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Erfülltes Leben trotz Leid

Leben ist erfüllt, wenn ich Vertrauen fasse zu Gott, dessen Güte unerschöpflich ist. Dann kann ich eigenen und fremden Leiden ins Auge sehen, nicht leichten Herzens, aber bewusst. Ich kann, so weit möglich, die Ursachen von Leid bekämpfen. Ich kann unausweichlichem Leid standhalten mit der Hilfe derer, die mir nahe sind, oder als eine Hilfe für die, die mich brauchen.

Grabstein mit Engel und Inschrift: Wo viel Glück ist, ist auch viel Leid
Kann auch, wo viel Leid ist, wieder Glück einkehren? (Bild: Michael SchwarzenbergerPixabay)

Predigt am 16. März 1980 in Reichelsheim
Wir bitten Gott, unseren Vater, und Jesus Christus, unseren Herrn, uns Gnade und Frieden zu geben! Amen.

Liebe Gemeinde!

Wer es in Kauf nahm, am Freitag nicht ganz ausgeschlafen zu sein, konnte am späten Donnerstagabend eine sehenswerte Fernsehdiskussion zum Thema „Kirche – für wen?“ miterleben. Manche Gesprächsteilnehmer waren schockiert über die Härte einiger Angriffe auf die Kirche. Da meldete sich der katholische Theologe Norbert Greinacher zu Wort und meinte: Würde die Kirche nur angegriffen – und sei es noch so hart – damit könnte sie sich auseinandersetzen. Sie könnte sich selbst prüfen, ob sie noch auf dem richtigen Wege ist. Sie könnte auch den schärfsten Kritiker noch als einen ansehen, der der Kirche verbunden ist, der noch etwas von ihr erwartet. Viel schlimmer sei heute eigentlich, dass gar keine laute Kritik mehr hörbar wird. Die Kirche ist vielen, ja der großen Mehrheit ihrer Mitglieder einfach gleichgültig. Sie spielt noch eine Rolle bei Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung – aber wie viele der Getauften, Konfirmierten oder kirchlich Getrauten nehmen sich abgesehen von diesen Gelegenheiten einen Teil ihrer alltäglichen oder sonntäglichen Zeit für die Kirche, die doch ihre Kirche ist? Für alles, was uns wichtig ist, nehmen wir uns Zeit, mal mehr, mal weniger, aber wir nehmen sie uns. Und wenn uns manches an der Sache, die uns wichtig ist, nicht gefällt, dann kritisieren wir, regen Änderungen an oder helfen sogar mit, es besser zu machen.

Ist Ihnen die Kirche wichtig? Ist euch die Kirche wichtig? Eine Reihe von Ihnen wird diese Frage sofort mit Ja beantworten, darum sind Sie ja hier; einige vielleicht auch mit Nein, die nicht ganz aus freien Stücken oder aus Gewohnheit hierhergekommen sind. Andere denken vielleicht: die Kirche ist mir gleichgültig; es kommt aber doch viel mehr auf den Glauben an, den jeder hat. Ich bin kein großer Kirchgänger, diesen Satz höre ich oft, gleich gefolgt von dem etwas entschuldigend klingenden Bekenntnis: aber meinen Glauben habe ich doch.

Nun ist sicher eine Kirche, in der nicht geglaubt wird, noch schlimmer dran als ein glaubender Mensch ohne Kirche. Aber verliert der Glaube nicht auch auf die Dauer seine Kraft, wenn er nicht im Gespräch, im Zuhören, Reden und Handeln gemeinsam mit den anderen in der Kirche bewährt wird? Gibt es einen einsamen Glauben an Gott ohne die anderen?

