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Der Tod im Topf und das schwimmende Eisen

Der Mann Gottes muss – bildlich gesprochen – Eisen zum Schwimmen bringen, um dem Schüler zu zeigen: Du bist reif für die Unabhängigkeit. Du kannst dein Werkzeug selber in die eigene Hand nehmen, Gott traut dir das zu. Du musst nicht aus lauter Angst vor der eigenen Courage das Beil ins Wasser werfen.

Einem Schüler des Elisa fällt sein Beil aus Eisen ins Wasser
Was tut der Prophet Elisa, als einem seiner Schüler sein Beil ins Wasser fällt? (Bild: CCXpistiavosPixabay)

#predigtGottesdienst am 4. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli 2004, 10.00 Uhr in der evangelischen Thomaskirche Gießen unter Mitwirkung des Musikfördervereins Gießen
Antonio Vivaldi: Konzert für Piccolo-Blockflöte und Orchester C-Dur – Allegro
Begrüßung und Abkündigungen
Lied 322:

1. Nun danket all und bringet Ehr, ihr Menschen in der Welt, dem, dessen Lob der Engel Heer im Himmel stets vermeld’t.

2. Ermuntert euch und singt mit Schall Gott, unserm höchsten Gut, der seine Wunder überall und große Dinge tut;

3. der uns von Mutterleibe an frisch und gesund erhält und, wo kein Mensch nicht helfen kann, sich selbst zum Helfer stellt;

4. der, ob wir ihn gleich hoch betrübt, doch bleibet guten Muts, die Straf erlässt, die Schuld vergibt und tut uns alles Guts.

5. Er gebe uns ein fröhlich Herz, erfrische Geist und Sinn und werf all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz ins Meeres Tiefe hin.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

In diesem Gottesdienst, der vom Musikförderverein so märchenhaft schön musikalisch umrahmt wird, geht es um zwei märchenhafte Geschichten, die die Bibel von dem Propheten Elisa erzählt.

Ich lade dazu ein, über Wunder nachzudenken, die Gott tut, auch heute noch, auch in unserem eigenen Leben.

Wir beten mit dem Psalm 98 (im Gesangbuch steht er unter der Nr. 739). Ich lese die linksbündigen und Sie bitte die nach rechts eingerückten Verse:

Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.

Er schafft Heil mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm.

Der Herr lässt sein Heil kundwerden; vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar.

Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel, aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

Jauchzet dem Herrn, alle Welt, singet, rühmet und lobet!

Lobet den Herrn mit Harfen, mit Harfen und mit Saitenspiel!

Mit Trompeten und Posaunen jauchzet vor dem Herrn, dem König!

Das Meer brause und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.

Die Ströme sollen frohlocken, und alle Berge seien fröhlich vor dem Herrn; denn er kommt, das Erdreich zu richten.

Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit und die Völker, wie es recht ist.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Wer’s glaubt, wird selig, sagt, wem Unglaubliches erzählt wird. Oft hören wir auch biblische Geschichten mit Skepsis. Gott, wir dürfen zweifeln und Fragen stellen. Bewahre uns aber vor einem Zweifel, der überhaupt nichts Wunderbares mehr im Leben zulässt. Vergib uns die Härte unseres Herzens, die dir nichts zutraut. Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Kommt her und sehet an die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern (Psalm 66, 5).

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Ist es ein Wunder, wenn ein Gemeindefest gelingt, wenn Freundschaft sich bewährt, wenn sich neue Mitarbeiter für ein Konfi-Team finden?

Ist es ein Wunder, wenn Verzweifelte ein offenes Ohr finden für ihre Sorgen, wenn eine Flugzeugentführung verhindert wird, wenn ein Stärkerer bereit ist, einem Schwächeren zu helfen?

Gott, wenn wir glauben, dass alles Gute von dir kommt, dann können wir in solchen Erfahrungen deine wunderbare Güte und Liebe erkennen. Mach uns aufmerksam auf Wunder in unserem Leben. Darum bitten wir dich, Gott, im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

W. A. Mozart: Agnus Dei (Arie)

Wir hören die Schriftlesung aus dem 2. Buch der Könige. Das ist auch der Text, über den Pfarrer Schütz gleich predigen wird (2. Könige 4):

38 Als aber Elisa wieder nach Gilgal kam, war Hungersnot im Lande. Und als die Prophetenjünger vor ihm saßen, sprach er zu seinem Diener: Setze einen großen Topf auf und koche ein Gemüse für die Prophetenjünger!

