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Zorn und Schuld, Machtlosigkeit und Verzweiflung

Trauerfeier für einen Mann, der sich selbst das Leben genommen hat. Um mit den gemischten Gefühlen von Zorn und Schuld, Machtlosigkeit und Verzweiflung umgehen zu können, bete ich den Psalm 88 und lege ihn für diejenigen aus, die ihm nahestanden.

Zorn und Schuld, Machtlosigkeit und Verzweiflung: Ein dunkler Strick hängt ins Bild, dahinter verschwommen zwei Personen von hinten, die durch einen grünen Garten gehen
Welche Gefühle treiben einen Menschen dazu, sich umzubringen? (Bild: Mabel Amber, still incognito…Pixabay)

Liebe Anwesende, ich wurde gebeten, die Beerdigung von Herrn A. zu halten, obwohl ich ihn nicht kannte. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass er zuletzt im Gebiet unserer Kirchengemeinde gelebt hat.

Diese Beerdigung ist ein Gottesdienst, wir feiern ihn im Namen des Gottes, der alle Menschen liebt als ein guter Vater, der unser Bruder wurde in Jesus, der uns nahe ist mit der Kraft seiner Liebe, gerade dann, wenn wir am Ende sind. Amen.

Liebe Frau Z., ich spreche Sie hier als erste an, obwohl ich weiß, dass Sie heute nicht hier sein können, und denke an Sie, die Sie weit weg von hier unabkömmlich sind.

Liebe Familie W., auch Sie spreche ich persönlich an, und auch bei Ihnen ist, während ich diese Ansprache vorbereite, noch nicht klar, ob Sie werden kommen können.

Wie dem auch sei, wir sind es Herrn A. schuldig, innezuhalten und bewusst von ihm Abschied zu nehmen. Er ist im Alter von [über 40] Jahren gestorben und wir erweisen ihm heute hier auf dem Friedhof die letzte Ehre.

Wer ihn gekannt hat, ein Stück gemeinsamen Weg mit ihm gegangen ist, wie auch immer, tut gut daran, sich darauf zu besinnen, welche Verbindung zum Verstorbenen nun abgerissen ist. Wie auch immer Sie zu ihm standen, Sie sind in der Beziehung zu ihm nicht unberührt und unbeeinflusst geblieben. Es hilft nicht, die gemischten Gefühle und Gedanken zu verdrängen; es ist wichtig, zu fühlen und über das zu reden, was man fühlt, um am Ende loslassen zu können, was einen belastet.

Was ich über Herrn A. weiß, ist herzlich wenig.

Erinnerungen an das Leben des Verstorbenen

An seinen Eltern hat er nicht genügend Halt gehabt; ein Zufluchtsort blieb für ihn bis zum letzten Herbst das Haus der Großmutter. In welche Schwierigkeiten er im Leben geriet und welchen Anteil er selber daran zu verantworten hatte, das wissen Sie besser als ich, wenn es überhaupt irgendein Mensch genau sagen könnte.

Gut, dass wir kein Urteil sprechen müssen über einen Menschen; das dürfen wir dem barmherzigen Vater im Himmel und seinem Sohn Jesus Christus überlassen, der uns besser kennt als sogar wir selber uns kennen. Er weiß um unsere Sorgen und Konflikte, er weiß, welche Möglichkeiten und Fähigkeiten, wie viel Leben und Liebe er uns geschenkt hat, und er allein hat das Recht uns zu fragen: „Was hast du aus deinem Leben gemacht, aus all dem, das ein Geschenk an dich war?“ Wie gesagt, das fragt uns alle der barmherzige Gott, der eben weil er der Barmherzige ist, uns auch nach unserer Barmherzigkeit fragt.

Diesem Gott vertrauen wir auch Herrn A. in seinem Tode an. Keiner weiß genau, warum er seinem Leben selbst ein Ende setzte. Wir können nur Vermutungen anstellen, die aber letzten Endes nichts bringen. Gott allein kennt das Ausmaß an Verzweiflung, das hinter einem solchen Schritt stehen mag, er heißt es nicht gut, wenn wir uns das Leben nehmen, das er uns geschenkt hat, aber er wird auch niemanden nur deshalb verdammen, weil er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat.

Wenn wir grübeln, wenn wir aufgewühlt sind, wenn wir nicht zur Ruhe kommen, wenn wir traurig sind oder in Angst, wenn wir zwischen Zorn und Schuldgefühlen und dem Gefühl der Machtlosigkeit hin- und herschwanken, dann tut es gut, eine Adresse zu kennen, an die wir uns mit all den gemischten Gefühlen wenden können. Eine solche Adresse ist Gott; zu ihm können wir beten. Wir müssen das nicht einmal laut tun, Gott hört auch unsere gebeteten Gedanken. Aber wenn uns danach ist, dürfen wir unser Gebet auch laut herausschreien, Gott hält sich nicht die Ohren zu, wenn wir ihn anschreien.

Ein Gebet aus der Bibel lege ich Ihnen ans Herz, das ein Mensch gebetet haben muss, der sehr verzweifelt war. Ich spreche die Worte aus dem Psalm 88:

2 HERR, Gott, mein [Befreier], ich schreie Tag und Nacht vor dir.

3 Lass mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Schreien.

4 Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode.

5 Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat.

6 Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand geschieden sind.

7 Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe.

