Tochter des Jaïrus: Inneres Kind der Blutflüssigen?

Es geht hier nicht um eine Sensation, die hinausposaunt werden soll, das ist auch keine Geschichte, mit der Jesus berühmt werden will, das ist nur eine Angelegenheit zwischen ihm und einem Mädchen, das durch seine Berührung anfangen darf, zu fühlen, Sehnsucht nach Liebe zu haben, ein Kind zu sein und – nach und nach – erwachsen zu werden.

Ottheinrich-Bibel, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8010, Blatt 52r: Heilung der blutflüssigen Frau / Auferweckung der Tochter des Jairus, Mk 5, 21-43, von einem unbekannten Künstler (Markusmaler or Martinus Opifex), circa 1425-1430
Ottheinrich-Bibel, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8010, Blatt 52r: Heilung der blutflüssigen Frau / Auferweckung der Tochter des Jairus, Mk 5, 21-43 (von einem unbekannten Künstler (Markusmaler or Martinus Opifex, circa 1425-1430), Ottheinrich Folio052r Mc5B, als gemeinfrei gekennzeichnet, via Wikimedia Commons)

#predigtGottesdienst am Sonntag Lätare, den 9. März 1997, um 10.00 Uhr in Dautenheim (anschl. Kindergottesdienst) und am Sonntag Judika, den 16. März 1997, um 9.00 Uhr in der Kapelle der Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Herzlich willkommen im Gottesdienst in Dautenheim: Heute vertrete ich Ihren Gemeindepfarrer, ich bin Pfarrer Schütz und arbeite als Seelsorger drüben in der Landesnervenklinik, die seit Januar den neuen Namen Rheinhessen-Fachklinik trägt. Unsere ehrenamtliche Helferin in der Klinikseelsorge, Frau …, wird mich heute im Gottesdienst bei den Lesungen unterstützen.

Heute beginnt die Bibelwoche des Dekanats Alzey zum Thema „Neugierig auf Jesus“. Vielleicht kann heute eine Erzählung über Jesus aus dem Markusevangelium Ihre Neugier wecken – da wird von einer Frau erzählt, die dauernd blutet, in den Augen der Leute dauernd unrein ist und trotzdem Jesus anfasst. Und es wird von Jesus erzählt, dass er ein totes Mädchen berührt und zum Leben erweckt. Sind Sie neugierig, was das alles zu bedeuten hat? Vielleicht gibt es ja auch unter uns heute den einen oder die andere, die sich heute anrühren lassen von diesem Jesus, von seiner Art, Menschen heil und lebendig zu machen.

Lied 450, 1-5:

Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschaffnen Lichte, schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen zu Gesichte und vertreib durch deine Macht unsre Nacht.

Deiner Güte Morgentau fall auf unser matt Gewissen; lass die dürre Lebens-Au lauter süßen Trost genießen und erquick uns, deine Schar, immerdar.

Gib, dass deiner Liebe Glut unsre kalten Werke töte, und erweck uns Herz und Mut bei entstandner Morgenröte, dass wir, eh wir gar vergehn, recht aufstehn.

Ach du Aufgang aus der Höh,- gib, dass auch am Jüngsten Tage unser Leib verklärt ersteh und, entfernt von aller Plage, sich auf jener Freudenbahn freuen kann.

Leucht uns selbst in jener Welt, du verklärte Gnadensonne; führ uns durch das Tränenfeld in das Land der süßen Wonne, da die Lust, die uns erhöht, nie vergeht.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten mit Psalm 71:

20 Du lässest mich erfahren viele und große Angst und machst mich wieder lebendig und holst mich wieder herauf aus den Tiefen der Erde.