39 Da ging einer aufs Feld, um Kraut zu sammeln, und fand ein Rankengewächs und pflückte sein Kleid voll mit wilden Gurken. Und als er kam, schnitt er’s in den Topf zum Gemüse – sie kannten’s aber nicht –

40 und legte es den Männern zum Essen vor. Als sie nun von dem Gemüse aßen, schrien sie und sprachen: O Mann Gottes, der Tod im Topf! Denn sie konnten’s nicht essen.

41 Er aber sprach: Bringt Mehl her! Und er tat’s in den Topf und sprach: Lege es den Leuten vor, dass sie essen! Da war nichts Böses mehr in dem Topf.

Es verging einige Zeit, da geschah folgendes (2. Könige 6):

1 Die Prophetenjünger sprachen zu Elisa: Siehe, der Raum, wo wir vor dir wohnen, ist uns zu eng.

2 Lass uns an den Jordan gehen, und jeder von uns soll dort einen Stamm holen, damit wir uns eine Stätte bauen, wo wir wohnen können. Er sprach: Geht hin!

3 Und einer sprach: Geh doch mit deinen Knechten! Er sprach: Ich will mitgehen.

4 Und er ging mit ihnen. Und als sie an den Jordan kamen, hieben sie Bäume um.

5 Und als einer einen Stamm fällte, fiel ihm das Eisen ins Wasser. Und er schrie: O weh, mein Herr! und dazu ist’s noch entliehen!

6 Aber der Mann Gottes sprach: Wo ist’s hingefallen? Und als er ihm die Stelle zeigte, schnitt er einen Stock ab und stieß dahin. Da schwamm das Eisen.

7 Und er sprach: Heb’s auf! Da streckte er seine Hand aus und nahm es.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Wir bekennen gemeinsam unseren Glauben an das Wunder, dass Gott uns begegnet im Vater über uns, im Sohn, der mit uns ist, und im Geist, der in uns wohnen will:

Glaubensbekenntnis
Franz Schubert: Im Abendrot (Arie)
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde, was halten Sie von den Geschichten, die wir über den Propheten Elisa gehört haben? Wer‘s glaubt, wird selig? Ein Prophet macht mit ein bisschen Mehl eine giftige Speise genießbar, und er lässt Eisen schwimmen. Unmöglich, sagt unser Verstand, das sind Märchen, das kann niemals so geschehen sein. Und überhaupt – was sollen wir mit so Geschichten anfangen?

Nun, liebe Gemeinde, die Bibel ist für mich kein Märchenbuch, aber wenn hier und da auch märchenhafte Geschichten in ihr vorkommen, dann macht es mir Spaß, in ihnen einen Sinn zu entdecken.

Den Propheten Elisa mag ich besonders gern. Wie andere Propheten auch hört er in seinem Innern Worte von Gott und sagt sie den Menschen weiter. Man kann ihn leicht verwechseln mit einem berühmteren Kollegen, nämlich dem Propheten Elia. Elisa ist der einzige bekannte Schüler des Elia gewesen und nach dessen Tod sein Nachfolger geworden. Später leitet Elisa eine ganze Prophetenschule, und die Prophetenjünger wohnen alle bei ihm zu Hause in der Stadt Gilgal.

Hören wir nun noch einmal die beiden Elisa-Geschichten Vers für Vers. Die erste setzt ein, als Elisa von einer langen Reise zurückkehrt; seine Schüler haben inzwischen den Haushalt des Propheten allein versorgt.

38 Als aber Elisa wieder nach Gilgal kam, war Hungersnot im Lande.

Jedes einzelne Wort der Geschichte ist wichtig. Von einer Hungersnot ist die Rede, und ich frage mich: Um was für einen Hunger geht es hier? Nur um den Hunger auf normales Essen? Oder sind die Prophetenschüler nach der langen Abwesenheit Elisas auch ausgehungert nach geistiger Nahrung und seelischer Zuwendung von ihrem Meister?

