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Tiere aus dem Meer

Kann jedes der vier Tiere, die Daniel in seinem Traum sieht, einem anderen Lebensalter des Menschen zugeordnet werden? Welche Sehnsüchte treiben ihn um, welcher Hunger will unbedingt gestillt werden, was bringt einen Menschen dazu, hart und brutal zu werden, und wie kann ein Mensch zu seiner eigentlichen menschlichen Bestimmung und Erfüllung gelangen?

Geflügelter Löwe als Steinfigur an einer christlichen Basilika
Ein geflügelter Löwe als Sinnbild der Kraft und Freiheit (Bild: falcoPixabay)
direkt-predigtGottesdienst an Christi Himmelfahrt, Donnerstag, den 20. Mai 1993, um 9.30 Uhr auf dem Sportplatz der Landesnervenklinik Alzey
Begrüßung: Helmut Schütz
Lied 92, 1-5:

1) Gen Himmel aufgefahren ist, Halleluja, der Ehrenkönig Jesus Christ. Halleluja.

2) Er sitzt zu Gottes rechter Hand, Halleluja, herrscht über Himmel und alle Land. Halleluja.

3) Nun ist erfüllt, was geschrieben ist, Halleluja, in Psalmen von dem Herren Christ. Halleluja.

4) Drum jauchzen wir mit großem Schalln, Halleluja, dem Herren Christ zum Wohlgefalln. Halleluja.

5) Der Heiligen Dreieinigkeit, Halleluja, sei Lob und Preis in Ewigkeit. Halleluja.

Eingangsteil: Wilhelm Resch
Lied 235, 1-4:

1) Wunderbarer König, Herrscher von uns allen, lass dir unser Lob gefallen. Deine Vatergüte hast du lassen fließen, ob wir schon dich oft verließen. Hilf uns noch, stärk uns doch; lass die Zunge singen, lass die Stimme klingen.

2) Himmel, lobe prächtig deines Schöpfers Taten, mehr als aller Menschen Staaten. Großes Licht der Sonne, schließe deine Strahlen, die das große Rund bemalen. Lobet gern, Mond und Stern, seid bereit zu ehren einen solchen Herren.

3) O du meine Seele, singe fröhlich, singe, singe deine Glaubenslieder; was den Odem holet, jauchze, preise, klinge; wirf dich in den Staub darnieder. Er ist Gott Zebaoth, er nur ist zu loben hier und ewig droben.

4) Halleluja bringe, wer den Herren kennet, wer den Herren Jesum liebet; Halleluja singe, welcher Christum nennet, sich von Herzen ihm ergibet. O wohl dir! Glaube mir: Endlich wirst du droben ohne Sünd ihn loben.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Wer hat eigentlich zu sagen im Himmel und auf Erden? Auf diese Frage wird am Fest der Himmelfahrt Christi eine schlichte und ergreifende Antwort gegeben. Und zwar sagt die Bibel in ihrer bildhaften Sprache: Jesus fährt zum Himmel auf. Jesus sitzt zur Rechten Gottes. Das heißt: Jesus ist eins mit dem himmlischen Vater. Jesus ist der, der alle Macht hat im Himmel und auf Erden.

Aber was heißt das: Jesus sitzt im Himmel auf einem Thron und hat Macht? Schauen wir uns einmal Bilder der Macht an, Traumbilder aus einem biblischen Buch des Alten Testaments, die geschildert werden im Prophetenbuch Daniel 7, 1-15:

1 Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, hatte Daniel einen Traum und Gesichte auf seinem Bett; und er schrieb den Traum auf, und dies ist sein Inhalt:

2 Ich, Daniel, sah ein Gesicht in der Nacht, und siehe, die vier Winde unter dem Himmel wühlten das große Meer auf.

3 Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, ein jedes anders als das andere.

4 Das erste war wie ein Löwe und hatte Flügel wie ein Adler. Ich sah, wie ihm die Flügel genommen wurden. Und es wurde von der Erde aufgehoben und auf zwei Füße gestellt wie ein Mensch, und es wurde ihm ein menschliches Herz gegeben.