21 Du machst mich sehr groß und tröstest mich wieder.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Gott, es gibt Geschichten in der Bibel, die finden wir unglaublich. Wunderbare Heilungen, Erweckungen aus dem Tod. Der Glaube heilt, Berührung macht gesund, Vertrauen macht lebendig – kann das auch heute geschehen? Lass uns erkennen, dass es nicht nur den leiblichen Tod, sondern auch den seelischen Tod gibt, mitten im leben. Lass uns spüren, dass auch wir darauf angewiesen sind, dass du uns anrührst mit deiner Liebe und dass wir Vertrauen zu dir fassen! Denn wir wünschen uns heiles Leben und Errettung von allem, was Leib und Seele tötet. Das erbitten wir von dir im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

In der Schriftlesung hören wir Worte aus dem Psalm 55. So ähnlich könnte die Frau gebetet haben, von der wir nachher hören werden, bevor Jesus sie von ihrem Blutfluss heilte:

5 Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe, und Todesfurcht ist auf mich gefallen.

13 Wenn mein Feind mich schmähte, wollte ich es ertragen; wenn einer, der mich hasst, groß tut wider mich, wollte ich mich vor ihm verbergen.

14 Aber nun bist du es, mein Gefährte, mein Freund und mein Vertrauter,

15 die wir freundlich miteinander waren, die wir in Gottes Haus gingen inmitten der Menge!

17 Ich aber will zu Gott rufen, und der HERR wird mir helfen.

18 Abends und morgens und mittags will ich klagen und heulen; so wird er meine Stimme hören.

19 Er erlöst mich von denen, die an mich wollen, und schafft mir Ruhe.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Halleluja! „Halleluja, Halleluja, Halleluja.“

Lied 365, 1-3:

Von Gott will ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir, führt mich durch alle Straßen, da ich sonst irrte sehr. Er reicht mir seine Hand, den Abend und den Morgen tut er mich wohl versorgen, wo ich auch sei im Land.

Wenn sich der Menschen Hulde und Wohltat all verkehrt, so find’t sich Gott gar balde, sein Macht und Gnad bewährt. Er hilft aus aller Not, errett‘ von Sünd und Schanden, von Ketten und von Banden, und wenn’s auch wär der Tod.

Auf ihn will ich vertrauen in meiner schweren Zeit; es kann mich nicht gereuen, er wendet alles Leid. Ihm sei es heimgestellt; mein Leib, mein Seel, mein Leben sei Gott dem Herrn ergeben; er schaff’s wie’s ihm gefällt!

Gnade und Friede sei mit uns allen von Gott, unserem Vater, und Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.

Liebe Gemeinde! Jesus hat gerade jenseits des Sees Genezareth eine großartige Heilung vollbracht, hat den tobenden und gewalttätigen und von Anfällen geschüttelten Mann von Gerasa zur Ruhe gebracht und nach Hause geschickt, da kehrt er wieder zurück auf die ihm vertrautere Seite des Sees – und wird gleich wieder beansprucht (Markus 5):

21 Und als Jesus wieder herübergefahren war im Boot, versammelte sich eine große Menge bei ihm, und er war am See.

Einer von den Menschen, die etwas von ihm wollen, wird mit Namen genannt:

22 Da kam einer von den Vorstehern der Synagoge, mit Namen Jaïrus. Und als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßen

23 und bat ihn sehr und sprach: Meine Tochter liegt in den letzten Zügen; komm doch und lege deine Hände auf sie, damit sie gesund werde und lebe.

Ein angesehener Mann kommt zu Jesus und bittet ihn, seiner Tochter zu helfen. Wir erfahren nur, dass sie todkrank ist, mehr nicht. Welche Art von Krankheit sie hat, wird nicht erwähnt. Mit Handauflegung soll Jesus sie gesund machen, so dass sie nicht sterben muss.

Und wie reagiert Jesus?

24 Und er ging hin mit ihm.

Ohne weiteren Kommentar willigt Jesus ein, mit dem Mann zu seiner Tochter zu gehen. Aber da wird Jesus plötzlich aufgehalten. Und wie Jesus werden auch wir genötigt, uns zunächst mit jemand ganz anderem zu beschäftigen als mit dem Mädchen:

Und es folgte ihm eine große Menge, und sie umdrängten ihn.

