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Der dunkle Weihnachtsbaum

Kann es Weihnachtsfreude für Rahel geben, die die von Herodes in Bethlehem getöteten Kinder beweint? Vielleicht kann Weihnachten ein Anlass dafür sein, auch einmal ganz anders nach Gott zu fragen. Einmal die Psalmen oder das Buch Hiob zu lesen und zu schauen, wie Menschen der Bibel mit Gott in Streit geraten – ohne sich von ihm abzuwenden.

Weihnachtsbaum-Silhouette
Der dunkle Weihnachtsbaum (Bild: Clker-Free-Vector-ImagesPixabay)

direkt-predigtGottesdienst am 4. Adventssonntag, den 21. Dezember 2008, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Ich begrüße alle herzlich in der Pauluskirche zum Gottesdienst am 4. Advent mit dem Thema: „Der dunkle Weihnachtsbaum“.

Der Baum steht schon da, fertig geschmückt für den Heiligen Abend, aber heute bleibt er dunkel. Wir haben ja noch nicht Weihnachten, sondern erst den 4. Advent mit seinen 4 Kerzen am Adventskranz.

Für manche Menschen wird der Weihnachtsbaum auch an Weihnachten dunkel bleiben, vielleicht sogar wenn seine Kerzen brennen. An einem Sonntag, in dem wir mehrere Verstorbene in unsere Fürbitte einschließen, stellen wir uns die Frage: Wie ist es, wenn man sich nicht auf Weihnachten freuen kann, wenn man traurige statt fröhliche Weihnachten erlebt, weil man von Leid getroffen wird, voller Trauer ist, Gott und die Welt nicht mehr versteht?

Zu Beginn singen wir das Lied 15:

1. »Tröstet, tröstet«, spricht der Herr, »mein Volk, dass es nicht zage mehr.« Der Sünde Last, des Todes Fron nimmt von euch Christus, Gottes Sohn.

2. Freundlich, freundlich rede du und sprich dem müden Volke zu: »Die Qual ist um, der Knecht ist frei, all Missetat vergeben sei.«

3. Ebnet, ebnet Gott die Bahn, bei Tal und Hügel fanget an. Die Stimme ruft: »Tut Buße gleich, denn nah ist euch das Himmelreich.«

4. Sehet, sehet, alle Welt die Herrlichkeit des Herrn erhellt. Die Zeit ist hier, es schlägt die Stund, geredet hat es Gottes Mund.

5. Alles, alles Fleisch ist Gras, die Blüte sein wird bleich und blass. Das Gras verdorrt, das Fleisch verblich, doch Gottes Wort bleibt ewiglich.

6. Hebe deine Stimme, sprich mit Macht, dass niemand fürchte sich. Es kommt der Herr, eu’r Gott ist da und herrscht gewaltig fern und nah.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. „Amen.“

Das Lied, das wir gesungen haben, ist Worten des Propheten Jesaja nachempfunden. Sie stehen im Buch Jesaja 40, 1-11:

1 Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott.

2 Redet mit [der Stadt] Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.

3 Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott!

4 Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden;

5 denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat’s geredet.

6 Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde.

7 Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk!

8 Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.

9 Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott;

10 siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her.

11 Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Gras ist das Volk. Wir Menschen verwelken wie die Blumen. Manche viel zu früh. Es gibt Katastrophen, die wir Menschen verantworten, es gibt unvernünftiges Leben, und wir müssen die Konsequenzen tragen. Die Bibel nennt das: Unter dem Zorn Gottes leben. Die Folgen unserer Untaten erfahren wir als Strafen.

Gott, wir bitten um Einsicht in eigenes Unrecht, eigene Unvernunft, eigene Schuld!

Aber Gott, seit den Tagen Hiobs und Jesu Christi kennen wir auch das andere: unverdientes Unglück, Leiden unter den Folgen fremder Taten, das Gefühl, von dir grundlos gestraft zu sein. Bist du uns wirklich ein Guter Hirte in unverschuldeter Not, trägst du uns, wo wir trauern, wo wir verzweifeln, und führst du uns zu neuer Hoffnung, zu neuer Freude?