Hören wir, was Paulus am Beginn seines zweiten Briefs an die Korinther (2. Korinther 1, 3-11) über seinen Glauben an Gott schreibt (GNB):

Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! Er ist ein Vater, dessen Güte unerschöpflich ist und der uns nie verzweifeln lässt. Auch wenn ich viel durchstehen muss, gibt er mir immer wieder Mut. Darum kann ich auch anderen Mut machen, die Ähnliches durchstehen müssen. Ich kann sie ermutigen, so wie Gott mich selbst ermutigt hat. Ich teile die Leiden Christi in reichem Maß. Aber ebenso reich ist die Hilfe, die mir durch ihn geschenkt wird. Wenn ich leide, so geschieht es zu eurem Besten, damit euer Mut gestärkt wird. Und wenn ich ermutigt werde, so geschieht es, damit ihr Mut bekommt, die gleichen Leiden wie ich geduldig zu ertragen. Ich bin ganz zuversichtlich, wenn ich an euch denke; denn ich weiß: Wie ihr meine Leiden teilt, so habt ihr auch teil an der Zuversicht, die mir geschenkt wird. Ihr sollt wissen, Brüder, dass ich in der Provinz Asien in einer ausweglosen Lage war. Die Belastung war so groß, dass es über meine Kraft ging. Ich hatte keine Hoffnung mehr, mit dem Leben davonzukommen. Ich fühlte mich wie einer, der sein Todesurteil empfangen hat. Aber das geschah, damit ich nicht auf mich selbst vertraue, sondern mich allein auf Gott verlasse, der die Toten lebendig macht. Und tatsächlich hat er mich vor dem sicheren Tod gerettet. Er wird es auch in Zukunft tun. Ich setze meine Hoffnung auf ihn: Er wird mich wieder retten. Auch eure Gebete für mich tragen dazu bei. Aus vielen Herzen wird dann der Dank für das, was Gott an mir getan hat, zu Gott aufsteigen.

Amen.

Paulus spricht von seinem Vertrauen zu den Gott, der uns nie verzweifeln lässt. Und sogleich denkt er an die anderen: weil er selbst ermutigt wird, kann er auch den anderen Mut machen, die auf irgendeine Weise leiden müssen. Das ist für Paulus Kirche: eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig stützt und tröstet, weil sie sich auf den Gott verlässt, der Tote lebendig machen kann. „Weint mit den Weinenden, lacht mit den Fröhlichen“, sagt Paulus in einem anderen Brief. Hier spricht er nur vom Leiden und vom Trost im Leiden. Das tut er sicher nicht, weil es in der Kirche nur um die unerfreulichen Dinge des Lebens ginge. Zunächst wohl einfach darum, weil Paulus gerade eine scheinbar ausweglose Lage durchgestanden hat. Vielleicht auch darum, weil es einfacher ist, mit den Fröhlichen zu lachen als mit den Weinenden zu weinen. Wir verdrängen die dunklen Seiten des Lebens nur zu gern, jedenfalls so lange es noch geht, so lange wir jung und gesund sind, so lange ein Schicksalsschlag noch nicht uns selbst getroffen hat.

Die Kritiker der Kirche vor zehn bis fünfzehn Jahren waren meist sehr sensibel für die Leiden anderer, sie protestierten gegen die Gewalt der Mächtigen, gegen die stille Unterstützung von Unrechtssystemen durch die Kirche. Umgekehrt ist die heutige Gleichgültigkeit in hohem Maß auch Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der anderen. Das Wort Apathie, das Teilnahmslosigkeit bedeutet, heißt wörtlich: die Unfähigkeit, zu leiden, mitzuleiden.

Wir haben Angst vor dem Leiden. Es ist weniger selbstverständlich als früher, dass Leiden ein Teil des Lebens ist. Wie oft höre ich den so verständlichen Wunsch: dass ich nur gesund bleibe, dass ich mich nur nicht einmal quälen muss! Oder die Klage: ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so würde leiden müssen, ausgerechnet ich.

Paulus will uns in dieser Angst helfen. Er weiß etwas, was die nicht wissen, die noch nicht leiden mussten. Er weiß, dass das Leiden nicht das, Ende eines erfüllten Lebens sein muss. Sondern er hat im Leiden Hilfe erfahren. Er bekam auch im Leiden immer wieder Mut. Er kann gerade als Leidender und Getrösteter Hilfe weitergeben.