25 Und da war eine Frau, die hatte den Blutfluss seit zwölf Jahren.

Eine Menschenmenge drängt sich um Jesus, und in dieser Menge ist auch eine Frau, die seit zwölf Jahren krank ist. Seit zwölf Jahren hat sie andauernd Blutungen, niemals einfach nur ihre normale Regel, in den Augen der Leute und nach dem Gesetz des Mose ist sie immer unrein. Zwölf Jahre blutiger Ausfluss, das bedeutet damals sicher auch: niemandem nahe sein zu können, von niemandem liebevolle Nähe zu erfahren. Eigentlich darf die Frau gar nicht unter die Leute gehen, sie könnte ja jemanden anfassen oder sich auf etwas setzen, auf das sich dann ein anderer setzt, und der wäre dann auch bis zum Abend unrein, genau wie sie selbst. Verzweifelt sucht die Frau seit Jahren nach Hilfe, aber vergebens.

26 [Sie] hatte viel erlitten von vielen Ärzten und all ihr Gut dafür aufgewandt; und es hatte ihr nichts geholfen, sondern es war noch schlimmer mit ihr geworden.

Es gibt Ärzte, die können dieser Frau nicht helfen, aber das hindert sie nicht daran, ihr viel Geld abzunehmen, sie arm zu machen, ihr auch noch zusätzlich wehzutun mit verständnislosen Worten und unnützen Untersuchungen und Behandlungen. Heute, an diesem Tag, an dem Jesus durch den Ort geht, schöpft die Frau noch ein letztes Mal Hoffnung:

27 Als die von Jesus hörte, kam sie in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand.

28 Denn sie sagte sich: Wenn ich nur seine Kleider berühren könnte, so würde ich gesund.

Mutig ist diese Frau, beinahe tollkühn! Sie traut sich, als Unreine einen Mann anzufassen, und zwar sogar einen, der mit Gott zu tun hat, der schon viele gesund gemacht hat. Allerdings tut sie es heimlich – so weit geht ihr Mut nicht, ihn öffentlich um Hilfe zu bitten. Dennoch – das Wunder geschieht – schon diese einfache Berührung reicht aus, um sie gesund zu machen:

29 Und sogleich versiegte die Quelle ihres Blutes, und sie spürte es am Leibe, dass sie von ihrer Plage geheilt war.

Vordergründig geschieht hier etwas Übernatürliches: Heilung durch einfaches Anfassen eines Menschen, der Zauberkraft in sich hat. Aber ich denke: das Wunderbare geschieht vielmehr gerade mitten im Natürlichen. Um das zu verstehen, müssen wir einmal darüber nachdenken, was für einen Sinn die Blutungen der Frau haben mögen.

Blutfluss macht die Frau unrein, er trennt die Frau von anderen Menschen. Das ist natürlich etwas Schlimmes. Aber was ist, wenn die Frau sowieso schon von Angst vor anderen Menschen erfüllt war, weil man ihr vielleicht schon oft wehgetan hatte? Dann kann eine körperliche Krankheit wie dieses Bluten auch ein Schutz sein – ein Schutz vor dem Kontakt mit anderen, aber auch ein Schutz davor, zu merken, dass man so viel Angst hat.

Was hat nun Jesus getan? Er hat offenbar in der blutenden Frau Vertrauen geweckt – so viel Vertrauen, dass sie zu diesem Mann Kontakt hat aufnehmen können, ohne die Angst, dass er ihr wehtut, ohne die Angst, dass er sie demütigt, ohne die Angst, dass er ihr zu nahetritt oder sie ausnutzt. Und so kann es doch sein, dass sie ihm gegenüber den Schutz ihrer Krankheit einfach nicht mehr braucht. Und was geschieht: Nicht etwa sie, die Blutende, steckt mit ihrer Berührung den Reinen mit ihrer Unreinheit an. Nein, sie macht ihn nicht unrein. Sondern sie steckt sich sozusagen umgekehrt bei Jesus mit seiner Reinheit an! Ihr Vertrauen zu ihm macht sie rein. Allerdings gilt das zunächst nur für diese ganz persönliche Beziehung zu Jesus. Und Jesus merkt, was geschehen ist:

30 Und Jesus spürte sogleich an sich selbst, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war, und wandte sich um in der Menge und sprach: Wer hat meine Kleider berührt?

