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„Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen“

In der Trauerfeier für eine Frau, in deren Familie es Zerwürfnisse gab, lege ich den Psalm 90 aus – als Lehrstück über Gottes Zorn und Gnade und als Anleitung zur Versöhnung.

"Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen": Ein zerschlissener, zerrissener Stoff, der unter Spannung steht
Spannungen in einer Familie zerstören Vertrauen, Liebe, Leben (Bild: CJPixabay)

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

Liebe Gemeinde! Wir sind hier versammelt, um von Frau Y. Abschied zu nehmen, die im Alter von [über 70] Jahren gestorben ist.

Wir sind hier, um der Verstorbenen zu gedenken. Ihr Leben hier auf Erden ist vorüber; wir versuchen, ihr in der Erinnerung gerecht zu werden.

Wir sind hier mit unseren Gedanken und Gefühlen; traurig und dankbar, verletzt und zornig, aufgewühlt oder abgestumpft, mit Bitterkeit und längst erstorbenen Hoffnungen im Herzen oder mit ohnmächtiger Sehnsucht nach Versöhnung.

Und wir sind hier in einer Trauerfeier, die ein Gottesdienst ist. Wir bringen vor Gott, was uns bewegt und belastet. Wir hören Worte der Bibel, damit wir aus Ihnen Klärung, Ermutigung und Trost schöpfen.

Lasst uns beten mit dem Psalm 130:

1 Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir.

2 Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!

3 Wenn du, HERR, Sünden anrechnen willst – Herr, wer wird bestehen?

4 Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.

5 Ich harre des HERRN, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.

6 Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen.

7 Denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.

Liebe Gemeinde!

Erinnerungen an das Leben, die große Familie und die chronische Krankheit der Verstorbenen

Leider gab es auch Zerwürfnisse in der Familie, die ich erwähne, weil es nichts hilft, wenn man sich eine heile Welt vormacht, wo zwischen Menschen etwas zerbrochen ist. Hier ist nicht der Ort, um darüber zu spekulieren, wer daran wie viel Schuld trägt, aber es ist doch wichtig, sich klarzumachen, dass es Frau Y. wehgetan hat, von einigen ihrer Kinder keinen Besuch mehr zu bekommen. Wobei ich niemanden einen Vorwurf mache, denn Frau Y. konnte wohl auch den Eindruck erwecken, als wolle sie sowieso lieber in Ruhe gelassen werden. Sie führte, vielleicht auch bedingt durch ihre Krankheit, ein sehr zurückgezogenes Leben. Das wissen ja auch die, die mit ihr im gleichen Haus lebten.

Frau Y. hatte es nicht einfach im Leben, und viele hatten es wohl auch nicht einfach mit ihr. Durch ihre Krankheit wurde sie verletzbarer als andere Menschen. Zugleich konnte man Frau Y. durchaus liebhaben, auch wenn man nicht immer ihrer Meinung war. Wer ihr begegnet ist, Prägungen und Einfluss von ihr erfahren hat, wird sich heute an viele Begebenheiten aus ihrem Leben erinnern; und es sind manchmal die unscheinbaren Ereignisse, an denen einem aufgeht, wie viel jeder und jedem einzelnen diese Frau bedeutet hat und was mit ihrem Tod unwiederbringlich vorbei ist.

Angesichts ihres Todes und unseres kurzen Lebens möchte ich mit Ihnen über die Worte eines Psalms der Bibel nachdenken, in dem Beterinnen und Beter des alten Israel sich Gedanken über das Leben und seine Vergänglichkeit gemacht haben. Ich lese Psalm 90 (Vers 10 nach der Lutherbibel 1912):

1 Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.

2 Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

3 Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!

4 Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.

5 Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst,

6 das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt.

7 Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahin müssen.

8 Denn unsre Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.

9 Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn, wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.

10 Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn‘s hoch kommt, so sind‘s achtzig Jahre, und wenn‘s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.

11 Wer glaubt‘s aber, dass du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm?

12 Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

13 HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig!

14 Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.

15 Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden.

17 Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns. Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern!

Das sind zum Teil sehr vertraute Worte, liebe Gemeinde: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen.“ „Tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag.“ „Unser Leben währet siebzig Jahre.“ Unser Leben ist kurz, nur Gott ist ewig. Frau Y.s Lebenszeit liegt zwischen diesen beiden Zahlen, die die Bibel als den Durchschnitt für ein erfülltes Leben angibt, und doch fragen wir uns: Ist dieses Leben nicht immer zu kurz? Welcher Sinn liegt in einem Leben, das unweigerlich im Tode endet?

Zwischen den vertrauten Sätzen im Psalm 90 enthält dieses alte Gebet auch den Versuch, auf diese Frage zu antworten: „Warum müssen Menschen sterben?“ Es ist eine Antwort, die für uns moderne Menschen schwer zu verdauen ist: „Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen.“ „Alle unsre Tage fahren dahin durch deinen Zorn.“

Was ist gemeint mit dieser Deutung des Todes? Es ist doch nicht jeder Tod eine Strafe Gottes. Jedenfalls darf kein Mensch über einen konkreten Verstorbenen ein solches Urteil fällen. Wichtig ist, dass der Psalm in der „Wir-Form“ spricht. Da geben sich Menschen über ihr eigenes Leben Rechenschaft, schlagen an ihre eigene Brust, überlegen, wie sinnvoll sie ihr eigenes Leben verbringen.