Und als die Prophetenjünger vor ihm saßen, sprach er zu seinem Diener: Setze einen großen Topf auf und koche ein Gemüse für die Prophetenjünger!

Elisa spürt den Hunger seiner Schüler und sieht sofort, was sie brauchen. Für ihren leiblichen Hunger lässt er ihnen eine Mahlzeit kochen, und zwar „Gemüse“, gesunde vitaminreiche Kost.

Damit sie aber zugleich auch etwas lernen, erwartet er von ihnen, dass sie etwas zum Essen beitragen, nämlich die Zutaten zusammensuchen, auch wenn Knappheit herrscht.

39 Da ging einer aufs Feld, um Kraut zu sammeln, und fand ein Rankengewächs und pflückte sein Kleid voll mit wilden Gurken. Und als er kam, schnitt er’s in den Topf zum Gemüse – sie kannten’s aber nicht –

40 und legte es den Männern zum Essen vor.

Ein neues Kochrezept wird hier also ausprobiert, mit einer neuen Zutat, die noch keiner kennt. Eigenartig, wieso steht so etwas in der Bibel? Jedenfalls nicht, um den Kochbüchern Konkurrenz zu machen.

Als sie nun von dem Gemüse aßen, schrien sie und sprachen: O Mann Gottes, der Tod im Topf! Denn sie konnten’s nicht essen.

Die Prophetenjünger fühlen sich vergiftet, sie schreien vor Angst auf und wenden sich hilfesuchend an Elisa. Als Mann Gottes rufen sie ihn an – voller Panik, weil sie glauben, sich den Tod in den Topf geholt zu haben.

41 Er aber sprach: Bringt Mehl her! Und er tat’s in den Topf und sprach: Lege es den Leuten vor, dass sie essen! Da war nichts Böses mehr in dem Topf.

Das ist das Märchenhafte an der Geschichte. Elisa tut einfach ein wenig Mehl in den Topf und schon ist auf wunderbare Weise die vergiftete Speise nicht mehr giftig: „Da war nichts Böses mehr im Topf.“ In Märchen ist ja Unmögliches möglich, Übernatürliches geschieht einfach so, und das Kind in uns findet das ganz normal. Nur unser erwachsener Verstand meldet sich zu Wort und sagt: Das geht doch nicht. Durch ein bisschen Mehl kann man Gift nicht ungiftig machen.

Und doch spricht uns das Märchen an, auf einer tieferen Ebene. Auf der Ebene, wo es um mehr als um Tatsachen geht, nämlich um unsere inneren Empfindungen und Gefühle. Es bleibt in der Geschichte ja zunächst völlig offen, ob in dem Essen wirklich Gift drin ist. Tatsache ist: Die Schüler Elisas haben Angst vor Gift, weil das Essen anders schmeckt, als sie es gewohnt sind. In einem westfälischen Sprichwort heißt es: „Wat de Buer nich kennt, das friätt he nicht.“ Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht. Neue Kost kann man ungenießbar oder gefährlich finden, nur weil man überfordert ist, das Neue richtig zu beurteilen. Und das gilt nicht nur fürs Essen, sondern auch für neue Einsichten, die ein Lehrer seinem Schüler oder ein Therapeut seinem Patienten vermitteln möchte.

Ich nehme in der Geschichte wahr, dass Elisa auf eine sehr weise Weise mit der Angst seiner Schüler umgeht. Er kämpft nicht gegen die Angst, sondern er nimmt sie ernst. Er argumentiert nicht mit den Jüngern, ob das Essen nun wirklich vergiftet ist oder nicht. Er weiß einfach: Die haben nun einmal Angst vor dem Tod im Topf – und diese Angst kann man ihnen nicht ausreden. Was sie brauchen, ist neues Vertrauen. Und das kriegt Elisa hin, indem er dem unvertrauten neuen Eintopfgericht etwas Altvertrautes, nämlich Mehl, hinzufügt. Er bindet die vielleicht etwas saure und schwer verdauliche Suppe mit dem Mehl, das die Prophetenschüler schon kennen, und siehe da: „Nichts Böses ist mehr im Topf!“

Die kleine Geschichte von Elisa zeigt, wie ein Lehrer seinen Schülern helfen kann, etwas anzunehmen, was ihnen zunächst nicht schmeckt. Kennen Sie das auch? Es fällt einem nicht immer leicht, alles anzunehmen, was ein erfahrener Mensch als Hilfe anbietet. Manchmal fühlen wir uns überfordert, wenn uns ein Lehrer sagt: Das können Sie schon! Das erwarte ich von Ihnen!

