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Ungeduldige Geduld und ängstliches Harren

Wer eine Psychotherapie anfängt, fühlt sich erst einmal besser, weil sich jemand um ihn kümmert. Aber dann kommen auch Zeiten, in denen alles mehr weh tut als je zuvor. Was man verdrängt hatte an schlimmen Gefühlen, dem kann man nicht mehr ausweichen. Und die Versuchung ist groß, zurückzufallen in vertraute schlimme Verhaltensweisen, um nicht ungesichert, ängstlich, schwach und bedürftig dazustehen.

Eine Therapeutin im vertrauensvollen Gespräch mit einer Klientin
Eine Therapeutin im vertrauensvollen Gespräch mit einer Klientin (Bild: Serena WongPixabay)

#predigtGottesdienst am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahrs, den 15. November 1992, um 9.30 Uhr in der Kapelle der Landesnervenklinik Alzey

Am Vorletzten Sonntag im Kirchenjahr begrüße ich Sie alle herzlich hier im Gottesdienst in unserer Klinik-Kapelle!

Das Kirchenjahr geht dem Ende zu, wie immer im November – danach fängt mit Advent und Weihnachten ein neues Kirchenjahr an, in zwei Wochen schon. Ende des Kirchenjahres – da gibt es so Sonn- und Feiertage wie Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag, da geht es um Themen wie: Ende der Welt, Vergänglichkeit und Buße, Tod und Trauer – Themen, die vielen Menschen Angst machen. Das Wetter draußen ist auch nicht immer schön, oft ist es trübe, neblig, regnerisch, die Tage werden kürzer.

Was machen wir in so einer Zeit in einem Gottesdienst? Ich will nicht mit Ihnen Trübsal blasen. Ich möchte Ihnen nicht noch mehr Angst machen, als vielleicht sowieso schon da ist. Deshalb möchte ich das Thema „Hoffnung“ in den Mittelpunkt dieses Gottesdienstes stellen. Wir werden von der Hoffnung singen, wie werden in Texten der Bibel von der Hoffnung lesen, und ich werde in der Predigt davon sprechen, wie wir Hoffnung erfahren können mitten in unseren Ängsten.

Wir beginnen mit dem Lied 123 aus dem Gesangbuch, da geht es um das Warten auf Jesus, wie er zu uns kommt, gerade dann, wenn für uns alles am Ende ist:

1) Wir warten dein, o Gottessohn, und lieben dein Erscheinen. Wir wissen dich auf deinem Thron und nennen uns die Deinen. Wer an dich glaubt, erhebt sein Haupt und siehet dir entgegen; du kommst uns ja zum Segen.

2) Wir warten deiner mit Geduld in unsern Leidenstagen; wir trösten uns, dass du die Schuld am Kreuz hast abgetragen; so können wir nun gern mit dir uns auch zum Kreuz bequemen, bis du es weg wirst nehmen.

3) Wir warten dein, du hast uns ja das Herz schon hingenommen. Du bist uns zwar im Geiste nah, doch sollst du sichtbar kommen; da willst du bei dir auch Ruh, bei dir auch Freude geben, bei dir ein herrlich Leben.

4) Wir warten dein, du kommst gewiss, die Zeit ist bald vergangen; wir freuen uns schon überdies mit kindlichem Verlangen. Was wird geschehn, wenn wir dich sehn, wann du uns heim wirst bringen, wann wir dir ewig singen!

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten mit Worten aus dem Psalm 119:

81 Meine Seele verlangt nach deinem Heil; ich hoffe auf dein Wort.

82 Meine Augen sehnen sich nach deinem Wort und sagen: Wann tröstest du mich?

84 Wie lange soll dein Knecht noch warten?

88 Erquicke mich nach deiner Gnade, dass ich halte die Mahnung deines Mundes.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Wenn wir am Ende sind, Gott, dann schaffe Du uns einen neuen Anfang.