5 Und siehe, ein anderes Tier, das zweite, war gleich einem Bären und war auf der einen Seite aufgerichtet und hatte in seinem Maul zwischen den Zähnen drei Rippen. Und man sprach zu ihm: Steh auf und friss viel Fleisch!

6 Danach sah ich, und siehe, ein anderes Tier, gleich einem Panther, das hatte vier Flügel wie ein Vogel auf seinem Rücken, und das Tier hatte vier Köpfe, und ihm wurde große Macht gegeben.

7 Danach sah ich in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, ein viertes Tier war furchtbar und schrecklich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne, fraß um sich und zermalmte, und was übrigblieb, zertrat es mit seinen Füßen. Es war auch ganz anders als die vorigen Tiere und hatte zehn Hörner.

8 Als ich aber auf die Hörner achtgab, siehe, da brach ein anderes kleines Horn zwischen ihnen hervor, vor dem drei der vorigen Hörner ausgerissen wurden. Und siehe, das Horn hatte Augen wie Menschenaugen und ein Maul; das redete große Dinge.

9 Ich sah, wie Throne aufgestellt wurden, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und das Haar auf seinem Haupt rein wie Wolle; Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder loderndes Feuer.

10 Und von ihm ging aus ein langer feuriger Strahl. Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht wurde gehalten, und die Bücher wurden aufgetan.

11 Ich merkte auf um der großen Reden willen, die das Horn redete, und ich sah, wie das Tier getötet wurde und sein Leib umkam und ins Feuer geworfen wurde.

12 Und mit der Macht der andern Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte.

13 Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht.

14 Der gab ihm Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so verschiedenen Sprachen dienen sollten, und sein Reich hat kein Ende.

15 Ich, Daniel, war entsetzt, und dies Gesicht erschreckte mich.

Ja, liebe Gemeinde, in großen Teilen ist diese Traumvision des Daniel entsetzlich und schrecklich. Ursprünglich bezieht sie sich auf Vorgänge in der damaligen Politik vor zweieinhalbtausend Jahren. Grausame Weltreiche und brutale Machthaber kommen und gehen, so sieht Daniel den Willen Gottes, aber am Ende wird Gottes Reich den Sieg davontragen. Und der Bevollmächtigte Gottes, der Menschensohn, in dem wir Christen unseren Herrn Jesus wiedererkennen, er wird mächtiger sein als alle irdischen Herrscher.

Ich denke aber, wir müssen den Traum des Daniel nicht nur als politisches Dokument aus einer längst vergangenen Zeit betrachten. „Und siehe, die vier Winde unter dem Himmel wühlten das große Meer auf“, so beginnt Daniels Schilderung. Aufgewühlt ist Daniel innerlich, das Meer mag ein Bild sein für die unermessliche Größe, für die abgründige Tiefe der menschlichen Seele, und die Winde, die darüber hinblasen, sind wie die Gefühlsaufwallungen, die jeden Menschen in Unruhe versetzen: Trauer und Sehnsucht nach Freude, Zorn und Sehnsucht nach Liebe, Angst und Sehnsucht nach Vertrauen, Schmerz und Sehnsucht nach Trost. Vielleicht könnte man mit einem Wort diese Unruhe zusammenfassen: Hunger! Und hinter jedem Hunger nach Macht steckt ein Hunger nach Leben!

Gestern im Bibelkreis kamen wir auf die Idee, doch einmal ein Experiment zu versuchen: Wie wäre es, wenn jedes der vier Tiere, die Daniel in seinem Traum sieht, einem anderen Lebensalter des Menschen zugeordnet werden könnte? „Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, ein jedes anders als das andere.“ Kann man diesen Traum vielleicht lesen als eine Schilderung der Entwicklung eines einzelnen Menschen – welche Sehnsüchte treiben ihn um, welcher Hunger will unbedingt gestillt werden, was bringt einen Menschen dazu, hart und brutal zu werden, und wie kann ein Mensch zu seiner eigentlichen menschlichen Bestimmung und Erfüllung gelangen?

