranken­- und Familiengeschichten; Thieme Verlag Stuttgart 1973; c) Huber, G. / Groß, G. / Schüttler, R.: Schizophrenie; Springer-Verlag 1979.

22 Damit ist gemeint, dass die Krankheitssymptome wieder verschwinden, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen.

23 Huber, G. / Groß, G. / Schüttler, R.: Schizophrenie; Springer-Verlag 1979, S. 125f.

24 Ebenda, S. 126.

25 Ebenda, S. 126f.

26 Ebenda, S. 127.

27 Ebenda, S. 128.

28 Ebenda, S. 129.

29 Ebenda, S. 129.

30 Ebenda, S. 133f.

31 Nach Janzarik ist die Strukturverformung bei chronischen Verläufen wesentlich typischer als die Entgleisung biologischer Funktionen. Janzarik, W.: Geschichte und Problematik des Schizophreniebegriffes, in: Der Nervenarzt 1986, S. 681-685.

32 Ganz neue Ideen hat K. Dörner in seinem Aufsatz Von der veranstalteten zur gelebten Zeit: Das Recht auf Arbeit für Langzeitpatienten, in WzM 1986 anvisiert. Er beschreibt dabei selbst einige Schritte als Phantasie, z. B. dass die Hälfte des Personals dafür eingestellt wird, mit den Patienten gemeinsam in Produktionsbetrieben tätig zu sein.

33 Dencker, S. J. u. a.: Therapieresistenz bei Schizophrenie: Eine Standortbestimmung, in: Schizophrene Erkrankungen; Vieweg & Sohn, Braunschweig/Wiesbaden 1988, S. 272ff., S. 272ff.

34 Hogarty, G. E.: Resistenz schizophrener Patienten gegen eine soziale und berufliche Rehabilitation, in: Schizophrene Erkrankungen, Vieweg & Sohn, S. 219-242.

35 Hartmann, W. / Meyer, J. E.: Übersichten zur stationären Behandlung chronisch Schizophrener in der Bundesrepublik, in: Der Nervenarzt 1974, S. 1-8.

36 Mohs, U.: Statistische Untersuchungen an langjährig hospitalisierten Schizophrenen, in: Der Nervenarzt 1966, S. 34ff., sowie bei Hartmann, W. / Meyer, J. E.: Übersichten zur stationären Behandlung chronisch Schizophrener in der Bundesrepublik, in: Der Nervenarzt 1974, S. 1-8.

37 Freudenberg, R. K.: Das Anstaltssyndrom und seine Überwindung, in: Der Nervenarzt 1962, S. 165-172.

38 Simon, H.: Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt; Walter de Gruyter & Co. Verlag, bes. die S. 24ff. Auf den Seiten 52-55 beschreibt Simon übrigens, wie es aus seiner Sicht vor einigen Jahrzehnten auf den Unruhigenabteilungen zuging, und vergleichen Sie dies mit den heutigen Zuständen!

39 Eines der erschütterndsten Beispiele in diesem Zusammenhang stellt die Geschichte des LKH Heppenheim (a. d. B.) dar. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts errichtet, war die Klinik von Anfang an mit 2- und 3-Bettenzimmern ausgestattet. Zu jeder Station gehörte ein Stück Land, auf dem die Patienten zusammen mit dem Pflegepersonal Obst und Gemüse anbauten und so ihren Beitrag zur täglichen Ernahrung erwirtschafteten. Außerdem gab es noch den Gutshof und Werkstätten, in denen die Patienten mitarbeiteten, die dazu in der Lage waren. In den 20er Jahren wurden dann die Wände zwischen den einzelnen Zimmern herausgerissen und Schlafsäle errichtet (wahrscheinlich mit dem Argument der Personaleinsparung), im Rahmen der T4-Aktion dann fast alle Patienten umgebracht.

40 Guth, W.: Betreutes Wohnen für Langzeitpatienten, in: Fortschritte in der Behandlung chronischer Psychosen; perimed-Fachbuch-Verl. Erlangen 1988.

41 Vgl. auch den Beitrag von C. Gaedt: Ein „Ort zum Leben“ – ein Reformkonzept für geistig und psychisch Behinderte?, in: Die Unheilbaren; Psychiatrie-Verlag Rehburg-Loccum 1983, S. 47-56.