Wenn wir uns nur noch nach dem Tod sehnen, zeige uns einen neuen Weg zum Leben.

Wenn wir vor lauter Angst und Schmerzen keinen Ausweg mehr sehen, gib uns neue Hoffnung.

Das erbitten wir von dir im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Im Bibelkreis sprachen wir in der vergangenen Woche über einen Text aus dem Buch Hiob. Hiob war ja ein sehr gläubiger Mensch, der große Trauer und Schmerzen ertragen musste. Dieser Hiob ließ sich nicht mit billigem Trost zufriedenstellen, sondern machte deutlich: man darf, gerade wenn man Gott vertraut, ganz ehrlich zu dem stehen, was man fühlt und denkt. In der Lesung hören wir heute, wie der gequälte und ungeduldige Hiob seines Buches in sehr deutlichen Worten vor Gott sein Leid klagt (Hiob 6):

1 Hiob antwortete und sprach:

2 Wenn man doch meinen Kummer wägen und mein Leiden zugleich auf die Waage legen wollte!

3 Denn nun ist es schwerer als Sand am Meer; darum sind meine Worte noch unbedacht.

4 Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir; mein Geist muss ihr Gift trinken, und die Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet.

5 Schreit denn der Wildesel, wenn er Gras hat, oder brüllt der Stier, wenn er sein Futter hat?

8 Könnte meine Bitte doch geschehen und Gott mir geben, was ich hoffe!

9 Dass mich doch Gott erschlagen wollte und seine Hand ausstreckte und mir den Lebensfaden abschnitte!

10 So hätte ich noch diesen Trost und wollte fröhlich springen – ob auch der Schmerz mich quält ohne Erbarmen – , dass ich nicht verleugnet habe die Worte des Heiligen.

11 Was ist meine Kraft, dass ich ausharren könnte; und welches Ende wartet auf mich, dass ich geduldig sein sollte?

12 Ist doch meine Kraft nicht aus Stein und mein Fleisch nicht aus Erz.

13 Hab ich denn keine Hilfe mehr, und gibt es keinen Rat mehr für mich?

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Halleluja! „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Die Lesung aus dem Hiob-Buch sollte uns helfen, dass wir nicht zu schnell über den Schmerz unserer Seele hinweggehen sollten. „Was ist meine Kraft, dass ich ausharren könnte; und welches Ende wartet auf mich, dass ich geduldig sein sollte?“ Diese Frage ist von Hiob gestellt, und wir müssen gut über sie nachdenken, gleich in der Predigt, damit wir eine echte Hoffnung für unser Leben finden, und nicht bloß eine billige Vertröstung.

Vorher singen wir noch ein Lied von den Ängsten, in und mit denen viele Menschen leben müssen. Es steht im roten Liederheft unter Nr. 213:
In Ängsten die einen, und die andern leben
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Zur Predigt hören wir aus dem Brief des Paulus an die Römer 8, 18-25:

18 Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.

19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.

20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung;

21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.

22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.

23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.

24 Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?

25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Liebe Gemeinde!

Geduld – ist das nicht eins der meistgebrauchten Wörter, wenn man für längere Zeit krank ist? „Sie müssen Geduld haben!“ sagen die Ärzte und Schwestern. „Ich wünsche Ihnen viel Geduld!“ sage ich manchmal als Seelsorger, um zu trösten. „Wenn ich doch nur mehr Geduld aufbringen könnte!“ bekomme ich von vielen Patienten zu hören. Aber was ist, wenn jemand trotzdem ungeduldig ist oder an eine Besserung überhaupt nicht glauben kann?

Ob jemand geduldig sein kann, das hängt zum Teil von den persönlichen Erfahrungen des Menschen und auch von seinem angeborenen Temperament ab. Wer nie gelernt hat, auch einmal zu warten, bis ein Wunsch erfüllt wird, dem wird es schwerfallen, geduldig zu sein. Wer sich selber immer beeilen musste, um den Wünschen anderer schnell gerecht zu werden, wird sich wohl auch nicht so leicht gedulden können, wenn er zum Abwarten verurteilt ist. Ein Mensch von lebhaftem Wesen, der immer alle Dinge voller Energie und Aktivität angepackt hat, wird es als Qual empfinden, geduldig sein zu müssen.

