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Klaus Berger: Wider das Contrafaktische

Anfang 2003 fiel mir ein Beitrag von Prof. Klaus Berger in die Hände, in dem er zu meinem Aufsatz „Marie, die reine Magd“ im Deutschen Pfarrerblatt vom März 1998 Stellung nahm und den er mir mit diesen Worten zusandte:

Lieber Herr Kollege, hier sehen Sie, wie Ihre Anregung in mein Denken eingeflossen ist.

Daher noch einmal herzlichen Dank!
Ihr K. Berger

Hier finden sie meine Antwort auf seinen Beitrag.
Helmut Schütz

Madonna-Statue: Maria mit goldener Krone und blauem Gewand hält vor sich auf dem Schoß das schon etwas ältere Jesuskind, in Gelb gekleidet.
Klaus Berger argumentiert gegen theologische Positionen, die das Wunderhafte zum Beispiel der Jungfrauengeburt in etwas Uneigentliches auflösen (Bild: Bernhard StärckPixabay)

Im Zusammenhang mit der Dialektischen Theologie hat sich das Stichwort von der „contrafaktischen Realität“ eingebürgert. Contrafaktisch soll demnach die Annahme der Auferstehung als Kehrseite der Kreuzigung sein, ebenso die Erwählung der Jünger im Kontrast zu ihrer Sünde (vgl. besonders Barnabasbrief), die Heiligsprechung des Sünders, die Umdeutung der sexuellen Geschäftigkeit der Sünderin als „Liebe“ durch Jesus nach Lk 7. Jüngst hat man dieses Schema sogar auf die Schwangerschaft Mariens ausgeweitet: Gerade die (angeblich) Missbrauchte oder Vergewaltigte sei durch Gottes Willen eben „voll der Gnade“. Und Paulus, der Verfolger, werde zum heiligen Apostel.

Eher wird nun offensichtlich Verschiedenes durcheinandergeworfen. Aus meiner Sicht ist in keinem der Fälle die Denkweise des Neuen Testaments „dialektisch“ in dem Sinne, als ob das Geringe, Sündige, Schwache zugleich nach Gottes Willen das Gegenteil sei: so als nenne Gott das Schwarze nach freier Willkür weiß, und zwar gerade das Schwarze. Hier wird ein voluntaristisches Gottesbild geradezu auf die Spitze getrieben.

Und vor allem beruht die Rede vom Contrafaktischen darauf, dass konsequent der Auferstehung Jesu der Realitätscharakter abgesprochen wird, und ebenso ist es mit der durch den Heiligen Geist bewirkten Schwangerschaft. Erst wenn man beides nicht mehr glaubt oder glauben kann und will, greift man zum Contrafaktischen. Denn das Wort bedeutet ja, dass etwas faktisch nicht ist, nur von Gott total umgewertet wird, und zwar gewiss aus Liebe. Aber was hilft es, wenn diese Liebe nur formal ist, wenn sie nur das betrifft, was etwas vor Gott wert ist, ohne dass diese Liebe wirklich den Menschen erreicht. Das, was man „mystische Fakten“ oder „mystische Wirklichkeit“ nennt, gibt es für diese Perspektive einfach nicht.

Im einzelnen:

a) Die Auferweckung ist nicht die Kreuzigung, und beides geschieht nacheinander. Ich bleibe hier naiv beim Wortlaut und nehme die „drei Tage“ ernst. Selbst im JohEv ist die Kreuzigung nicht die Verherrlichung. Sie ist als Stück Erhöhung gedeutet, weil der Gekreuzigte über der Erde hängt. Aber der Evangelist spricht hier von Erhöhung, um realsymbolisch anzudeuten, dass die Kreuzigung in den Rückweg Jesu zum Vater gehört. Das ist nicht contrafaktisch, sondern eben symbolisch zu nennen. Denn das Hängen am Kreuz ist tatsächlich ein Schritt in den Himmel, der Tod ist logischerweise die erste Stufe auf dem Weg der Rückkehr zu Gott.