Gott, wir bitten dich um deinen Trost, wo wir untröstlich sind. Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Von der unmittelbaren Vorfreude auf Weihnachten ist der 4. Advent geprägt. Diese Vorfreude kommt im Wort zur Woche aus dem Brief des Paulus an die Philipper 4, 4-5, zum Ausdruck:

Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich euch: Freuet euch! Der Herr ist nahe!

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende.

Der Herr sei mit euch! „Und mit deinem Geist!“

Gott, Vater des Kindes, das in der Krippe gelegen hat, Vater des Mannes, den sie dreiunddreißig Jahre später ans Kreuz gehängt haben: Du weißt, dass man Freude nicht befehlen kann. Lehre uns bedenken, worin die Freude besteht, die dein Sohn in die Welt gebracht hat.

Gibt es die Freude mitten im Leid? Lässt du Trost wachsen und Wunden verheilen, schenkst du verzweifelten Seelen neue Hoffnung?

Wir bitten dich: nimm uns an mit unseren Zweifeln und auch dann, wenn wir Trost nicht annehmen können. Darum bitten wir dich im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören das Loblied der Maria, das sie sang, nachdem ihr der Engel die Geburt ihres Sohnes Jesus angekündigt hatte. Es steht im Evangelium nach Lukas 1, 46-55:

46 Meine Seele erhebt den Herrn,

47 und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;

48 denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.

49 Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.

50 Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten.

51 Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.

52 Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.

53 Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.

54 Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf,

55 wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis

Wir singen aus Lied 308, dem Loblied der Maria, die Strophen 1 bis 7:

1) Mein Seel, o Herr, muss loben dich, du bist mein Heil, des freu ich mich, dass du nicht fragst nach weltlich‘ Pracht und hast mich Arme nicht veracht‘

2) und angesehn mein Niedrigkeit. Des wird von nun an weit und breit mich selig preisen jedermann, weil du groß Ding an mir getan.

3) Du bist auch mächtig, lieber Herr, dein große Macht stirbt nimmermehr; dein Nam ist alles Rühmens wert, drum man dich willig preist und ehrt.

4) Du bist barmherzig insgemein dem, der dich herzlich fürcht‘ allein, und hilfst dem Armen immerdar, wenn er muss leiden groß Gefahr.

5) Der Menschen Hoffart muss vergehn, mag nicht vor deiner Hand bestehn; wer sich verlässt auf seine Pracht, dem hast du bald ein End gemacht.

6) Du machst zunicht der Menschen Rat, das sind, Herr deine Wundertat‘; was sie gedenken wider dich, das geht doch allzeit hinter sich.

7) Wer niedrig ist und klein geacht‘, an dem übst du dein göttlich Macht und machst ihn einem Fürsten gleich, die Reichen arm, die Armen reich.

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde, als Kind habe ich gelernt, auf Weihnachten zu warten. Jeden Adventssonntag wurde eine weitere Kerze am Adventskranz angezündet. Und erst an Heiligabend durften die vielen Kerzen am Weihnachtsbaum brennen. So sollte der Unterschied zwischen der Vorfreude auf Weihnachten und der Freude über das neugeborene Jesuskind gewahrt bleiben. Heutzutage brennen die Kerzen an den meisten Weihnachtsbäumen schon während der Adventszeit; ich gebe zu, auch dieser Baum hat schon geleuchtet, letzten Mittwoch, im Adventskonzert des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums. Ich denke, das ist auch vertretbar, denn im Rahmen der Schule oder des Kindergartens kann man nicht an Weihnachten selbst oder in den Ferien danach Konzerte und Feiern veranstalten.