Vom ersten Tier heißt es beispielsweise: „Es wurde von der Erde aufgehoben und auf zwei Füße gestellt wie ein Mensch“, ganz ähnlich, wie man es mit einem Kleinkind macht, das eben laufen lernt. Ursprünglich war das erste Tier „wie ein Löwe und hatte Flügel wie ein Adler.“ Entspricht das nicht einer uralten Sehnsucht jedes Menschen, so stark zu sein wie ein Löwe, so frei und ungebunden zu sein wie ein Adler? Wer schon einmal als Patient dieser Klinik eine manische Phase miterlebt hat, weiß ein Lied davon zu singen, wie herrlich sich das anfühlt, wenn man absolut keine Begrenzungen mehr kennt. Aber die Kehrseite dieses Gefühls ist: man verliert den Bezug zur Wirklichkeit, man bringt sich und andere in große Gefahr. Und darum sind Begrenzungen im menschlichen Leben einfach überlebensnotwendig. Diesem Wesen müssen „die Flügel genommen werden“, es büßt auch Kraft ein, wenn es nicht mehr auf vier Beinen läuft wie der starke Löwe. Und gerade in dieser Begrenzung entsteht ein menschliches Wesen mit aufrechtem Gang und mit einem fühlenden Herzen.

Das Bild des ersten Tieres ist also das Bild des bedürftigen, begrenzten, seinen Gefühlen ausgelieferten Menschenkindes, das aus dem Paradies des Mutterleibes vertrieben wurde und erst allmählich, nach und nach, den aufrechten Gang lernen wird.

Im Bild des zweiten Tieres wird ein Grundbedürfnis des Menschen in den Mittelpunkt gestellt, der Hunger: „Und siehe, ein anderes Tier, das zweite, war gleich einem Bären und war auf der einen Seite aufgerichtet und hatte in seinem Maul zwischen den Zähnen drei Rippen.“ Und wir merken: Bedürftig zu sein, das ist gar nicht immer so harmlos. Wer Hunger hat, verschlingt Nahrung. Ein Lebewesen isst oder frisst ein anderes, Pflanzen oder Tiere. Dieses zweite Tier hat Hunger wie ein Bär, und es hat von seiner letzten Mahlzeit noch drei Rippen zwischen den Zähnen. Hunger hat auch eine aggressive, zerstörerische Seite, das ist im Tierreich und auch bei den Menschen nicht zu vermeiden.

Und im Traum des Daniel gibt es eine Stimme, die diesem Bärenhunger dennoch nicht tadelt oder verurteilt, sondern geradezu unterstützt: „Und man sprach zu ihm: Steh auf und friss viel Fleisch!“ Der Mensch darf zu seinen Bedürfnissen stehen, er darf Hunger haben, er darf aufstehen und gut für sich sorgen, und er darf sogar viel essen, sich satt essen.

Vielleicht klingen diese Dinge für die meisten von Ihnen selbstverständlich. Sie fragen sich vielleicht: Warum erzählt der Pfarrer solche Dinge, die doch keiner bezweifelt. Ich kenne aber Menschen, die von Kindheit an das Gefühl haben, überhaupt keine Rechte zu haben, nicht einmal Hunger haben zu dürfen, nicht wirklich satt sein zu dürfen. Und deshalb ist es gut, wenn hier gesagt wird: Einen Bärenhunger zu haben, ist nichts Schlechtes, jeder darf Hunger haben und das essen, was er braucht, hat auch ein Recht auf das, was über leibliche Nahrung hinausgeht, nämlich Zuwendung und Liebe.

Im Bild des dritten Tieres schreitet die Entwicklung weiter voran: diesmal sieht Daniel ein „Tier, gleich einem Panther, das hatte vier Flügel wie ein Vogel auf seinem Rücken, und das Tier hatte vier Köpfe, und ihm wurde große Macht gegeben.“ Im Bibelkreis haben wir bei dem Panther gleich an Schnelligkeit gedacht, die vier Flügel unterstrichen dieses Motiv.