Die Art, in der die Frau Jesus berührt hat, blieb von ihm nicht unbemerkt. Offenbar ist auch irgendeine Art von Energie von Jesus auf die Frau übergegangen. Die Jünger allerdings begreifen nicht den Unterschied zwischen zufälligen Berührungen in der Menge und dem Besonderen, was Jesus von der Frau gespürt hat:

31 Und seine Jünger sprachen zu ihm: Du siehst, dass dich die Menge umdrängt, und fragst: Wer hat mich berührt?

Das ist schon eigentümlich, dass Jesus diese eine Berührung in einer großen Menschenmenge herausspüren kann, dass er sogar spürt, wie ihm ein Stück seiner Energie abgezapft wurde. Etwas Ähnliches erlebe ich manchmal in Gesprächen mit anderen Menschen, die sehr viel von mir erwarten, aber irgendwie heimlich, ohne dass sie offen darum bitten. Dann fange ich irgendwann an zu frieren und innerlich zu zittern, obwohl es gar nicht kalt ist. Es kommt mir dann so vor, als ob man mir meine ganze Energie abgezapft hätte, und ich muss mir klarmachen, wieviel ich geben kann und will und was mein Gegenüber überhaupt wirklich braucht und aufnehmen kann. Wenn das bei Jesus wirklich so ähnlich ist, verstehe ich auch gut, warum er wissen will, wer ihn angefasst hat.

32 Und er sah sich um nach der, die das getan hatte.

33 Die Frau aber fürchtete sich und zitterte, denn sie wusste, was an ihr geschehen war; sie kam und fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit.

Nun kommt, nachdem die Frau so viel Mut aufgebracht hat, um zu Jesus wenigstens heimlich Kontakt aufzunehmen, doch noch die ganze Angst der Frau heraus. Als er den Kontakt zu ihr sucht, Augenkontakt zu ihr aufnehmen will, da fängt sie an zu zittern, Angst zu haben, sie schämt sich, plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und sie hat wohl auch Angst davor, nun bestraft zu werden für ihre Übertretung der Reinheitsgebote. Vielleicht denkt sie auch, Jesus werde ihr vorwerfen, sie habe sich in unanständiger Weise an ihn heranmachen wollen. Aber Jesus reagiert vollkommen anders:

34 Er aber sprach zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gesund gemacht; geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage!

Jesus bestätigt, was ich vorhin bereits gesagt hatte: Der Glaube, also das Vertrauen der Frau war es, was sie gesund gemacht hat, nicht irgendein übernatürliches Geschehen. Und diesem Vertrauen der Frau zu Jesus entspricht es auch, dass er sie als Tochter anredet. Er übernimmt offenbar so etwas wie eine Vaterrolle für diese Frau und tut etwas für sie, was eigentlich ihr eigener Vater für sie hätte tun sollen: ihr unbefangen und unverkrampft nahe sein, ihr Trost und Mut zusprechen, ihr zutrauen, dass sie ihr Leben als Frau eigenständig und im Frieden mit sich selbst und mit anderen leben kann. Wichtig finde ich, dass Jesus das, was sich zunächst im Verborgenen abgespielt hat, nun öffentlich bestätigt: Die Frau ist nicht unrein, sie ist geheilt. Er tut damit etwas, wozu eigentlich nur die Priester das Recht hatten – die waren nämlich damals so etwas wie ein Gesundheitsamt und mussten offiziell feststellen, dass ein Unreiner nicht mehr unrein war.

Lied 383, 1-4: Herr, du hast mich angerührt. Lange lag ich krank danieder

Liebe Gemeinde, an der Geschichte von der blutflüssigen Frau erstaunt mich, dass niemand Jesus offen kritisiert. Er hat sich von einer unreinen Person berühren lassen und maßt sich Aufgaben der Priester an. Jedoch nur hintenherum wirft man Jesus etwas vor, ohne es direkt auszusprechen:

35 Als er noch so redete, kamen einige aus dem Hause des Vorstehers der Synagoge und sprachen: Deine Tochter ist gestorben; was bemühst du weiter den Meister?