Heute bleibt aber, dem Ablauf des Kirchenjahres folgend, der Weihnachtsbaum unbeleuchtet. Und Herr Klimas hat es vorhin schon gesagt: Der dunkle Weihnachtsbaum steht heute auch symbolisch und als Thema im Mittelpunkt des Gottesdienstes.

Der dunkle Weihnachtsbaum soll heute sinnbildlich für eine dunkle Seite von Weihnachten stehen, die in einem Abschnitt aus dem Matthäusevangelium zum Ausdruck kommt, über die wir an Weihnachten selbst in der Regel nicht nachdenken. Ich greife damit voraus in die Zeit, in der Jesus bereits geboren und vor der Verfolgung durch den König Herodes mit seinen Eltern aus Bethlehem nach Ägypten geflohen ist. Ich lese im Evangelium nach Matthäus 2, 16-20:

16 Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte.

17 Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht:

18 »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Kürzlich stellt ein Konfirmand im Unterricht die Frage: „Wieso lässt Gott das zu? Wegen der Geburt seines Sohnes müssen so viele Kinder sterben! Hätte Gottes Sohn nicht auch anders auf die Welt kommen können?“ Die Frage lässt mich seitdem nicht los.

Es hilft nicht weiter, wenn Historiker sagen: Für den Kindermord von Bethlehem gibt es außer der Bibel keine Belege. Aber dann muss es einen um so wichtigeren Grund geben, warum Matthäus diese Geschichte erzählt. Ich denke, er will, wie ein moderner Romanschriftsteller, die Wirklichkeit auf den Punkt bringen. Und der Punkt ist für ihn, dass die Geschichte von der Ermordung der Kinder die Wirklichkeit unserer Welt nur allzu gut widerspiegelt. Nicht nur wissen von Herodes wissen wir, dass er auf jeden Fall um seiner Karriere willen Menschen umbringen ließ, sogar Mitglieder seiner eigenen Familie. Wir wissen auch: es gibt bis heute Menschen, die vor Grausamkeit und Mord nicht zurückschrecken, sogar gegenüber Kindern.

Bewusst setzt Matthäus mitten in der Weihnachtsgeschichte einen hohen Maßstab für die Glaubwürdigkeit seiner Verkündigung. Wenn die Weihnachtsbotschaft sich nicht bewährt in der Auseinandersetzung mit dem Schrecklichsten, was in der Welt geschehen kann, dann verdient sie nicht unser Vertrauen.

Für viele sind das unüberbrückbare Gegensätze: hier Weihnachtsstimmung, ein Fest der Liebe und Fröhlichkeit, auf der anderen Seite Trauer und Untröstlichkeit, Verzweiflung über unerträgliches Leid. Aber die Bibel ist nicht das Buch billiger Vertröstungen. Unser Bild einer idyllischen Weihnacht, in der es nur Friede, Freude, Weihnachtsplätzchen gibt, stammt jedenfalls nicht aus der Bibel. Für die Bibel gehört beides von Anfang an zusammen: Jesus wird in eine Welt hineingeboren, in der um seinetwillen, um diesen Gutmenschen loszuwerden, böse Menschen noch bösere Taten tun. Jesus erfährt von Anfang die Geringschätzung und Missachtung einer Welt, die sich nicht von Gottes Geboten ordnen und nicht von Gottes Liebe anstecken lassen will. Seine Geburt findet irgendwo draußen bei Ochs und Esel statt, weil die Bewohner des ganzen Erdkreises wegen der Besteuerungspolitik des Kaisers wie auf einem Spielbrett hin- und hergeschoben werden. Und sein Leben ist von Anfang an in Gefahr, weil Provinzpolitiker aus Angst um die Macht in ihrem kleinen Einflussbereich schon den Keim eines Aufruhrs brutal zu ersticken versuchen.