Und woher mag jetzt diese neue Beweglichkeit des Menschen kommen? Vielleicht daher, dass sein Geist heranreift, dass der Mensch anfängt, bewusst zu überlegen und zu planen. Gleich vier Köpfe hat dieses Tier, viele Denkmöglichkeiten stehen ihm zur Verfügung; vielleicht ist auch daran gedacht, dass es sich nach allen Himmelsrichtungen orientieren kann, dass es seine Augen und Ohren überall hat. Mit einem Wort: diesem Wesen ist eine Menge Macht anvertraut!

Einem Bibelkreismitglied fiel allerdings auch auf: Wenn man so viele Köpfe hat, kann es auch passieren, dass man die Richtung verliert. Welcher Kopf soll denn bestimmen, wohin es gehen soll? Nach welchem Kopf soll es denn gehen? Mag sein, dass auch manche von Ihnen diese Erfahrung kennen: Man fühlt sich, als wäre man zerrissen zwischen verschiedenen Gefühlen und Gedanken, zwischen verschiedenen Teilen des eigenen Selbst, und dann hört man vielleicht noch Stimmen, die man gar nicht mehr richtig einordnen kann. Die Macht, die in den geistigen Kräften des Menschen liegt, hat auch ihre gefährlichen Seiten.

Ein viertes Tier sieht Daniel im Traum: dieses war „ganz anders als die vorigen Tiere“. Was mag das für ein Wesen sein, welcher Stufe der menschlichen Entwicklung mag dieses Tier entsprechen: es „war furchtbar und schrecklich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne, fraß um sich und zermalmte, und was übrigblieb, zertrat es mit seinen Füßen“. Uns kam gestern die Idee: das ist ein Bild für eine bestimmte Art des erwachsenen Menschen, für eine bestimmte Art von Stärke, für die Lebenshaltung des: „ich beiße mich durch“, „ich benutze meine Ellbogen“, „ich muss andere treten, wenn ich nicht getreten werden will“.

Und es „hatte zehn Hörner“ – wozu sind die gut? Als Schutz vor Feinden, als Mittel des Kampfes gegen Rivalen sind Hörner zu gebrauchen.

Aber mitten in der Schilderung des vierten Tieres bricht plötzlich etwas Neues auf. Sollte es in dieser Darstellung des erwachsenen Menschen doch noch eine andere Seite geben? Ausgerechnet in der Reihe dieser furchtbaren Waffen, dieser Hörner des schrecklichen Tieres, ist etwas Neues zu entdecken: „ein anderes kleines Horn“ brach zwischen den anderen Hörnern hervor, „vor dem drei der vorigen Hörner ausgerissen wurden. Und siehe, das Horn hatte Augen wie Menschenaugen und ein Maul; das redete große Dinge.“ Jemand aus dem Bibelkreis hatte die Idee: das wirkt wie das Horn einer Schnecke mit dem Auge oben dran; aus einer Waffe, mit dem man nach außen stößt und verletzt, wird hier ein Organ, mit dem man schauen und wahrnehmen kann, was außen herum überhaupt vorgeht – Schlimmes, aber auch Gutes. Und ein Maul hat dieses Horn auch; und seine Aufgabe ist diesmal nicht das Fressen wie beim zweiten Tier, sondern es dient dazu, auch nach außen etwas mitzuteilen: „es redete große Dinge“.

Entsteht hier nicht etwas wirklich Großartiges: ein erwachsener Mensch, der sich nicht nur durchbeißt und um sich tritt, sondern der anfängt, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten – der sehen kann und reden kann, der Augen hat und einen Mund, der fähig ist zur Gemeinschaft? Wer sehen kann, der sieht auch das Leid und den Hunger der anderen. Wer reden kann, der kann auch für sich um Hilfe bitten. Schauen und reden ist wichtig, um Beziehungen zu anderen Menschen aufnehmen zu können, um teilen zu lernen, um zu spüren: Keiner muss zu kurz kommen, es ist auf der Welt genug für alle da.