Aber was heißt das überhaupt: Geduld haben, geduldig sein? Viele Menschen scheinen damit ein stilles Dulden zu verbinden. Man erträgt alles ohne Klage, ohne Ärger oder Wut zu zeigen, ohne zu weinen oder gar zu schreien.

Es ist natürlich wahr: Manche Dinge kann man nicht ändern. Wenn wir um einen Menschen trauern, den wir geliebt haben, dann können wir ihn nicht wieder lebendig machen. Wenn wir an einer Krankheit leiden, dann müssen wir abwarten, ob die Therapie Erfolg zeigt, und manchmal ist es ungewiss, wie lange das dauern wird. Aber heißt das denn, dass man immer alles still und stumm ertragen muss, ganz ohne Klage, ohne dass wir unsere Gefühle irgendjemandem zeigen dürfen?

Schon Hiob in der Bibel wusste etwas davon: es hilft nichts, immer alle bedrängenden Gefühle wegzudrängen, man wird nur noch kränker davon, es hilft nichts, vor sich selber, vor der Angst, vor dem Leben davonzulaufen, davon wird nichts besser. Hiob war kein stiller Dulder, das Wort „ungeduldig“ kommt bei ihm häufiger vor als das Wort „Geduld“ – und vielleicht kann er uns gerade auf diese Weise helfen, eine andere Art von Geduld zu lernen. Hat Hiob nicht so eine Art ungeduldige Geduld vor Gott laut werden lassen? Er ließ sich ja nicht seine Klage ausreden, und Gott verbot ihm nicht den Mund, auch als er Gott hart anklagte. Und in all dem hörte Hiob doch nicht auf, seinem Gott zu vertrauen. Er konnte zwar so zu Gott beten: „Dass mich doch Gott erschlagen wollte und seine Hand ausstreckte und mir den Lebensfaden abschnitte!“ Aber er nahm sich nicht selbst das Leben, das ihm ja von Gott geschenkt war.

Noch einmal will ich an Hiobs Frage erinnern, die wir vorhin gehört haben: „Was ist meine Kraft, dass ich ausharren könnte; und welches Ende wartet auf mich, dass ich geduldig sein sollte?“

Was also gehört eigentlich dazu, um so wie Hiob aushalten zu können, was eigentlich unerträglich ist, Geduld haben zu können, wenn man eigentlich vor lauter Ungeduld keine Ruhe findet? Woher nimmt man dazu die Kraft, und woher soll man wissen, „welches Ende auf uns wartet“, wohin das alles noch führen soll?

Mit anderen Worten, jetzt mit Worten aus dem Text des Paulus: Um Geduld haben oder erlernen zu können, braucht man etwas ganz Wichtiges: man braucht Hoffnung, man braucht die Zuversicht, dass überhaupt etwas zu erwarten ist. Erscheint einem die Zukunft leer oder nur bedrohlich, dann ist auch das jetzige Leben sinnlos; wozu dann noch Geduld haben? Darum ist es Paulus so wichtig, Hoffnung zu predigen: Er weiß, wir Christen haben in der Zukunft etwas Gutes zu erwarten. „Denn ich bin überzeugt“, schreibt Paulus, „dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.“

Paulus will uns mit diesem Satz Mut machen. Wir haben etwas zu erwarten, eine große „Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“, Gott hat mit uns wirklich noch etwas vor! Aber kann man diesen Satz nicht auch als eine ungeheure Frechheit empfinden? Das Leiden jetzt fällt nicht ins Gewicht – was soll das heißen? Soll das bedeuten: es ist nicht wichtig, was wir jetzt fühlen, die Angst, die wir ausstehen, die Trauer, die wir durchmachen, die ohnmächtige Wut, die wir in uns spüren? Soll das heißen: das eigentliche Leben beginnt erst später, was jetzt ist, ist nicht von Bedeutung?