Ich erinnere mich noch, wie es mir als junger schüchterner Mensch Angst gemacht hat, als man mir sagte, ich solle mehr aus mir herausgehen, ich solle doch einfach so sein, wie ich bin und nicht immer versuchen, es allen recht zu machen. Ich habe erst gelernt, ich selbst zu sein, als ich spürte: da nimmt mich einer einfach so an, wie ich bin, da nimmt mich einer ernst, auch mit meiner Angst und meiner Scham.

Kommt eigentlich auch Gott in dieser Geschichte vor? Nur an einer Stelle wird Gott erwähnt – im Hilferuf an Elisa: „O Mann Gottes – der Tod im Topf!“ In der Art, wie Elisa seinen Schülern die Angst nimmt, ihnen Vertrauen einflößt, ist ihnen auch die Hilfe Gottes nahe.

Bevor ich näher auf die zweite kleine Geschichte vom Propheten Elisa eingehe, hören wir eine weitere Arie:

Robert Schumann: Der Abendstern (Arie)

Die zweite Geschichte von Elisa und seinen Schülern setzt dort ein, wo die Prophetenschüler sozusagen ausgelernt haben. Ihre Ausbildung geht zu Ende, und sie wollen allmählich auf eigenen Füßen stehen.

1 Die Prophetenjünger sprachen zu Elisa: Siehe, der Raum, wo wir vor dir wohnen, ist uns zu eng.

2 Lass uns an den Jordan gehen, und jeder von uns soll dort einen Stamm holen, damit wir uns eine Stätte bauen, wo wir wohnen können. Er sprach: Geht hin!

Im engen Zusammenleben mit dem Meister haben die Jünger viel von ihm lernen und tagtäglich von ihm abkucken können. Aber nun wird es ihnen allmählich zu eng in der Nähe des Lehrers. Wieder verstehe ich dies nicht nur wörtlich, sondern auch im übertragenen Sinn – wenn Schüler reifer werden, entwickeln sie eigene, unabhängige Gedanken, möchten sie nicht mehr dem Lehrer alles nachmachen. In der Geschichte wird das alles in einem Bild zusammengefasst: Jeder Schüler will sich aus einem Baumstamm, den er am Jordan selber fällen will, eine eigene Hütte zusammenzimmern.

Elisa ist damit einverstanden – ein guter Lehrer oder Seelsorger hat ja als letztes Ziel, sich überflüssig zu machen, und er bindet die Schüler nicht für immer an sich. Aber das macht auch Angst. „Lässt uns der Lehrer jetzt ganz allein?“ denken die Schüler.

3 Und einer sprach: Geh doch mit deinen Knechten! Er sprach: Ich will mitgehen.

4 Und er ging mit ihnen.

Die Schüler des Propheten Elisa versuchen, Bäume zu fällen (Bild: CCXpistiavos - pixabay.com)
Die Schüler des Propheten Elisa versuchen, Bäume zu fällen (Bild: CCXpistiavosPixabay)

Wie wichtig Begleitung und Unterstützung auch auf dem Weg zur Unabhängigkeit ist, zeigt sich schon bald:

Und als sie an den Jordan kamen, hieben sie Bäume um.

5 Und als einer einen Stamm fällte, fiel ihm das Eisen ins Wasser. Und er schrie: O weh, mein Herr! und dazu ist’s noch entliehen!

Wieder geschieht etwas, das einen der Schüler des Elisa laut aufschreien lässt. Er ist völlig aus dem Häuschen, weil sein eisernes Beil ins Wasser fällt – und es ist noch nicht einmal sein Eigentum! Was soll er jetzt tun? Sein Ziel, die Selbständigkeit, scheint in weite Ferne gerückt zu sein, wie soll er ohne Beil den Baum fällen und ein Haus bauen? Und wie soll er dem Mann unter die Augen treten, von dem er das Beil ausgeliehen hat?