An dieser Stelle, liebe Gemeinde, ist die Predigt zwar noch nicht zu Ende – ich hoffe übrigens, ich langweile Sie nicht – aber ich möchte Sie ein wenig verschnaufen lassen. Wir singen, begleitet vom Posaunenchor, das Lied 232, 1+2+11:

1) Sollt ich meinem Gott nicht singen? Sollt ich ihm nicht dankbar sein? Denn ich seh in allen Dingen, wie so gut ers mit mir mein. Ist doch nichts als lauter Lieben, das sein treues Herze regt, das ohn Ende hebt und trägt, die in seinem Dienst sich üben. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.

2) Wie ein Adler sein Gefieder über seine Jungen streckt, also hat auch hin und wieder mich des Höchsten Arm bedeckt, alsobald im Mutterleibe, da er mir mein Wesen gab und das Leben, das ich hab und noch diese Stunde treibe. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.

11) Weil denn weder Ziel noch Ende sich in Gottes Liebe findt, ei so heb ich meine Hände zu dir, Vater, als dein Kind, bitte, wollst mir Gnade geben, dich aus aller meiner Macht zu umfangen Tag und Nacht hier in meinem ganzen Leben, bis ich dich nach dieser Zeit lob und lieb in Ewigkeit.

Bis hierher, liebe Gemeinde, verfolgten wir in den Bildern der Tiere, die Daniel sieht, die Entwicklung des Menschen, seine Begrenzung, seinen Hunger, seine Antriebe. Wir hörten davon, wie brutal er werden kann, um seinen Hunger zu stillen und sich machtvoll durchzusetzen. Und wir hörten von dem kleinen zarten Hörnchen mit schauenden Augen und einem offen stehenden Maul, das Großes zu reden beginnt.

Und nun treten wir in Daniels Traum einer anderen Wirklichkeit gegenüber: „Ich sah, wie Throne aufgestellt wurden, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und das Haar auf seinem Haupt rein wie Wolle; Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder loderndes Feuer.“ Bilder von einem uralten weisen Mann und der feuerflammenden Sonne durchdringen sich und erwecken den Eindruck: Jetzt ist von Gott die Rede. „Und von ihm ging aus ein langer feuriger Strahl“, eine kraftvolle Energie geht aus von dieser größten Macht, ein Feuer, das zwei Seiten hat: es kann wärmen und leuchten, aber es kann auch verbrennen, was nicht vor der Weisheit des uralten Weisen bestehen kann. „Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht wurde gehalten, und die Bücher wurden aufgetan.“

Hier wird die letzte Wirklichkeit geschildert, vor der wir Menschen uns alle verantworten müssen. Was geschieht nun in diesem Gericht? Was kann vor diesem Gott bestehen und was nicht? „Ich merkte auf“, sagt Daniel ausdrücklich, er ist angespannt, seine Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt. „Ich merkte auf um der großen Reden willen, die das Horn redete.“ Ja, dieses Horn – wir haben gestern im Bibelkreis in ihm einen Hoffnungsschimmer erblickt inmitten der furchtbaren Schilderung des vierten Tieres. Die meisten Ausleger der Bibel und schon die auf diesen Abschnitt folgende Deutung dieses Traumes würden uns da nicht zustimmen – sie sehen dieses Horn geradezu als Ausbund der Bosheit des vierten Tieres, und die großen Reden würden dann als großmäulige, gotteslästerliche Reden gelten müssen. Aber davon steht bis jetzt noch überhaupt nichts im Text, und auch im nächsten Satz heißt es zwar: „Ich sah, wie das Tier getötet wurde und sein Leib umkam und ins Feuer geworfen wurde“, aber vom Horn ist nicht mehr die Rede, es muss nicht mit getötet worden sein. Ausdrücklich wird hervorgehoben: der Leib des Tieres stirbt, der Mensch, sofern er sich nur als brutale Bestie aufführt, muss sterben; was jedoch an ihm fähig wird, mit Augen des Herzens zu sehen und mit den Worten des Mundes Gemeinschaft herzustellen, das muss nicht untergehen. Und wenn es im nächsten Satz heißt: „Mit der Macht der andern Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte“, so sehen wir darin lediglich bestätigt: Jeder Entwicklungsschritt des Menschseins hat seine Zeit, so wie auch das ganze irdische Leben des Menschen seine Zeit hat. Irgendwann muss der Mensch sterben, aber es gibt auch etwas, was ewig bleibt.