Ich denke an eine lebenslustige, fröhliche Frau, die ihren Mann bis zu seinem Krebstod pflegte und dann einen Nervenschock erlitt. Sie ließ sich gehen, kochte sich nichts mehr und ließ ihren Haushalt verkommen. Wohlmeinende Bekannte, ein Anwalt und eine Kirchenvorsteherin versuchten sie zu überreden, doch ins Altenpflegeheim zu gehen. Sie weigerte sich und bekam mit Entmündigung gedroht. Schließlich erreichten andere Freunde, dass sie zu einer Behandlung nach Gießen kam, in die Hoppla, wie sie später erzählte. Und nun kommt das, weswegen ich diese Erinnerung Ihnen mitteile. Die Frau sagte mir nach einigen Monaten: wie ich da in Gießen war, da kam ich ja mit Menschen zusammen, denen ging es zum Teil noch schlechter als mir. Und nach einigen Wochen, da war ich so weit, da konnte ich schon andere trösten. Sie wurde wieder, was sie vorher gewesen war: ein fröhlicher Mensch, der für sich selber sorgen konnte und eine Aufgabe brauchte.

Oder ein anderes Beispiel: die Besucher einer krebskranken Frau, die ich später beerdigte, wussten nicht, wie sie sich einer Sterbenden gegenüber verhalten sollten, die alle ihre Sinne beisammen hatte. Da war es die Todkranke, die die anderen tröstete. Sie sprach von ihrem Abschiednehmen, von den Dingen, an denen sie sich täglich freute, sie verschwieg nicht ihre Schmerzen, die sie kaum aushalten konnte, war aber dankbar für alles, was ihre Lebenszeit ausgefüllt hatte und noch ausfüllte.

Und – als letztes Beispiel: mich beeindruckt es immer wieder, wie selbstbewusst, wie zielstrebig und wie glücklich die Alkoholkranken ihr Leben führen, die den Absprung vom Alkohol geschafft haben. Wir haben am Freitag in der Jugendgruppe davon gehört, wie schwer es für einen Alkoholiker ist, den einzigen Ausweg zu beschreiten: nie wieder im Leben auch nur einen einzigen Tropfen Alkohol zu trinken. Da geht oft vorher die Arbeitsstelle verloren, werden Schulden gemacht, geht die Ehe in die Brüche, wird die körperliche Gesundheit ruiniert – bis einer ganz am Boden zerstört ist und keinen Ausweg mehr sieht. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder er sieht ein, dass er alkoholkrank ist und fasst den Entschluss, nie wieder zu trinken, lässt sich dabei auch helfen. Oder er lässt sich durch den Alkohol vollends zugrunderichten. Helfen kann man ihm bei dieser Krankheit nicht, wenn er nicht selbst mitarbeitet. Nur wenn er das tut, dann kann ihm auch die Gruppe derer helfen, die in der gleichen Lage sind und auch den Entschluss zur Abstinenz gefasst haben: die Gruppe trifft sich regelmäßig, stützt sich gegenseitig, feiert Feste miteinander – natürlich alkoholfrei, rauschende Feste, an die man sich später in allen Einzelheiten gern zurückerinnern kann und will. Wir hörten, dass dann Menschen, die ein Wrack waren, wieder in ihrem Beruf anerkannt wurden als zuverlässige Arbeitskräfte, dass man im Familienleben plötzlich mehr Zeit füreinander und mehr Gespür für die Probleme der anderen hatte.

Leben ist ausgefüllt, nicht wenn ich alle Zeit für mich und Beruf und Hobby verplant habe, sondern wenn Zeit bleibt für die Freuden und die Sorgen der Familienmitglieder, wenn Zeit bleibt auch für ganz fremde Menschen, deren Leiden uns irgendwie berührt. Leben ist erfüllt, nicht wenn ich die Berührung mit dem Leiden vermeide, sondern wenn ich Vertrauen fasse zu dem Gott, dessen Güte unerschöpflich ist und der uns nie, in keiner Lebenslage, verzweifeln lässt. Dann kann ich eigenen und fremden Leiden ins Auge sehen, nicht leichten Herzens, aber bewusst. Ich kann die Ursachen von Leid bekämpfen, so weit das möglich ist. Ich kann unausweichlichem Leid standhalten mit der Hilfe derer, die mir nahe sind, oder als eine Hilfe für die, die mich brauchen. Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

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