b) Auch die Erwählung des Gekreuzigten bei Paulus nach 1 Kor 1 bedeutet nicht dialektische Identität, sondern das, was Gott aus dem macht, was vor der Welt gekreuzigt, schwach, arm usw. ist. Andernfalls wäre es logisch, jeden Armen und Nicht-Edlen als Erwählten zu bezeichnen. Hier geht es doch nicht um einen Automatismus, sondern um Gottes freie Erwählungstat gegenüber Jesus, bzw. an den Korinthern.

c) Die Hypothese über Maria setzt voraus, dass der Bericht in Lukas 1 ebenso naiv falsch ist wie die Ostergeschichten. Wenn Maria sagt, dass sie keinen Mann habe oder gehabt habe, dann ist das entweder wahr oder falsch. Der Heilige Geist hat ihre Schwangerschaft entweder bewirkt oder nicht. Umgekehrt gilt: Eine Vergewaltigung der Mutter Gottes anzunehmen, diese abenteuerliche Exegese ist selbst ein verzweifelter rationalistischer Ausweg aus dem neutestamentlichen Befund, den man nicht annehmen will, weil es nicht „sein darf“, was angeblich nicht sein kann. Die These zeigt nur, zu welchen Thesen Theologen voranschreiten, die Wunder aus ihrer(!) Welt verbannt haben.

d) Wenn Paulus aus dem Verfolger zum Bekehrten wird, dann ist das ebenso ein Nacheinander wie das Sündersein der Jünger und ihre Berufung. Dazwischen liegt ihre Berufung oder Bekehrung; Petrus zeigt, dass es Rückfälle gibt. Aber deswegen ist Judas noch nicht der größte Heilige 1,

e) In der Beurteilung der Sünderin in Lk 7 wertet Jesus die ihm gewidmete erotische Geschäftsmäßigkeit positiv. Hier und allein hier geht es um eine gewisse Umwertung, doch nicht um eine totale. Denn in jedem Fall war das Handeln positiv auf ihn gerichtet. Jesus deutet es etwa in dem Sinne „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“. Es geht daher nicht um contrafaktischen, sondern um eine extrem wohlwollende Interpretation, die selber von großer Menschenliebe zeugt.

Fazit: Die Rede vom Contrafaktischen steckt in zweifacher Sackgasse. Entweder verführt sie zu einem Automatismus (der größte Sünder ist der größte Heilige) oder sie verfällt einem Voluntarismus. Wenn Gott es eben will, dann ist schwarz gleich weiß. Und dafür muss sich schwarz überhaupt nicht im geringsten geändert haben. Theologiegeschichtlich liegt daher eine radikalisierte Rechtfertigungsdoktrin zugrunde. Bei dieser wird das, was sich ändert, allein in Gott gesehen, ohne dass es irgendwelche positive Auswirkungen auf den Menschen hätte.

Diese Sicht der Rechtfertigung trifft nicht zu; denn Paulus setzt voraus, dass die Menschen durch den Empfang des Heiligen Geistes zu Gottes Kindern geworden sind (nicht nur als solche gelten) und dass der „innere Mensch“ in ihnen im Werden und Wachsen begriffen ist. Es ist daher der alte Streit über wirkliche Veränderung oder bloßes „als ob“.

Die Rede vom Contrafaktischen ist daher kein Zugang zum bibischen Wirklichkeitsverständnis. Sie übersieht vollständig, dass dem Menschen bereits in der vorfindlichen Wirklichkeit Veränderung zuteil wurde, zumindest in Gestalt „charismatischer Gaben“. E. Käsemann hat dieses Element stets zu Recht gegenüber einem rein formalen Verständnis von Rechtfertigung betont und damit M. Luther vor der Einseitigkeit der Lutheraner bewahrt. Dieser Bereich der chrismatischen Gaben weist direkt in das Feld der mystischen Faktizität, das unten zu behandeln ist.

Gerade hieran wird erkennbar: Die Rede vom Contrafaktischen ist ein Weg, die lupenreine Weltlichkeit der christlichen Botschaft zu bewahren. Wenn sich nur im Urteil Gottes etwas ändert, aber nicht am Menschen, dann bleibt die Welt abgedichtet gegenüber jeder Wirkung der Gnade. Dann bleibt tatsächlich nur das Glaubensurteil des Menschen und das ethische Handeln aus geänderter Überzeugung. Das aber unterscheidet den Neuprotestantismus von dem, was er selbst Supranaturalismus und Nicht-Emstnehmen der Profanität nennt.