Aber nein, so ist das von Paulus nicht gemeint. Er verbietet nicht die Angst, er wertet nicht unsere Gefühle ab, er kann gut verstehen, dass alle Geschöpfe auf unserer Erde viel zu erdulden und zu klagen haben. „Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.“

Vielleicht gehört beides sogar untrennbar zusammen: Schmerz und Leiden, Angst und Trauer nicht zu verdrängen – und gerade deshalb hoffen können.

Und umgekehrt: Wer nichts zu erwarten hat, der lebt vielleicht sogar ohne Angst, weil für ihn sowieso alles egal ist. Er nutzt alle Möglichkeiten, sich abzulenken, sich zu betäuben.

Doch wer einmal ein Stück Hoffnung erlebt hat, wer ein Stückchen Glück erfahren hat, der ist auch den anderen Gefühlen in sich selbst hilfloser ausgeliefert als jemals zuvor, der kennt auch die Angst, ob es auch in Zukunft dieses Glück noch geben wird, ob die Hoffnung nicht doch enttäuscht werden wird.

Paulus scheint davon auszugehen, dass die ganze Schöpfung Gottes, alle Menschen, alle Tiere in Angst leben. Sie leben so lange in Angst, bis „die Kinder Gottes offenbar werden.“ Könnte das nicht zweierlei heißen? Einmal: dass die Menschen endlich lernen, wahrhaftig zu sein, ehrlich zu sich selbst zu stehen, zu ihren Stärken wie zu ihren Schwächen? Offen und ehrlich, offenbar und nicht versteckt? Und zum zweiten: dass diese Menschen mit all ihren Fehlern und ihrer Angewiesenheit auf Hilfe dennoch Kinder Gottes sind, von Gott gewollt und geliebt! Die ganze Welt bekommt ein anderes Gesicht, wenn man sie mit diesen Augen sieht: dass ein Plan dahinter steckt, dass sie ein Ziel hat, dass nicht einfach alles ohne Sinn und Zweck irgendwann einmal im Nichts versinkt.

An dieser Stelle möchte ich die Predigt unterbrechen und mit Ihnen ein altes Lied zur Gitarre singen, das im Liederheft unter Nummer 8 steht:
Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl

Liebe Gemeinde, verfolgen wir diesen Gedanken des Paulus doch noch einmal genauer in seinem Text – dass Gott mit uns, mit seiner Welt, mit all seinen Geschöpfen einen Plan, ein Ziel verfolgt, dass es trotz allem Elend und allem Leid dennoch einen Sinn gibt, der die Schöpfung Gottes durchzieht.

Paulus weiß, dass es scheinbar nicht so ist. Wie soll es einen Sinn geben in einer Welt, in der alles einmal aufhört – Staaten gehen unter, Menschenleben werden in Kriegen geopfert, die ganze Umwelt von Mensch und Tier ist in Gefahr. Und auch im Leben der einzelnen Menschen schwinden die Kräfte mit zunehmendem Alter, viele werden auch schon in jungen Jahren krank, das Leben vieler Mitmenschen ist von schweren Schicksalsschlägen und immer wiederkehrenden Enttäuschungen geprägt. Paulus drückt das so aus: „Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit.“ Es ist, als ob er sagen will: Ich weiß auch nicht, warum es in dieser Welt so eingerichtet ist, aber es ist so. Kein Mensch will das gerne, und die Pflanzen und Tiere können sich darüber sowieso keine Gedanken machen, aber unsere Welt ist so eingerichtet, dass es Geburt und Tod gibt, Anfang und Ende, Werden und Vergehen. „Die Schöpfung ist unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat“. Von wem spricht Paulus da? Wer hat das verursacht? Er scheint es offen zu lassen, als ob er eine Scheu hat, zu sagen: Das muss Gott selber so gewollt und eingerichtet haben. Eine Begründung dafür, warum Gott eine Welt geschaffen hat, in der alles vergänglich ist, weiß Paulus auch nicht.