Wo ist da Platz für Weihnachtsfreude? Sie beginnt im Matthäusevangelium mit dem Einsatz der Engel Gottes. Der erste Engel kümmert sich um Josef. Der will eigentlich Maria verlassen, denn er unterstellt ihr Untreue, will sie aber nicht in Schande bringen. Ein Engel überzeugt ihn: „Nimm Maria zu dir. Nimm ihr Kind an, es ist ihr vom Heiligen Geist geschenkt. Es ist ein besonderes Kind, sein Name ist Programm: Immanuel – Gott mit uns, Jesus – der Befreier, der Retter.“ Im Lukasevangelium beschäftigen sich Engel mit Maria und den Hirten, bei Matthäus kommen weitere Engel zum Einsatz, um die weisen Männer aus dem Osten und auch Josef selbst vor Herodes zu warnen. Die einen sollen keine weiteren Spionagedienste für den bösen König leisten, und Josef soll sein Kind nach Ägypten in Sicherheit bringen.

Nun könnte man wieder fragen: Warum ließ Gott nicht auch die anderen Kinder retten? Ich weiß darauf keine Antwort. Wir wissen nicht, warum das Böse in der Welt ist, warum Gott nicht das Böse einfach unmöglich gemacht hat.

Darum gibt es mitten in der Weihnachtsgeschichte nun auch die einen, die sich hier und jetzt schon freuen: über die Geburt des einen Kindes Jesus und dann über seine Rettung vor dem Tod. Und dann gibt es die anderen, die hier und jetzt noch keinen Grund zur Freude sehen, die sich nicht trösten lassen wollen: „Rahel will sich nicht trösten lassen,“ so heißt es bei Matthäus nach einer Vorausschau des Propheten Jeremia, denn es ist aus mit ihren Kindern.

Wer ist eigentlich Rahel, die hier klagt? Rahel war ursprünglich eine der Stammmütter Israels. Sie war die Lieblingsfrau Jakobs und Mutter seines Lieblingssohnes Josef, und sie starb bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin. Wenn es hier heißt, dass Rahel klagt, dann klagt das ganze Volk, alle Mütter des Landes. Wir können sogar sagen: in der Klage Rahels fließen alle Tränen der Mütter zusammen, die um ihre Kinder trauern, vielleicht alle unsere Tränen um Menschen, die viel zu früh, vor ihrer Zeit sterben.

Das heißt: Wer hier im Gottesdienst sitzt und das Gefühl hat: Auch ich will mich nicht trösten lassen, ich bin aufgebracht und entsetzt über das, was Gott mir und meiner Familie auferlegt, und auch der Pfarrer wird mich nicht trösten können, der hat jedes Recht dazu.

Nicht jeder Todesfall führt zur Verzweiflung. Es gibt den Tod, der zum Leben dazu gehört, es gibt den Abschied, der weh tut, und doch wissen wir, es sollte nach Gottes Willen wohl so sein.

Mit der unbegreiflichen Krankheit, die zum allzu frühen Tode führt, ist es weitaus schwerer. Wir können sie nur unter Protest aus Gottes Hand hinnehmen, nur indem wir Gott anklagen und befragen dürfen, ohne allerdings eine Antwort auf das Warum zu erhalten.

Aber es gibt auch den Tod, der nach Gottes Willen nicht sein soll und der doch mitten in dieser von Gott geschaffenen Welt stattfindet, der in seiner furchtbarsten Form in der Geschichte vom Kindermord des Herodes dargestellt wird. Wo Menschen durch böse Absicht oder sogar nur durch menschliches Versagen zu Tode kommen, da reagieren wir noch einmal anders. Wir sind voller Zorn, aber auf wen soll sich eigentlich dieser Zorn richten? Auf den, der den Tod eines Menschen mitverschuldet hat? Auf uns selbst, weil wir es nicht verhindert haben, dass ein unzuverlässiger Mensch Schaden anrichten konnte? Auf Gott, der das alles zugelassen hat? Trauer besteht in diesem Fall aus einem Gemisch vielfältiger Gefühle, ein Grübelcocktail, der einen nicht schlafen lässt und von dem man sich nur schwer ablenken kann.