42 Brenner, H. D. u. a.: Kognitive Therapie bei Schizophrenen: Problemanalyse und empirische Ergebnisse, in: Der Nervenarzt 1987, S. 72.

43 Ebd.

44 Ein Beispiel: Die Teilnehmer der Gruppe sitzen im Halbkreis vor der Tafel. Einer hat einen Zeitungsartikel mitgebracht, den er dann vorliest. Außerdem hat er mit einem Mitglied des therapeutischen Teams Fragen vorbereitet. Die Gruppenteilnehmer berichten nun der Reihe nach, was sie gehört und verstanden haben. Dies wird an der Tafel notiert. Jeder weiß, wann er drankommt und welche Frage er beantworten soll. Bei Unklarheiten wird die Gruppe zu Rat gezogen. – Eine andere Möglichkeit: Es werden zu einem bestimmten Begriff Wörter gesucht, die das gleiche bedeuten (oder das Gegenteil). Auch hier wieder die gleiche sichere Struktur: Jeder weiß, wann er dran ist, welche Frage gestellt wurde und gegebenfalls Korrektur durch die Gruppe.

45 Beispiel: Die Gruppenteilnehmer betrachten Dias, auf denen Menschen zu sehen sind. Sie versuchen zu klären, in welcher Situation sich diese Menschen befinden (z. B. einen Titel für das Dia finden) oder die Stimmung dieser Menschen zu beschreiben. Das Setting ist genauso straff wie beim Programmpunkt kognitive Differenzierung. Aber die Kommunikation untereinander nimmt schon einen größeren Raum ein. – Es soll unterdessen auch eine andere Möglichkeit des sozialen Wahrnehmungstrainings geben, das mit Geräuschaufnahmen arbeitet, was insofern als sinnvoll erscheint, als schizophren Erkrankte häufig über akustische Halluzinationen oder Bedrängungserlebnisse berichten.

46 Hier steht im Mittelpunkt das Achten auf die Gesprächsbeiträge der anderen Gruppenmitglieder und das Trennen der eigenen Gedankengänge von denen der anderen.

47 Idealtypisch sieht eine Training der sozialen Fähigkeiten so aus; dass persönliche Probleme im Rollenspiel bearbeitet werden, wobei es daruf ankommt, die neugewonnenen Lösungsmöglichkeiten zu verstärken. Beim interpersonellen Problemlösen geht es darum, personengebundene Steuerungsmöglichkeiten zu entwickeln, die stressige Situationen zu vermeiden helfen, eng gekoppelt mit einem Wissen um die Situationen, die einem Erkrankten schaden können.

48 Eine genaue Darstellung des Konzeptes befindet sich in: Roder / Brenner / Kienzle / Hodel: Integriertes psychologisches Therapieprogramm für schizophrene Patienten (ITP), Psychologie Verlags Union München – Weinheim 1988.

49 Ebd., S. 129 und 135, sowie der oben genannte Aufsatz, S. 77 und 79.

50 Fees, U.: Laienhilfe – ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Reintegration psychotisch Kranker am Beispiel des Modells der Pfalzklinik Landeck, in: Fortschritte in der Behandlung chronischer Psychosen, perimed-Fachbuch-Verl. Erlangen 1988. Hier wird beschrieben, welch ungeheuren Einsatz es erforderte, um Laienhelfer zu gewinnen, u. a. auch die Errichtung einer hauptamtlichen Stelle zur Betreuung der LaienhelferInnen.

51 Ich erinnere mich an einen Nachmittag, den wir wegen einer mangelnden Absprache der Raumbenutzung abbrechen mussten. Nie mehr habe ich die Patienten so verstört und aufgescheucht erlebt. Wir wichen dann in einen anderen Raum aus, aber es war wie bei einem Symphoniekonzert im Fernsehen, bei dem man plötzlich den Ton abgestellt hat. Die Patienten liefen umher wie Masken ihrer selbst. Und auch vom Pflegepersonal war zu erfahren, dass die Patienten ganz anders als sonst gewissermaßen teilnahmslos ihren Tag beendeten.

52 So weist uns ein oligophrener Patient, der sonst kaum einen verständlichen Satz herausbringt, immer an der richtigen Stelle darauf hin, dass nun das Gebet dran sei. Er tut dies oft einfach damit, dass er die Hände faltet und deutlich sichtbar hochhält.