Einem Schüler des Elisa fällt sein Eisen ins Wasser (Bild: CCXpistiavos - pixabay.com)
Einem Schüler des Elisa fällt sein Eisen ins Wasser (Bild: CCXpistiavosPixabay)

Mich erinnert diese Geschichte an seelisch kranke Patienten, die auf ihre Entlassung aus der Klinik warten und dann am lang ersehnten Termin plötzlich einen Rückfall erleiden. Denn das, wonach man sich sehnt – Freiheit, Unabhängigkeit – macht auch Angst, ist ein Schritt ins Ungewisse hinein, mit dem man erst einmal fertig werden muss.

Allerdings – so verständlich diese Angst vor der Selbständigkeit ist – es ist schwer, sie zuzugeben. Leichter ist es zu sagen: Es geht nicht, ich kann nicht! So fängt der Mann in der Geschichte an zu jammern: „O weh, mein Herr! Mein Beil ist weg. Das Eisen ist im Wasser untergegangen und ist für immer verloren. Keiner kann es mehr herausholen aus dem tiefen Fluss. Ich kann mir also leider kein Haus bauen. So gerne ich wollte, ich kann nicht hinaus in die Freiheit!“

Wieder erzählt unsere Geschichte auf märchenhafte und wunderbare Weise, wie Elisa mit seinem unglücklichen Schüler umgeht. Er nimmt die Angst ernst – und hilft zugleich, sie zu überwinden:

6 Aber der Mann Gottes sprach: Wo ist’s hingefallen? Und als er ihm die Stelle zeigte, schnitt er einen Stock ab und stieß dahin. Da schwamm das Eisen.

7 Und er sprach: Heb’s auf! Da streckte er seine Hand aus und nahm es.

Der Prophet Elisa lässt das Eisen schwimmen (Bild: CCXpistiavosPixabay)

Wieder meldet sich unser Verstand und erhebt Einspruch: „Nein, nein, Eisen ist schwerer als Wasser und kann nicht schwimmen, auf keinen Fall!“ Und so haben schon viele diese Geschichte abgehakt unter: unglaubwürdig, abergläubischer Quatsch, Kindermärchen. Als Predigttext ist sie meines Wissens noch niemals irgendwo vorgekommen.

Aber das schwimmende Eisen soll gar nicht auf der Ebene der Tatsachen für wahr gehalten werden. Es ist vielmehr ein handgreifliches Bild für eine innere Wahrheit, für eine seelische Erfahrung. Um welche Wahrheit geht es?

Um eine sehr wichtige Einsicht für Menschen, die auf dem Weg in die Selbständigkeit sind, die erwachsen werden wollen:

Das Lernen von Unabhängigkeit ist kein Entweder-Oder-Lernen: Entweder ich schaffe den Schritt in die Unabhängigkeit ganz allein und jetzt sofort oder ich schaffe ihn gar nicht. Entweder ich habe Angst und muss unselbständig bleiben oder ich werde unabhängig und darf keine Angst mehr empfinden.

Elisa zeigt seinem Schüler, dass er mehr Möglichkeiten hat, als er dachte. Er kann schon viel frei entscheiden, aber er darf auch Hilfe in Anspruch nehmen. Er darf selbständig handeln, und es ist normal, wenn er noch Angst hat, und er darf darüber reden.

In diesem konkreten Fall muss der Mann Gottes – bildlich gesprochen – Eisen zum Schwimmen bringen, um dem Schüler zu zeigen: Du bist reif für die Unabhängigkeit. Du kannst dein Werkzeug selber in die eigene Hand nehmen, ich traue dir das zu und Gott traut dir das zu. Du musst nicht aus lauter Angst vor der eigenen Courage die Flinte ins Korn oder das Beil ins Wasser werfen.

Elisa hilft seinem Schüler – nicht zu viel, um ihn nicht zu unterfordern, aber offenbar genau so viel, damit er seine Angst überwinden kann. Elisa fragt seinen Schüler: „Wo ist das Eisen hingefallen?“ Das muss ihm der Schüler selber sagen. Dann schneidet sich der Lehrer einen Stock ab und stößt mit ihm genau an die Stelle, die ihm der Schüler gezeigt hat. Es ist, als ob ihn der Lehrer noch einmal eindringlich auf etwas Wichtiges aufmerksam machen will – auf die Stelle, an der der Schüler jetzt doch selber zupacken kann – auch wenn er gedacht hatte, es sei unmöglich.