Ein solcher Tod liegt nicht im Willen Gottes begründet und doch lässt Gott ihn zu. Es wäre zu einfach zu sagen: Irgendwo in Gottes Ratschluss wird trotzdem ein Sinn in diesem Geschehen verborgen liegen. Ich wage es nicht, so etwas zu behaupten. Die Bibel tut so etwas jedenfalls nicht. Niemand sagt Rahel: Du musst dich trösten lassen. Und als Jesus am Kreuz sterben wird, äußert er selbst den größtmöglichen Zweifel: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Die Stärke der Bibel besteht nicht in billiger Vertröstung, sondern darin, dass Verzweiflung und Schmerz ausgehalten werden. Die Menschen, die in der Bibel unverschuldetes Leid tragen, schleudern ihre Klage und Anklage sogar Gott entgegen und fordern von ihm ein, dass er doch versprochen hat zu helfen.

Kann es Weihnachtsfreude für Rahel geben? Kann es fröhliche Weihnachten geben für Menschen, die über den Tod eines geliebten Angehörigen oder Freundes unendlich entsetzt und traurig und verzweifelt sind?

Vielleicht nicht so, wie wir uns fröhliche Weihnachten vorstellen. Möglicherweise in einer anderen, ganz an dem Originalweihnachten orientierten Art und Weise. Wer weiß, unter den Hirten, die das Jesuskind an seiner Krippe besucht haben, waren vielleicht auch welche, denen die Soldaten des Herodes eins ihrer Kinder wegnahmen und töteten. Sie litten ihren Schmerz, der ging nicht einfach weg durch die Erinnerung an den Engel, der ihnen gesagt hatte: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei allen Menschen seines Wohlgefallens!“ Aber vielleicht blieb in ihnen die Hoffnung wach: Auf Dauer behalten nicht die Machthaber wie Herodes oder der Kaiser in Rom die Oberhand; die wirkliche Macht und Ehre gehört Gott im Himmel, und Frieden wird es nur geben, wenn wir dem folgen, der von Gott in die Welt gesandt wird. So entsteht im Leid die Keimzelle einer neuen Freude.

Weihnachten bedeutet: Wir haben einen Gott, der in unsere Welt hineingeboren wurde, so wie sie ist. Er überwindet die Welt nicht mit Zauberkraft, auch nicht mit Soldaten und Waffengewalt. Er verlässt sich ganz auf die Kraft der Liebe und des Vertrauens.

Als sich in einer Familie die Mutter den Kopf zerbrach, wie sie trotz der Aufwendungen für eine Beerdigung ihren Kindern Weihnachtsgeschenke kaufen sollte, sagten ihr die Töchter: Es kommt doch bei Weihnachten nicht auf die Geschenke an, sondern dass wir als Familie zusammenhalten.

Wir sagen ja oft: Weihnachten ist das Fest der Liebe. Das stimmt auch. Es ist das Fest einer Liebe, die stärker ist als der Tod. Es mag sein, dass wir den Tod nicht besiegen können, dass wir es akzeptieren müssen: ein geliebter Mensch wird sterben. Trotzdem ist es ein großes Geschenk, in der schlimmen Zeit des Hin- und Hergerissenseins zwischen Überlebenskampf und Resignation, zwischen Verzweiflung und Hoffnung in Liebe füreinander da zu sein und sich nicht allein zu lassen.