Verständlich wird das Anliegen des Psalms vom Ende her, wo es heißt: „Fülle uns frühe mit deiner Gnade!“ Ja, wer so beten kann, der erlebt sich nicht von Gott gestraft, sondern jeden Tag mit immer neuen Chancen beschenkt: Chancen zur Hoffnung, zur Liebe, zur verantwortlichen Tat, zu einem erfüllten Leben.

Aber es sind eben auch begrenzte Chancen. Unsere Tage sind gezählt. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“: Wir kurz ist unser Leben angesichts der Ewigkeit Gottes. Was sind tausend Jahre für Gott? Nicht mehr als für uns ein Tag. Wie kurz dagegen die 70 oder 80 Jahre unseres Lebens!

Und wie oft nutzen wir Chancen nicht, die sich uns bieten, schaffen wir es nicht, über den eigenen Schatten zu springen, ziehen wir uns zurück, statt uns zu öffnen. Aber unser Leben ist zu kurz, als dass wir mit wichtigen Dingen ewig warten könnten. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, sagte Gorbatschow über Politiker, die die Zeichen der Zeit nicht erkennen wollten.

Der Psalm 90 meint Ähnliches: Wo wir unser Leben als flüchtige Erscheinung ohne wirkliche Erfüllung erfahren, da können wir es nicht im Zeichen der Liebe dankbar aus Gottes Hand nehmen: „Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen.“ Dann fahren unsere Tage nur so dahin, als ob ein zorniger Gott sie uns rauben würde. Und die verpassten Chancen wenden sich irgendwann anklagend gegen uns. Hätten wir doch! Es nützt nichts, Recht zu haben und auf dem eigenen Stolz zu beharren, wenn dabei unsere Sehnsucht nach Versöhnung auf der Strecke bleibt und die Liebe stirbt.

Aber wenn wir unsere Tage mit der Klugheit des Glaubens betrachten, mit Vertrauen auf Gott nämlich, dann ist jeder Tag ein neues kostbares Geschenk, das mit Gottes Liebe angefüllt ist. Zugleich ist jeder Tag eine neue Herausforderung an uns, mit diesem Geschenk verantwortlich umzugehen. Ver-antwortlich – das heißt: auf Liebe mit Liebe zu antworten.

Gott begegnet uns mit unendlich großer Barmherzigkeit. Damit macht er uns fähig und mutet es uns auch zu, ebenfalls barmherzig zu sein, mit uns selbst und mit anderen. Dann „fahren unsere Tage nicht mehr dahin durch Gottes Zorn.“ Nein, dann füllt Gott uns jeden Morgen neu die leeren Hände. Er lässt unsere ausgebrannte Seele auftanken und neue Kraft schöpfen. Er schenkt uns nach den Tränen wieder neue Freude. Er „fördert das Werk unserer Hände“, das heißt, er hilft uns, dem, was wir tun, einen guten neuen Sinn zu geben.

Tod – das klingt nach Ende, nach Abschied, nach Untergang. Ja, die Trauer und der Abschied sind am Platz, wo ein Mensch nicht mehr da ist, der eine bestimmte Rolle in unserem Leben gespielt hat. Und je mehr wir diese Person geliebt haben, desto mehr vermissen wir sie, desto trauriger sind wir.

Ebenso wichtig ist es, mit anderen belastenden Gefühlen und Gedanken fertigzuwerden, loszulassen, was nicht mehr zu ändern ist, und Gott um Vergebung zu bitten für das, was man einander schuldig geblieben ist.

Tod – das ist christlich gesehen aber nicht nur ein Ende, sondern auch ein Anfang. Für die Verstorbene ist der Tod ein Durchgang zum neuen Leben, zur Ewigkeit, eine Rückkehr zu Gott. Von ihm her kommen wir auf diese Erde; zu ihm kehren wir zurück, wenn wir sterben.

Für die anderen, die wir die Hinterbliebenen nennen, geht das Leben weiter, und vielleicht bietet das Nachdenken über den Tod und die Kürze des Lebens und über Chancen, die man nicht verpassen sollte, nun auch noch eine Gelegenheit, um in der Familie neu aufeinanderzuzugehen.

In diesem Sinne dürfen wir Frau Y. getrost loslassen. Gott nimmt sie drüben auf der anderen Seite des Todes in seine liebevollen Hände und wird ihr gerechter werden, als wir es in noch so vielen Worten tun könnten. Und auch wir dürfen uns Gott anvertrauen hier in diesem Leben, mit der Zuversicht, dass er uns jeden Morgen neue Chancen gibt. Amen.

Gott, du bist Anfang und Ende. Du hast dieses Leben gegeben, jetzt kehrt es zurück in deine Hände. Wir beten für Frau Y.: Nimm sie gnädig auf in dein ewiges Reich. Schenke ihr Ruhe in deiner Liebe.

Wir sind traurig und auch dankbar für das, was uns mit der Verstorbenen geschenkt war. Begleite uns auf dem Weg unserer Trauer und hilf uns zu bewältigen, was dieser Abschied für uns mit sich bringt. Vergib uns, wo wir einander etwas schuldig geblieben sind; nimm Lasten von unseren Schultern, die uns zu schwer werden; hilf uns, Entscheidungen zu treffen, die wir vor uns hergeschoben haben; lass uns aufatmen, wenn uns Schritte der Versöhnung gelingen. Nimm uns alle, die Lebenden und die Verstorbene, hinein in deine Versöhnung. Wir bitten dich: Schenke uns deinen Trost und die Gewissheit, dass deine Liebe stärker ist als der Tod. Amen.

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