Aber das lässt Paulus einfach so stehen. Er bemerkt es nebenbei – und geht dann zu einem für ihn wichtigeren Gedanken über. Die Schöpfung ist vergänglich – aber das ist nicht die ganze Wahrheit – sie ist vergänglich – „doch auf Hoffnung.“ Es gibt auch für eine Welt, in der für unsere menschlichen Augen nichts für immer Bestand hat, doch noch etwas zu hoffen. Warum? „Denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“, sagt Paulus.

Nur wir Menschen – nicht die Tiere oder Pflanzen – nur der Mensch ist sich, wenn er klar nachdenkt, dessen bewusst, dass er sterben muss, dass es viel Grund zur Angst gibt, dass zu leben nicht nur bedeutet, Freude und Glück zu erfahren, sondern auch Trauer und Zorn, Angst und Tränen. Nur der Mensch hat genug Verstand, Geist, Vernunft, um sich das klarzumachen – nur der Mensch muss daher offenbar in einem viel höheren Maß Angst aushalten als die Tiere. Trotzdem weiß Paulus wohl auch etwas davon, dass nicht nur der Mensch, sondern auch die Tiere und Pflanzen, das Ganze, was wir heute Umwelt nennen, leiden kann, Angst und Schmerz empfinden kann. „Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“ Das ist eine der wenigen Stellen in der Bibel, wo schon damals ein Zusammenhang gespürt wird zwischen den Menschen und der Natur – ohne die Pflanzen und die Tiere kann der Mensch nicht leben; allerdings ist der Mensch das einzige Lebewesen, das sich wirklich bewusst machen kann, dass alles, was geschaffen ist, einmal vergehen muss, sterben muss. Angst und Seufzen kennen wir genau wie die Tiere; wenn ein Tier gequält wird, dann leidet es genau wie der Mensch; sogar trauern können Tiere um ein anderes vertrautes Lebewesen; aber wir Menschen haben außerdem noch unseren Geist, unseren Verstand, unser Denken; und wenn wir dieses Denken einsetzen, dann merken wir, dass wir sehr sehr kleine Wesen in einem riesengroßen Weltall sind, abhängig von vielen äußeren Gegebenheiten, angewiesen auf Hilfe von anderen Menschen, ausgeliefert vielen Ängsten, Traurigkeiten und Schmerzen und zuletzt dem Sterben.

Das alles wäre ausweglos, gäbe es nicht die Hoffnung, von der Paulus auch spricht. Inmitten dieses riesengroßen Weltalls, in dem wir Menschen fast verloren aussehen, so winzig kleine Wesen sind wir, inmitten dieser Welt sind wir nämlich nicht allein.

Denn diese Welt ist von einem Gott geschaffen worden, dem seine eigene Schöpfung nicht egal ist. Es ist ein Gott, der selbst in seine eigene Schöpfung hineingegangen ist, in der Gestalt eines Menschen, des Mannes Jesus von Nazareth. Dieser Mann Jesus hat in vielen seiner Mitmenschen eine Sehnsucht geweckt, denn er fing an, Gott ganz vertraut anzureden: Vater, Abba, Papa – so sprach er zu dem Gott im Himmel, vor dem so manche andere vor und nach ihm so viel Angst gehabt hatten.