53 Als ein Patient (Herr M.), der vor seiner körperlichen Erkrankung immer mit bei den Nachmittagen gewesen war, verstorben war, hatte ich die Gruppe begrüßt und gesagt, dass wir uns aus diesem Anlass an diesem Nachmittag mit dem Thema Sterben beschäftigen wollen. (Es war auch kurz vor Totensonntag). Wir näherten uns diesem Thema mit einer Diaserie, in dem ein kleines Mädchen den Tod eines alten Mannes erlebt („Anna und der alte Mann“), mit dem sie vorher immer gespielt hatte. Als die Stelle kam, an der von Annas Trauer um diesen Mann berichtet wird, meldete sich plötzlich ein Patient zu Wort: „Herr Pfarrer, wissen Sie schon, dass der Herr M. gestorben ist?“ Das heißt also, dass seine Beziehung zu dem Thema an der Stelle gefunden wird, wo von Trauer und Verlust (m. E. dem Thema der Langzeitschizophrenen überhaupt) gesprochen wird.

54 So fühlten sich manche der ehrenamtlichen Helfer durch ungeschickte und unnötige Bemerkungen des Pflegepersonals sehr verunsichert.

55 Dazu benütze ich den Medienkatalog der Landesbildstelle, z. B. beim Thema „Vom Getreide zum Brot“ – Bilder über das Handwerk des Bäckers. Gut ist es auch, selbst Diaserien herzustellen, z. B. jeden Monat ein Bild über eine gleiche Stelle in der Klinik aufzunehmen und so einen Jahresablauf zu dokumentieren.

56 Eine der größten Überraschungen erlebten wir beim Thema „Korn“, das wir anlässlich des Wochenspruchs zum Sonntag Laetare „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt“, Joh. 12, 24) ausgewählt hatten. Wir hatten von Weizen über Roggen und Gerste auch Hafer, Dinkel, Grünkern, Buchweizen und Reis in Körnerform mitgebracht, was viele der schizophrenen Langzeitpatienten ohne große Mühe unterscheiden konnten, während wir manchesmal uns noch auf den Tütchen vergewissern mussten, um welches Getreide es sich da handelt.

57 Vgl. Anmerkung 52.

58 Vgl. bei Huber, G. / Groß, G. / Schüttler, R.: Schizophrenie; Springer-Verlag 1979, unter „Katastrophenschizophrenien“‘, bes. die S. 209-214.

59 Z. B. Adam I.: Alltägliches aus der Klinik – Seelsorge in der Psychiatrie; in WzM 1981, S. 347 – 356, oder Frör, P.: Macht und Ohnmacht – Szenen aus dem psychiatrischen Krankenhaus, in: WzM 1982/280-285.

60 Klessmann, M.: Seelsorge im Krankenhaus: Überflüssig – wichtig – ärgerlich!, in WzM 1990, S. 421-433.

61Scholten: Die Seelsorge in der Geisteskrankenpflege, in: Jaspersen, K.: Lehrbuch der Geistes- und Nervenkrankenpflege, Verlagshandlung der Anstalt Bethel (6. Aufl.) 1965, S. 142-146.

62 Damit ist nicht nur die Ausgrenzung der schizophrenen Patienten gemeint. Wenn Theologie etwas zu kritisieren hat, dann ist es vor allem die Ausgrenzung all der Menschen, die nicht in das Anpassungsschema der industriellen Leistungsgesellschaft passen. Kirche wird sich heute zum wiederholten Male fragen müssen, auf welcher Seite sie steht. Meines Erachtens besteht ihre Aufgabe nicht darin, die Wertsch(r)öpfer der Gesellschaft zu vertreten, sondern ihr Gewicht für diejenigen einzulegen, die in dieser Gesellschaft allzuleicht unter die Räder geraten. – Das bedeutet keineswegs, diesen in ihren Meinungsäußerungen oder ihrem Verhalten Recht zu geben. Das bedeutet vielmehr, sie wahrzunehmen und in ihrem Lebensrecht zu bestärken. – Sehr beeindruckend finde ich in diesem Zusammenhang den Artikel von Küenzlen, G.: Tendenzen gegenwärtigen Lebensgefühls, in WzM 1988, S. 465-475.