Vielleicht kann Weihnachten ja auch ein Anlass dafür sein, einmal ganz anders nach Gott zu fragen. Einmal die Psalmen oder das Buch Hiob zu lesen und zu schauen, wie Menschen der Bibel mit Gott in Streit geraten – ohne sich von ihm abzuwenden. Sie erwarten etwas von ihm. Gegen allen Augenschein erwarten sie, dass er ihnen Recht schafft, dass seine Güte noch nicht aufgehört hat, dass seine Barmherzigkeit sich nur für eine gewisse Zeit verborgen hält, dass er mitten in der Finsternis neues Licht hervorstrahlen lassen wird. Darauf dürfen wir auch hoffen (Jesaja 9, 1):

1 Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Im Vertrauen darauf dürfen wir in drei Tagen auch den heute noch dunklen Weihnachtsbaum in vollem Licht erstrahlen lassen. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Wir singen aus dem Lied 9 die Strophen 5 und 6:

5. Ihr Armen und Elenden zu dieser bösen Zeit, die ihr an allen Enden müsst haben Angst und Leid, seid dennoch wohlgemut, lasst eure Lieder klingen, dem König Lob zu singen, der ist eu’r höchstes Gut.

6. Er wird nun bald erscheinen in seiner Herrlichkeit und all eu’r Klag und Weinen verwandeln ganz in Freud. Er ist’s, der helfen kann; halt‘ eure Lampen fertig und seid stets sein gewärtig, er ist schon auf der Bahn.

Lasst uns beten.

Barmherziger Gott, wir bitten dich für Menschen, die sich vor Weihnachten fürchten, weil sie einsam sind, weil ihre Liebe enttäuscht wurde, weil sie nicht wissen, wohin mit ihren Gefühlen der Angst, der Trauer, der Verzweiflung, der Depression.

Hilf ihnen, sich anzuvertrauen, vielleicht vor dir ihr Herz auszuschütten, Anschluss an andere Menschen zu finden, fachkundige Hilfe zu suchen.

Gott im Himmel, wir bitten dich für Menschen, die an dir selbst verzweifeln, die nicht an deine Allmacht und nicht an deine Güte, jedenfalls nicht an beides zugleich glauben können. Hilf ihnen, sich an dich selbst zu wenden mit ihren Zweifeln und ihren Anklagen, mit ihrem Seufzen und mit ihrem Grübeln in schlaflosen Nächten.

Allmächtiger Gott, wir beten heute besonders zu dir für eine Reihe von Verstorbenen, die wir in den letzten zwei Wochen kirchlich bestattet haben: …

Wir können nicht über dieses irdische Leben hinausblicken, du aber versprichst uns die Vollendung unseres Lebens in deiner Ewigkeit. Schenke allen Verstorbenen den Frieden in deinem Himmel. Und begleite die Angehörigen und Freunde der Verstorbenen mit dem Trost, den nur du ihnen auf deine Weise geben kannst.

Gott, wir vertrauen dir auch das Leid von Menschen an, die sich nicht trösten lassen wollen, weil sie einfach nicht verstehen, warum du ihnen einen Menschen nimmst, ohne den sie nicht leben möchen. Wir können sie nicht wirklich trösten; hilf uns ihnen beizustehen, dass sie in ihrem Schmerz nicht jeden Lebensmut verlieren. Lass uns nicht den Glauben an die Liebe verlieren, sei du in uns stark mit deiner Liebe, auch wenn wir nicht beten können. Amen.

In der Stille bringen wir vor dich, Gott, was wir außerdem auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser

Wir singen das Lied 8:

1. Es kommt ein Schiff, geladen bis an sein‘ höchsten Bord, trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort.

2. Das Schiff geht still im Triebe, es trägt ein teure Last; das Segel ist die Liebe, der Heilig Geist der Mast.

3. Der Anker haft‘ auf Erden, da ist das Schiff am Land. Das Wort will Fleisch uns werden, der Sohn ist uns gesandt.

4. Zu Bethlehem geboren im Stall ein Kindelein, gibt sich für uns verloren; gelobet muss es sein.

5. Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muss vorher mit ihm leiden groß Pein und Marter viel,

6. danach mit ihm auch sterben und geistlich auferstehn, das ewig Leben erben, wie an ihm ist geschehn.

Abkündigungen

Nun geht mit Gottes Segen. Vielleicht bleiben Sie auch noch ein wenig zusammen im Gemeindesaal bei Kaffee oder Tee.

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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