8 Dein Grimm drückt mich nieder, du bedrängst mich mit allen deinen Fluten.

9 Meine Freunde hast du mir entfremdet, du hast mich ihnen zum Abscheu gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht heraus,

10 mein Auge sehnt sich aus dem Elend. Herr, ich rufe zu dir täglich; ich breite meine Hände aus zu dir.

11 Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?

12 Wird man im Grabe erzählen deine Güte und deine Treue bei den Toten?

13 Werden denn deine Wunder in der Finsternis erkannt oder deine Gerechtigkeit im Lande des Vergessens?

14 Aber ich schreie zu dir, Herr, und mein Gebet kommt frühe vor dich:

15 Warum verstößt du, Herr, meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir?

16 Ich bin elend und dem Tode nahe von Jugend auf; ich erleide deine Schrecken, dass ich fast verzage.

17 Dein Grimm geht über mich, deine Schrecken vernichten mich.

18 Sie umgeben mich täglich wie Fluten und umringen mich allzumal.

19 Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und meine Verwandten hältst du fern von mir.

Es ist eigentümlich und erschreckend, wie dieser Psalmbeter sein Schicksal auf Gott zurückführt. „Du hast mich in die Finsternis gelegt, ich erleide deine Schrecken.“ Ich kann nicht erklären, warum Gott so etwas tut, warum er zulässt, dass Menschen aus einer solchen Verzweiflung nicht mehr herausfinden.

Aber wenn ein Gott da ist, der uns hört, dann können wir wenigstens dies tun: vor ihm unser Herz ausschütten, so wie es auch in dem Psalm geschieht: „Mein Auge sehnt sich aus dem Elend. HERR, ich rufe zu dir täglich; ich breite meine Hände aus zu dir.“

Ich vertraue darauf von ganzem Herzen, dass der Schöpfer des großen Weltalls in einer ganz innigen Beziehung zu uns kleinen Geschöpfen auf der Erde lebt – was hier geschieht, was jeder einzelne Mensch denkt und fühlt und tut und erleidet, das ist ihm nicht gleichgültig, das geht ihm nahe.

In der Beziehung zu diesem Gott können wir Trost erfahren. Trost bedeutet nicht, dass Schmerz und Trauer, Schuld und Enttäuschung, ja, alles, was uns belastet, einfach weggedrängt wird. Trost bedeutet: Ich habe jemanden, dem ich mich anvertrauen kann. Ich brauche meine Tränen nicht zu verstecken. Da ist jemand, der versteht, was ich fühle, der verurteilt mich nicht, der schickt mich nicht weg, der lässt mich nicht allein. So einer ist Gott, so hat er sich in seinem Sohn Jesus auf die Menschen eingelassen, und es ist auch gut, wenn wir unter unseren Mitmenschen jemanden finden, der so zu uns ist.

Eine Frage aus dem Psalm 88 wird im Psalm selbst nicht beantwortet: „Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?“

Beantwortet wird diese Frage erst in der Zeit nach dem Tode Jesu am Kreuz: als die Jüngerinnen und Jünger Jesu erkennen: Gott ist mächtiger als der Tod, der Vater im Himmel hat seinen Sohn zu neuem Leben erweckt. Und ebenso kann Gott auch alle anderen Toten zu neuem Leben erwecken in einer neuen Welt. Ja, ich glaube es, Gott wird an den Toten Wunder tun, weil die Liebe Gottes stärker ist als alles andere.

Was unser irdisches Leben angeht, unser Leben in diesem von Gott geschaffenen Kosmos, ist unser Tod allerdings endgültig, da gibt es kein Zurück – da legen wir Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube. Dennoch geht niemand im Tode verloren. Was Herr A. in seinem Leben hier auf Erden wohl nicht wirklich gefunden hat, Erfüllung seiner Sehnsucht, Frieden für seine Seele, wer weiß, vielleicht findet er es im Himmel; ich traue Gott zu, dass er solche Wunder an den Toten vollbringt. Von Gottes Liebe bleibt auch Herr A. nicht ausgeschlossen. Amen.

Barmherziger Gott, da stehen wir mit unseren gemischten Gefühlen. Lass uns bewusst spüren, was wir empfinden: Liebe und Zorn, Trauer und Depression, Schuldgefühl und Machtlosigkeit.

Wir vertrauen dir Herrn A. an. Wir können nichts mehr für ihn tun; wir lassen ihn los in deine Hände – mit der Gewissheit, dass er in deiner Liebe gut aufgehoben ist.

Was uns belastet, werfen wir auf dich, Gott. Nimm von uns quälende Gedanken, was wir hätten anders machen können! Wir erinnern uns, wir danken für schöne Momente, wir bitten um Vergebung, wo wir einander etwas schuldig geblieben sind. Wir lassen los, was wir nicht ändern können. Zeige uns Menschen, denen wir uns anvertrauen können, wenn wir sie brauchen. Lass uns nach vorn schauen, um unseren eigenen Weg zu gehen, dass wir unsere Verantwortung wahrnehmen für uns selbst und für die, die uns anvertraut sind. Amen.

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Ein Kommentar zu „Zorn und Schuld, Machtlosigkeit und Verzweiflung“

  1. RIP

    man muesste in der Stunde der Not und Katastrophe relativieren können, dass man dankbar sein müsste, für das, was man hat, oder zumindest denken müsste, dass es Leute gab/ gibt, die gar keine Zufriedenheit haben.

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