63 Vgl. Cost-Schneider, A.: Wachsen tut weh, in: Im Spannungsfeld Psychotherapie – Seelsorge, hrsg. von Arno Schleyer; Verlag der Francke-Buchhandlung, Marburg 1983, S. 9.

64 Auch L. Ciompi hat in seinen Zehn Thesen zum Thema Zeit in der Psychiatrie in: Ciompi & Dauwalder (Hrsg.) Zeit und Psychiatrie, Huber Verlag Bern 1990, S. 11-25, sein Programm mit Langzeitpatienten noch einmal revidiert und vor allem seine zeitlichen Vorgaben für Verhaltenänderungen der Patienten korrigieren müssen.

65 Lücht-Steinberg, M.: Seelsorge in der Psychiatrie, in: WzM 1983, bes. die S. 184f. Ihr verdanke ich auch den Hinweis auf die Broschüre von Kleucker, E.: Probleme der Krankenseelsorge, Beispiel Psychiatrie; Berliner Hefte 38, Berlin 1975, S. 50: „Theologisch bedrückend an der … Festlegung auf Gesundheit ist, dass Leben als Kranker oder gar Sterbender nicht mehr als richtiges Leben zu gelten scheint. Im Nachdenken über das Aufarbeiten dieser Problematik fällt auf, dass es gar niemand zu geben scheint, der sich in der Welt und in der Sprache der Therapeuten auch nur einigermaßen auskennt, ohne ihrer Berufsideologie verpflichtet zu sein, und der ihnen deswegen ein echtes Gegenüber bilden könnte. Es ist schlimm, dass sich die kirchliche Krankenseelsorge noch so stark im Sog der Therapie befindet, dass sie kaum fähig ist, den Therapeuten eine partnerschaftliche Seelsorge aus dem Gegenüber anzubieten.“

66 So z. B. Fuchs, O.: Theologische Aspekte zur Interaktion mit psychiatrischen Patienten, in WzM 1988, S. 87-95. Die Fragestellung fasziniert: Hat die Theologie etwas zu der Art und Weise zu sagen, wie man psychisch Kranken begegnen dürfte und müsste…?

67 Matthäus 25, 36a, in: Die Bibel (vielfältige und sehr verschiedene Ausgaben, aber in der Unterteilung der Bücher und Kapitel seit einigen Jahrhunderten immer recht leicht erkennbar!)

68 Ein immer wieder auftauchendes Motiv bei der Seelsorge in der Psychiatrie mit schizophren Erkrankten ist die Besessenheit. Die Patienten suchen dann nach einem „vollmächtigen“ Seelsorger, der sie von ihrer Besessenheit befreien könnte. Dabei kann es zu schlimmen Ergebnissen kommen (z. B: der Tod einer Patientin in Klingenmünster, der durch Exorzismusrituale hervorgerufen wurde). Nach meiner bisherigen Erfahrung dient ein solches religiöses Verweisraster so gut wie immer dazu, einerseits die Qual einer Psychose zu benennen, andererseits jede Möglichkeit der Behandlung zu unterlaufen. Damit ist noch nichts gesagt über die Not eines Menschen, der diesen Weg gehen muss.

69 Nicht anders kann ich die Begegnung Jesu mit den Besessenen verstehen, als er die bösen Geister in die Schweine jagt, d. h. in die unreinste Kreatur, die sich ein gläubiger Jude vorstellen konnte. Dies bedeutete nicht Zaubertum, sondern Befreiung!

70 Dörner, K. / Plog, U.: Irren ist menschlich (2. Aufl.), Psychiatrie Verlag Bonn 1984, S. 465-469; Dörner, K.: Bürger und Irre; Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1984, bes. S. 229ff.