Wieder ist das Wunder, das hier geschieht, ein Wunder in der Seele eines Menschen. Eisen kann in der Welt der Tatsachen niemals schwimmen. Aber Menschen, die dachten, ich kann unmöglich selbständig leben, schaffen es wie durch ein Wunder, ihre Angst vor dem Schritt in die Unabhängigkeit zu überwinden und bauen sich allein oder in einer Wohngemeinschaft wieder nach und nach ein neues Leben auf – manchmal mit Rückschlägen, aber immer wieder mit neuer Hoffnung.

Unsere zweite Geschichte vom Propheten Elisa endet mit dem Satz: „Da streckte er seine Hand aus und nahm es.“ Das finde ich wunderbar. Ein Mann nimmt ein Werkzeug in die Hand, um an seinem eigenen Leben weiterzubauen. Er wagt einen neuen Schritt. Er nimmt sein Leben selber in die Hand, obwohl, nein, weil er zunächst die Hilfe eines anderen hat annehmen können.

Solche Wunder geschehen auch in unserem Leben, wo wir offen sind für Hilfe, die wir brauchen, und wo wir das, was Gott uns zutraut und zumutet, auch wirklich anpacken. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Wir singen aus dem Lied 326 die Strophen 1 bis 4:

1. Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte, dem Gott, der alle Wunder tut, dem Gott, der mein Gemüte mit seinem reichen Trost erfüllt, dem Gott, der allen Jammer stillt. Gebt unserm Gott die Ehre!

2. Es danken dir die Himmelsheer, o Herrscher aller Thronen; und die auf Erden, Luft und Meer in deinem Schatten wohnen, die preisen deine Schöpfermacht, die alles also wohl bedacht. Gebt unserm Gott die Ehre!

3. Was unser Gott geschaffen hat, das will er auch erhalten, darüber will er früh und spat mit seiner Güte walten. In seinem ganzen Königreich ist alles recht, ist alles gleich. Gebt unserm Gott die Ehre!

4. Ich rief zum Herrn in meiner Not: »Ach Gott, vernimm mein Schreien!« Da half mein Helfer mir vom Tod und ließ mir Trost gedeihen. Drum dank, ach Gott, drum dank ich dir; ach danket, danket Gott mit mir! Gebt unserm Gott die Ehre!

Wir beten zu dir, Gott, für unsere Welt, die sich immer schneller verändert, die uns immer kälter und härter und unpersönlicher vorkommt. Wir bitten dich, lass uns nicht verzweifeln an einer seelenlosen Welt, in der für die Gefühle und Wünsche eines einzelnen kein Platz zu sein scheint.

Wir beten zu Dir, Gott, für Menschen, die nicht mehr an Wunder glauben können, die misstrauisch und schwierig geworden sind, weil ihnen grausam mitgespielt wurde, weil ihr Vertrauen missbraucht und zerstört wurde oder weil sie niemals wirkliche Liebe erfahren haben. Wir bringen unsere Hoffnung vor Dich, dass auch diese Menschen doch noch Liebe erfahren, dass wir sie annehmen in unseren Kirchengemeinden und dass sie doch noch Vertrauen aufbauen können zu Menschen, die sie verstehen.

Wir beten zu Dir für uns selbst, dass du auch in unserem Leben Wunder tust – Wunder ohne Aberglauben, Wunder der Hoffnung, Wunder der Liebe, Wunder des Vertrauens. Lass uns Deine Wunder erkennen in der Art, wie Du uns anrührst – wie Du in uns neuen Mut weckst und neues Selbstvertrauen. Amen.

In der Stille bringen wir vor Gott, was wir außerdem auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser

Bevor wir uns zum Segen noch einmal erheben, hören wir die Arie:

Franz Schubert: Pax vobiscum (Arie)

Nach dem Segen hören wir vom Musikförderverein ein letztes Stück.

Danach sind Sie herzlich zum Kirchencafé eingeladen.

Bitte stehen Sie noch einmal zum Segen auf:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

Antonio Vivaldi: Konzert für Piccolo-Blockflöte und Orchester C-Dur – Largo

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