Man spricht Jesus nicht selbst an. Aber indirekt gibt man ihm zu verstehen, dass er sich zu lange von so einer Person hat aufhalten lassen, während er doch hätte eigentlich schnellstens zum Haus des Gemeindevorstehers eilen müssen – dort war es schließlich um Leben oder Tod gegangen! Ganz heimlich jubelt man Jesus den Vorwurf unter, er hätte durch seine Nachlässigkeit ein Kind auf dem Gewissen. Doch Jesus geht darauf gar nicht ein:

36 Jesus aber hörte mit an, was gesagt wurde, und sprach zu dem Vorsteher: Fürchte dich nicht, glaube nur!

Jesus verteidigt sich nicht. Er richtet stattdessen tröstende Worte an den Vater, der soeben die erschütternde Todesnachricht bekommen hat. Er fordert ihn auf, sich nicht zu fürchten und Vertrauen zu haben, so wie die Frau, die er soeben geheilt hatte, ja auch ihre Angst überwunden und zum Vertrauen gefunden hatte. Aber genügt es zu vertrauen, wenn man gerade erfahren hat, dass das eigene Kind tot ist?

Wir müssen diese Frage zunächst offen lassen, genau wie der Vater, der nichts mehr sagt. Jesus ergreift die Initiative und geht zum Trauerhaus.

37 Und er ließ niemanden mit sich gehen als Petrus und Jakobus und Johannes, der Bruder des Jakobus.

Eben noch war Jesus bemüht gewesen, Heimlichkeiten an die Öffentlichkeit zu bringen. Dass die blutflüssige Frau ihn berührt hatte, brauchte nicht im Verborgenen zu bleiben, es war nichts Böses daran. Aber es gibt auch Dinge, die nicht ans Licht der Öffentlichkeit gehören. Als Jesus sich anschickt, dem Tod entgegenzutreten, lässt er bewusst nur seine engsten Vertrauten mit sich gehen. Eine größere Menge von Menschen würde am Bett des Mädchens nur stören, und was dort geschehen wird, würde eine sensationshungrige Menschenansammlung sowieso nicht begreifen.

38 Und sie kamen in das Haus des Vorstehers, und er sah das Getümmel, und wie sehr sie weinten und heulten.

39 Und er ging hinein und sprach zu ihnen: Was lärmt und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft.

40 Und sie verlachten ihn.

Eine eigentümliche Mischung der Gefühle trifft Jesus im Trauerhaus des Jaïrus an: Klageweiber sind da; wie es damals üblich war, vollzieht man die Trauerrituale; man heult und weint und macht eine Menge Lärm. Aber als Jesus mitten hinein in dieses Getümmel die ganze Trauer in Frage stellt und bestreitet, dass das Kind tot sei, da lacht man ihn aus. Es ist ein aggressives Lachen; nein, da kann selbst ein Jesus nichts mehr machen, sagt dieses Lachen, wo man Totenklage erhebt, da ist auch Gott machtlos. Aber Jesus lässt sich nicht wegschieben:

Er aber trieb sie alle hinaus und nahm mit sich den Vater des Kindes und die Mutter und die bei ihm waren, und ging hinein, wo das Kind lag,

41 und ergriff das Kind bei der Hand und sprach zu ihm: Talita kum! – das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf!

Noch einmal wird betont, wie sehr Jesus darauf bedacht ist, die Intimsphäre der Familie des Jaïrus zu achten. Er treibt buchstäblich die ganze Verwandtschaft und Nachbarschaft und alle Neugierigen aus dem Haus hinaus – so ähnlich wie er bei der berühmten Tempelaustreibung die Händler und Geldwechsler aus dem Gotteshaus hinaustreiben wird. Nur Vater und Mutter nimmt er mit und seine drei Vertrauten, und so begegnet er dem Kind. Nicht ganz allein, aber im Kreise vertrauter Menschen, fasst er das tote Mädchen an und spricht zu ihm. Sogar die genauen Worte in der Muttersprache Jesu werden überliefert: „Talita kum!“ – „Mädchen, aufstehn!“ – so wie man ein Kind morgens aufwecken würde, das verschlafen hat.