71 So sehr gut bei K. Marx beschrieben: Ein Mensch ist nur noch insofern interessant, als er frei ist. Damit ist ein Mensch gemeint, der nicht mehr der Leibeigenschaft unterliegt; der also frei dafür ist, dass er sich in den Arbeitsprozess einspannen lassen kann. Dies bedeutet also zweifellos ein emanzipatorisches Movens, dem unsere bürgerliche Freiheit bis heute entspricht. (Marx, K.: Das Kapital, Bd. I, Dietz Verlag Berlin 1969, besonders die Kapitel 2 „Der Austauschprozess“, 12 „Teilung der Arbeit und Manufaktur“ und 14 „Absoluter und relativer Mehrwert“). Was ist aber mit denjenigen, die bislang so nebenbei mitgeschleppt wurden und nun in den zweckrationalisierten Bereichen der Industriegesellschaft nur noch als Störenfriede erscheinen? Als Menschen, die den Produktionsprozess aufhalten oder für ihn nicht verwertbar sind; als Menschen, die menschliche Arbeit binden und damit unprofitabel machen; einfach als Kostenverursacher. Die radikalste Antwort darauf hat das T-4-Gesetz gefunden, das alle Menschen, die mehr Kosten verursachten, als sie eingebracht hatten, der Vernichtung übergab. (Sehr gut dokumentiert bei Klee, E.: „Euthanasie“ im NS-Staat, Fischer Verlag FfM, 1983).

72 Am Ende unserer Nachmittage singen wir oft das Lied „Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss…“. Ich bemerkte dabei, dass ein Patient langsam ganz in sich gekehrt wurde und feuchte Augen bekam. Ich sprach ihn auf seine Traurigkeit hin an, worauf er mich fragte: „Wissen Sie, warum ich hier bin? Wer hat mich hierher gebracht?“

73 Beispiel: Aus klinikorganisatorischen Gründen mussten wir den Raum wechseln, in dem wir uns treffen. Während wir vorher um Tische herum saßen, die in Quadratform aufgestellt waren, fanden wir uns nun plötzlich in einem Raum wieder, in dem die Tische nur in einer Reihe aufzustellen waren, also wie ein Schlauch. Mir behagte das gar nicht, bis ich feststellte, dass die Patienten anfingen, sich gegenseitig beim Kaffeetrinken zu bedienen, also Milch und Zucker über den Tisch hin- und herreichten und so ein Stück weit miteinander in Kontakt kamen.

74 So haben wir keine sehr guten Erfahrungen gemacht mit Gruppen, die uns nur in der Weihnachtszeit „beglücken“ wollten. Dies erleben die Patient(inn)en oft als eine unangemessene Einmischung. Viel wichtiger ist es ihnen, mit den Personen, mit denen sie auch sonst zu tun haben, eine weihnachtliche Stimmung zu erleben.

75 So bezeichnen auch viele der Langzeitpatienten ihre Station als ihr Zuhause.

76 Stollberg, D.: Mein Auftrag – Deine Freiheit, München 1972, S. 25.

77 Lücht-Steinberg, M.: Seelsorge in der Psychiatrie, in: WzM 1983, S. 193.

78 Barth, H. M.: Partnerzentrierte Seelsorge als Herausforderung an die systematische Theologie, in: W. Fischer (Hrsg.), Anthropologie als Thema der Theologie, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1978, S. 211.

79 Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung (Gesamtausgabe Band V); Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1975, S. 1628. Wenn ich es richtig verstanden habe, will Bloch damit sagen, dass die Genesis mit dem Sich-Seiner-Bewusstwerden des Menschen Hand in Hand geht. „Sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen.“ (ebd.) Auf eine ähnliche Schwellenüberschreitung hatte ja H. v. Ditfurth hingewiesen (vgl. Anmerkung 6).

80 Ebd. Hervorhebungen vom mir.

81 So ist die Spaltung der Kirchen ein Tatbestand, der schizophrene Kranke häufig sehr quält. Sie können sie nicht verstehen und akzeptieren. Wer ist nun krank, könnte man fragen: Diejenigen, die unter dieser Spaltung leiden, oder diejenigen, die sie entgegen aller Grundlagen, auf die sie sich berufen, legitimieren?

82 Angeregt dazu worden bin ich durch einen Artikel von Seiler, D.: Beziehungen – Phantasie – Meditation; in WzM 1975, S. 213ff., in dem er anhand des Psalms 23 die unterschiedlichen Beziehungsmöglichkeiten durchdekliniert: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. – Du bist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. – Ich bin Dein Hirte, Dir wird nichts mangeln. – Der Herr ist Dein Hirte, Dir wird nichts mangeln. Wie wäre ein solcher Psalm in der Beziehung Seelsorger – schizophrener Dauerpatient zu formulieren?

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