Und dieses Ewige, was bleibt, das wird nun nicht überschwenglichen Bildern ausgemalt. Wir haben gehört: die Flügel werden schon dem Menschenkind gestutzt, die Löwenkräfte büßt er ein. Den Bärenhunger darf der Mensch stillen, aber wenn er geistig zu hoch hinauswill, steht er in der Gefahr, zerrissen zu werden. Und erst recht, wenn er nur stark sein und sich immer durchsetzen will, dann gerade wird er scheitern.

Und was wird bleiben? Daniel drückt es in ganz einfachen Worten aus: „Es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn“. Einfach der Sohn eines Menschen, einfach ein Mensch, nichts weiter, ein Mann oder eine Frau wie Sie und ich. Das Menschliche, das wahrhaft Menschliche wird bleiben – und ich bleibe dabei, in unserem Text wird das wahrhaft Menschliche in dem Bild des kleinen Horns auf dem fürchterlichen vierten Tier angedeutet: Schauen können mit Augen des Herzens, große Dinge reden können von der Barmherzigkeit und Liebe Gottes zu seinen Menschen. Und genauso hat es später der getan, den wir Christen den Menschensohn nennen, unser Herr Jesus Christus! Äußere Macht hat vor Gott keinen Bestand, sondern gerade dieser Jesus, der in seinem Erdendasein alle äußere Macht abgelehnt hat. Eines Menschen Sohn „gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Der gab ihm Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so verschiedenen Sprachen dienen sollten, und sein Reich hat kein Ende.“

Ja, wir Christen dürfen fest daran glauben: Jesus, der selber das Opfer menschlicher Machthaber geworden war, er sitzt nun auf dem himmlischen Thron. Und wir können sicher sein: dieser Richter wird Menschen nicht unterdrücken, nicht vernichtend bestrafen. Der Gott über uns trägt ein für allemal das menschliche Gesicht Jesu. Und wenn wir den Eindruck haben, wir Menschen benehmen uns manchmal wie Tiere, dann dürfen wir uns erziehen lassen von Jesus. Wir dürfen auf eine falsche Stärke verzichten. Wir dürfen fühlen und Sehnsucht und Wünsche haben wie er, wir dürfen Hunger haben, auch Hunger nach Liebe. Und unser Hunger wird gestillt werden im Vertrauen auf den Vater im Himmel. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Wir singen das Pfingstlied 90 – eine Bitte um den heiligen Geist, den Jesus uns schenken will, damit in uns das wahrhaft Menschliche wachsen kann, das was unser Leben in Ewigkeit erfüllt:

1) Christ fuhr gen Himmel. Was sandt er uns hernieder? Den Tröster, den Heiligen Geist, zu Trost der armen Christenheit. Kyrieleis. Halleluja, Halleluja, Halleluja. Des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein. Kyrieleis.

Fürbitten – Vaterunser – Segen: Helmut Jung
Lied 370, 1-4:

1) Wie lieblich ist der Maien aus lauter Gottesgüt, des sich die Menschen freuen, weil alles grünt und blüht! Die Tier sieht man jetzt springen mit Lust auf grüner Weid, die Vöglein hört man singen, die loben Gott mit Freud.

2) Herr, dir sei Lob und Ehre für solche Gaben dein. Die Blüt zur Frucht vermehre, lass sie ersprießlich sein. Es steht in deinen Händen, dein Macht und Güt ist groß, drum wollst du von uns wenden Meltau, Frost, Reif und Schloß‘.

3) Herr, lass die Sonne blicken ins finstre Herze mein, damit sichs möge schicken, fröhlich im Geist zu sein, die größte Lust zu haben allein an deinem Wort, das mich im Kreuz kann laben und weist des Himmels Pfort.

4) Mein Arbeit hilf vollbringen zu Lob dem Namen dein und lass mir wohlgelingen, im Geist fruchtbar zu sein; die Blümlein lass aufgehen von Tugend mancherlei, damit ich mög bestehen und nicht verwerflich sei.

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