42 Und sogleich stand das Mädchen auf und ging umher; es war aber zwölf Jahre alt.

Man kann diese Geschichte so auslegen, dass Jesus hier schon zeichenhaft seine Macht über den Tod erweist, dass wir Menschen, auch wenn wir alle einmal sterben müssen, dem Tod eben nicht endgültig ausgeliefert sind. Dann wäre der Satz Jesu: „Das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft“ nicht wörtlich, sondern als ein Bild zu verstehen. Zwar ist das Mädchen nach menschlichen Begriffen tot, aber aufgrund göttlicher Macht ist der Tod nicht das Letzte für das Kind, sondern es kann wie aus dem Schlaf wieder auferweckt werden.

Wie gesagt, so kann man diese Geschichte auslegen. Ich möchte aber außerdem noch eine andere Möglichkeit der Deutung vorschlagen. Ich denke, es ist kein Zufall, dass die Geschichte vom toten Mädchen wie ein Sandwich die andere Geschichte von der blutenden Frau umschließt. Ich denke, dass die beiden Teile unserer Erzählung zwei Seiten des gleichen Problems beleuchten wollen, dass beide Teile vielleicht sogar von ein und derselben Person reden. Die eine ist gerade zwölf Jahre alt, also in dem Alter, in dem bei den Juden ein Mädchen erwachsen werden sollte. Aber statt erwachsen zu werden, stirbt sie. Die andere leidet seit zwölf Jahren an Blutungen, vielleicht seit ihrer Pubertät, und durch ihre Krankheit kann sie nicht leben wie andere erwachsene Frauen, sie ist stecken geblieben in ihrer Entwicklung an der Stelle, an der sie hätte erwachsen werden sollen. 24 Jahre alt wäre dann diese Frau, aber im Grunde innen drin immer noch ein kleines Mädchen, das blutet und sich verwundet vorkommt. Ja, vielleicht war sie ja auch wirklich verwundet, verletzt, vergewaltigt worden – schon als Kind. Vielleicht waren es Übergriffe von Erwachsenen gewesen, die in ihr das Gefühl erzeugt hatten, sowieso unrein zu sein und deshalb immer bluten zu müssen. Vielleicht hielten auch die Blutungen insgeheim eine Erinnerung an die Gewalt wach, die sie tatsächlich erfahren hatte. Und vielleicht ist diese Frau aufgrund all ihrer schlimmen Erlebnisse im Grunde noch das kleine Mädchen, aber sie darf weder Frau sein und wie eine Erwachsene fühlen noch darf sie ein Kind sein und wie ein Kind fühlen. In dreifacher Weise ist sie tot bzw. vom Tod bedroht: sozial tot, weil niemand sie anrühren mag, gefühlstot, weil sie ihre eigene Sehnsucht nach Wärme und Nähe nicht mehr spürt und erst recht einen Horror vor sexuellen Gefühlen hat, und schließlich sogar in der Gefahr, sich selbst zu töten, weil man ein derart schreckliches Leben vielleicht am liebsten beenden möchte. So gesehen können wir in dem toten Mädchen das innere Kind der blutflüssigen Frau wiedererkennen, und damit würde auch noch tiefgründiger erklärt, warum Jesus sich mit diesem Teil ihrer Persönlichkeit nur im Kreise vertrauter Menschen abseits vom Lärm der Öffentlichkeit beschäftigen will. „Mädchen, steh auf!“ Damit spricht Jesus das Kind im Beisein ihrer Eltern in doppelter Weise an: Er nennt es bewusst „Mädchen“, es darf dazu stehen, ein Mädchen zu sein und ist nicht weniger wert als ein Junge. Und er macht ihm Mut, aufzustehen – und erwachsen zu werden, sich auf den schwierigen Weg zu machen, eine Frau zu werden. Eine Frau, die Verantwortung für sich selbst übernehmen kann und die zugleich ihr inneres Kind mit seinen Bedürfnissen nach Wärme und Liebe nicht verleugnet. Eine Frau, die gesund werden kann, weil sie es lernt, Kontakt und Vertrauen zu Menschen aufzubauen, ohne verletzt zu werden.