Prof. Dr. K. Berger, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Wissenschaftlich-Theologisches Seminar

 

Meine Antwort an Prof. Dr. Klaus Berger vom 9. Februar 2003

Sehr späte Antwort auf Ihren Brief aus dem Jahr 2001

Sehr geehrter Herr Professor Berger!

Als ich Leserzuschriften zu einem Artikel beantwortete, der jetzt im Januar im Deutschen Pfarrerblatt erschienen ist, fiel mir Ihr Brief an mich wieder in die Hände, den Sie mir nach unserer Begegnung beim Pfarrertag in Friedberg/Hessen (zum Thema meines ersten Artikels „Marie – die reine Magd“ im Pfarrerblatt) geschrieben hatten.

Ich wollte Ihnen damals erst nach reiflichem Nachdenken antworten, dann habe ich lange Zeit gar nicht mehr an Ihren Brief gedacht. Jetzt möchte ich Ihnen aber doch noch schreiben.

Überschrieben war Ihr Brief an mich mit den Worten „Wider das Contrafaktische“. Ich stimme Ihnen zu: das Neue Testament geht sicher nicht nach einer contrafaktischen Logik vor, wonach das „Geringe, Sündige, Schwache zugleich nach Gottes Willen das Gegenteil sei“. Einen solchen Automatismus unterstelle ich Gott nicht. Es ist vielmehr eine göttliche Wundertat, wenn er Mensch wird im allerverachtetsten Menschen, und es wäre absurd, wenn jedes uneheliche Kind automatisch der Sohn Gottes würde. Tröstlich fände ich es allerdings, wenn ein als Bastard abgestempeltes Kind sich auf dem Weg über die Identifikation mit dem Gottessohn als kostbares Geschöpf Gottes empfinden könnte.

Die „lupenreine Weltlichkeit der christlichen Botschaft“ will ich nicht bewahren. Ich glaube an Wunder, an die Veränderung der Menschen durch Gott in ihrer ganzen Haltung – Gefühle, Gedanken, Gewissen. Allerdings suche ich Wunder nicht im Übernatürlichen, Mirakulösen. Ich glaube auch, wie Sie in Ihrem Buch „Wer war Jesus wirklich?“, S. 209, sagen: „Die Auferstehung Jesu ist … für die ersten Christen ein heilsames Ereignis, das alle Zweifel beendet“ – allerdings haben offenbar viele verschiedene Zeugen jeweils unterschiedliche Auferstehungserfahrungen, Petrus andere als Paulus, Maria Magdalena andere als Thomas, die Frauen im Markusevangelium andere als im Matthäusevangelium.

Nun noch einmal zu meiner Maria-Hypothese:

Sie sagen: „Wenn Maria sagt, dass sie keinen Mann habe oder gehabt habe, dann ist das entweder wahr oder falsch. Der Heilige Geist hat ihre Schwangerschaft entweder bewirkt oder nicht.“

Ich sage: Maria ist als ein missbrauchtes Mädchen vorstellbar – und das ist gar nicht so abenteuerlich, wenn ich z. B. an Josefs Reaktion auf ihre Schwangerschaft denke oder aktuell an die vielen Beispiele von Missbrauch, von denen ich als Seelsorger sowohl in der psychiatrischen Klinik als auch hier in einer Stadtrandgemeinde als auch in Internetkontakten erfahren habe.

Marias Satz: „… da ich von keinem Manne weiß…“ – kann dann das subjektive Empfinden eines Mädchens ausdrücken, das das, was ihr angetan wurde, aus dem Bewusstsein verdrängt und niemals einen bewussten partnerschaftlich-sexuellen Kontakt hatte (das hebräische „Erkennen“ setzt ja das partnerschaftliche Gegenüber voraus).

Gottes Segen wünsche ich Ihnen für Ihr Wirken!

Ihr Helmut Schütz

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