Nur wenn uns diese Sehnsucht erfüllt wird, nur wenn wir wirklich einen Vater im Himmel haben, der uns liebhat, nur dann ist unser Leben mit Sinn erfüllt. Nur dann kann unsere Angst vor dem Tod und vor dem Leben gestillt werden, unsere Angst vor der Verzweiflung und vor der Sinnlosigkeit, und auch unsere Angst vor der Angst. „Wir selbst haben den Geist als Erstlingsgabe“, sagt Paulus, wir sind die ersten Wesen in Gottes Schöpfung, die sich Gedanken machen können über den Sinn des Lebens und der ganzen Schöpfung. Und er fährt fort: wir „seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.“

So lange wir in einer Welt ohne Vertrauen und Liebe leben, leben wir praktisch in einer Hölle. Wir sind gezwungen, alles im Leben unter Kontrolle zu halten, aber gerade dadurch geraten wir in Abhängigkeit und leben ständig unter Druck und Zwang. Das ist es, was Paulus die „Knechtschaft der Vergänglichkeit“ nennt.

Wenn wir aber neue Erfahrungen machen, wenn wir spüren, wie das ist, sich anvertrauen zu können, sich wie ein Kind geborgen zu fühlen, wenn wir uns an Gott festhalten können in einem Vertrauen, das langsam wächst und immer tiefer wird – dann können wir uns immer mehr aus alten Abhängigkeiten und Zwängen lösen, manchmal kann sogar im Körper etwas gesund werden, wenn sich Spannungen in der Seele gelöst haben.

An dieser Stelle unterbreche ich noch einmal die Predigt für ein Lied, diesmal ein Vertrauenslied aus dem Gesangbuch, Nummer 299, Strophen 1+2+6:

1) Was Gott tut, das ist wohlgetan, es bleibt gerecht sein Wille; wie er fängt seine Sachen an, will ich ihm halten stille. Er ist mein Gott, der in der Not mich wohl weiß zu erhalten; drum lass ich ihn nur walten.

2) Was Gott tut, das ist wohlgetan, er wird mich nicht betrügen, er führet mich auf rechter Bahn; so lass ich mir genügen an seiner Huld und hab Geduld; er wird mein Unglück wenden, es steht in seinen Händen.

6) Was Gott tut, das ist wohlgetan, dabei will ich verbleiben. Es mag mich auf die rauhe Bahn Not, Tod und Elend treiben, so wird Gott mich ganz väterlich in seinen Armen halten; drum lass ich ihn nur walten.

Solch ein Vertrauen, von dem Paulus schrieb und das sich in diesem Lied ausdrückt, liebe Gemeinde, solch ein Vertrauen braucht aber wirklich Zeit zum Wachsen. An Gott glauben, Begleitung durch einen anderen Menschen erfahren, das ist kein schnelles Rezept, um alle Probleme zu lösen, um alle Schwierigkeiten des Lebens beiseiteschieben zu können.

Einige von Ihnen wissen es: Wer zum Beispiel eine Psychotherapie anfängt, der fühlt sich zwar am Anfang erst einmal besser, weil sich jemand um ihn kümmert. Aber dann kommen auch Zeiten, in denen alles noch viel mehr weh tut als je zuvor. Denn alles, was man früher verdrängt und betäubt hatte an schlimmen Gefühlen, das kommt jetzt zutage, dem kann man jetzt nicht mehr ausweichen. Und die Versuchung ist groß, wieder zurückzufallen in alte – zwar schlimme, aber vertraute – Verhaltensweisen, sich ein Hintertürchen offenzuhalten, um nicht mehr so ungesichert, ängstlich, schwach und bedürftig dazustehen.