Ganz gleich, ob man die Geschichte als eine Erweckung aus dem leiblichen Tod oder aus dem Gefühlstod eines missbrauchten Mädchens versteht – die unmittelbaren Zeugen des Geschehens können nicht fassen, was Jesus hier eigentlich vollbracht hat.

Und sie entsetzten sich sogleich über die Maßen.

Sie reagieren genauso wie die Frauen am Ostermorgen reagieren werden, als sie Jesus nicht mehr im Grab vorfinden – nicht etwa Freude kehrt ein, sondern Entsetzen. Darum verbietet Jesus ihnen auch, die Sache weiterzuerzählen:

43 Und er gebot ihnen streng, dass es niemand wissen sollte, und sagte, sie sollten ihr zu essen geben.

Es geht hier nicht um eine Sensation, die hinausposaunt werden soll, das ist auch keine Geschichte, mit der Jesus berühmt werden will, das ist nur eine Angelegenheit zwischen ihm und einem Mädchen, das durch seine Berührung anfangen darf, zu fühlen, Sehnsucht nach Liebe zu haben, ein Kind zu sein und – nach und nach – erwachsen zu werden.

Und das erste Gefühl des Mädchens, auf das Jesus offenbar aufmerksam wird, ist schlicht Hunger. Und so sagt er den Eltern, sie sollen dem Mädchen etwas zu essen geben. In unserem Bibelkreis äußerte zu diesem Satz jemand die Vermutung: Vielleicht war das Mädchen ja auch magersüchtig und brauchte von Jesus die Erlaubnis, essen zu dürfen, weil es nicht schlimm ist, ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden. Auch die Tochter des Jaïrus, was auch immer sie erlebt hat, auch die Frau mit dem Blutfluss, wie auch immer ihre Krankheit verursacht wurde, sie darf wie alle anderen in Gottes Welt einen Platz im Leben beanspruchen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Wir singen das Lied 98, ein neues Passionslied mit Gitarrenbegleitung, das im Leiden zugleich schon die Auferstehung ahnen lässt:

Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt

Barmherziger Gott, deine Wunder sind Wunder der Menschlichkeit, Wunder des Vertrauens, Wunder der Liebe. Wo Menschen in sich verschlossen sind, wie tot, da weckst du uns auf. Wo Menschen andere Menschen verachten und zu Unberührbaren erklären, da rührst du sie an und scheust dich nicht davor, selber ein Außenseiter zu werden. – Danke, dass du uns anrührst mit deiner liebevollen Hand, so wie du das Mädchen angefasst hast. Mach uns Mut, auf einem guten Weg den nächsten Schritt zu gehen. Danke auch, dass wir dich anrühren dürfen, dich bestürmen mit unseren Gebeten. Denn du verstehst uns, du bist uns nahe, du hast unser Schicksal geteilt, hast Liebe und Leid, Glück und Unglück erlebt und erlitten. Herr, wir vertrauen auf dich – hilf uns, wenn wir immer wieder zweifeln. Amen.

Wir beten gemeinsam:

Vater unser
Lied 79, 1-4:

Wir danken dir, Herr Jesu Christ, dass du für uns gestorben bist und hast uns durch dein teures Blut gemacht vor Gott gerecht und gut,

und bitten dich, wahr‘ Mensch und Gott, durch dein heilig fünf Wunden rot: erlös uns von dem ewgen Tod und tröst uns in der letzten Not.

Behüt uns auch vor Sünd und Schand und reich uns dein allmächtig Hand, dass wir im Kreuz geduldig sein, uns trösten deiner schweren Pein

und schöpfen draus die Zuversicht, dass du uns werdst verlassen nicht, sondern ganz treulich bei uns stehn, dass wir durchs Kreuz ins Leben gehn.

Abkündigungen

Gott, der Herr, segne euch, und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch Frieden. Amen.

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