Wer angefangen hat mit einem Leben aus Vertrauen, der gibt mehr und mehr die absolute Kontrolle über sein Leben auf. Denn Gefühle kann man nicht ohne böse Folgen kontrollieren, weder die eigenen noch die Gefühle anderer Menschen. Ich kann nicht auf Dauer meine eigene Angst unterdrücken. Ich kann nicht die Liebe eines anderen Menschen erzwingen. Paulus sagt das so: „Wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung.“ Also: Im Vertrauen auf einen anderen Menschen beginnen wir etwas von ihm zu erwarten, z. B. dass er uns nicht im Stich lassen wird. Einen Beweis dafür gibt es nicht, dass er uns nicht enttäuschen wird, aber trotzdem wächst das Vertrauen: Er wird es nicht tun! Umgekehrt: Wer unbedingt einen Beweis haben will, ob man sich auf jemanden verlassen kann oder nicht, der wird vielleicht sogar selber dazu beitragen, dass er auf jeden Fall enttäuscht wird. In den Worten des Paulus: „Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?“ Vor Augen sieht man nur, was man machen und selber unter Kontrolle halten kann. In der Hoffnung geht es aber um etwas anderes, was man nur zulassen, nicht machen, nicht unter die eigene Kontrolle bringen kann. Nur mit den inneren Augen der Seele nimmt man diese Hoffnung wahr, nur mit einer Haltung des Vertrauens. Und wenn das Vertrauen wächst, dann wächst Hoffnung, und mit dieser Hoffnung wächst auch Geduld. „Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.“

Und gerade indem Vertrauen, Hoffnung und Geduld schon jetzt in uns wachsen, sind alle diese Dinge nicht nur eine Vertröstung auf ein späteres Leben, nein, sondern erfülltes Leben beginnt schon jetzt und hier. Wirkliches Leben beginnt da, wo ich schon heute mitten in Ängsten und Traurigkeiten ein ganz kleines Stückchen Glück erfahre, ein Stückchen Liebe, ein Stückchen Vertrauen, wo ich mitten im grauen Alltag einen Lichtblick sehe.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Nach der Predigt singen wir ein weiteres Vertrauenslied aus dem Gesangbuch: Nummer 302, 1+5+6:

1) Wie Gott mich führt, so will ich gehn ohn alles Eigenwählen; geschieht, was er mir ausersehn, wird mirs an keinem fehlen. Wie er mich führt, so geh ich mit und folge willig Schritt für Schritt in kindlichem Vertrauen.

5) Wie Gott mich führt, so bleib ich treu im Glauben, Hoffen, Leiden. Steht er mit seiner Kraft mir bei, was will mich von ihm scheiden? Ich fasse in Geduld mich fest; was Gott mir widerfahren lässt, muss mir zum Besten dienen.

6) Wie Gott mich führt, so will ich gehn, es geh durch Dorn und Hecken. Sein Antlitz lässet Gott nicht sehn; zuletzt wird er aufdecken, wie er nach seinem Vaterrat mich treu und wohl geführet hat. Dies sei mein Glaubensanker.

Barmherziger Gott, guter Vater, wir vertrauen uns dir an mit allem, was uns bewegt, mit allem, wofür wir dankbar sind, mit allem, was uns belastet, mit allem, was wir nicht begreifen können. Wir beklagen das Leid der gequälten Kinder, sei es, dass sie in Kriegen oder Katastrophen umkommen oder geschädigt werden, oder sei es, dass sie von ihren eigenen Eltern abgelehnt oder für ihre eigenen Zwecke missbraucht werden. Wir möchten es lernen, wie Hiob an dich zu glauben und ehrlich alles vor dich zu bringen, was uns bewegt. Wir möchten es lernen, wie Paulus eigenem und fremdem Leiden standzuhalten. Schenke uns die ungeduldige Geduld des Hiob, die zuversichtliche Hoffnung des Paulus, dass wir es wagen zu leben, auch wenn uns alles ausweglos erscheint. Halte uns fest mit deinen starken Armen, lass in uns das kleine Senfkorn Hoffnung nicht verdorren, lass ins uns das kleine Fünkchen Vertrauen niemals erlöschen. Amen.

Alles, was uns heute bewegt, schließen wir im Gebet Jesu zusammen:

Vater unser

Zum Schluss singen wir aus dem roten Liederheft das Lied 217 vom kleinen Senfkorn Hoffnung:

Kleines Senfkorn Hoffnung

Und nun lasst uns mit Gottes Segen in den Sonntag und in die neue Woche gehen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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