Bild: Helmut Schütz

Gerufen zum Durchblick – Jesu blinder Jünger Bartimäus

Jesus bleibt stehen, auf der Durchreise durch Jericho nach Jerusalem, wo er über den Jordan seines Leidens gehen muss: So ernst nimmt er den erblindeten, verelendeten Bar-Timäus. Aber warum hilft er nicht sofort, spricht ihn nicht an, geht nicht auf ihn zu? Warum lässt er ihn, der zwei Mal zu ihm als dem Davids-Sohn geschrieen hat, erst zu sich rufen?

Jesus am Kreuz, umleuchtet von einer rot und gelb strahlenden Sonne, auf einem Fensterbild in der Kapelle des Evangelischen Krankenhauses Gießen
Der gekreuzigte Jesus, umstrahlt von himmlischem Licht, auf einem Fensterbild in der Kapelle des Evangelischen Krankenhauses Gießen (Foto: Helmut Schütz)

#predigtGottesdienst am Sonntag Estomihi, 23. Februar 2020, um 10.00 Uhr in der Kapelle des Evangelischen Krankenhauses Gießen
Orgelvorspiel

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Zum ersten Mal feiere ich hier im Evangelischen Krankenhaus mit Ihnen den Gottesdienst in Vertretung Ihrer Pfarrerin Gabriele Dietzel. Ich bin Pfarrer Helmut Schütz und war vor meinem Ruhestand bis vor vier Jahren in der Paulusgemeinde Gießen tätig.

Der heutige Sonntag steht in Gießen für Fastnachtsfreunde im Zeichen des Großen Umzugs durch die Stadt. In der evangelischen Kirche wirft ein Bibelwort aus dem Evangelium nach Lukas 18, 31, als Wochenspruch bereits ein Licht auf die am Mittwoch beginnende Passionszeit. Da spricht Jesus zu seinen Jüngern:

Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.

Im Namen dieses Jesus feiern wir unseren Gottesdienst, im Namen des Menschensohnes, der zugleich der wahre Sohn unseres Vaters im Himmel ist, auf den wir vertrauen dürfen durch das Geschenk des Heiligen Geistes. Amen.

Nun singen wir aus dem Lied 302 die Strophen 1, 5, 6 und 8:

1. Du meine Seele, singe, wohlauf und singe schön dem, welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn. Ich will den Herren droben hier preisen auf der Erd; ich will ihn herzlich loben, solang ich leben werd.

5. Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod, ernährt und gibet Speisen zur Zeit der Hungersnot, macht schöne rote Wangen oft bei geringem Mahl; und die da sind gefangen, die reißt er aus der Qual.

6. Er ist das Licht der Blinden, erleuchtet ihr Gesicht, und die sich schwach befinden, die stellt er aufgericht’. Er liebet alle Frommen, und die ihm günstig sind, die finden, wenn sie kommen, an ihm den besten Freund.

8. Ach ich bin viel zu wenig, zu rühmen seinen Ruhm; der Herr allein ist König, ich eine welke Blum. Jedoch weil ich gehöre gen Zion in sein Zelt, ist’s billig, dass ich mehre sein Lob vor aller Welt.

Ein Loblied für Gott haben wir gesungen. Ein Danklied für die Wunder, die er tut. Wir setzen das Lob Gottes fort mit Psalm 146, er steht im Gesangbuch unter der Nr. 757, und sprechen ihn im Wechsel:

1 Halleluja! Lobe den Herrn, meine Seele!

2 Ich will den Herrn loben, solange ich lebe, und meinem Gott lobsingen, solange ich bin.

3 Verlasset euch nicht auf Fürsten; sie sind Menschen, die können ja nicht helfen.

4 Denn des Menschen Geist muss davon, und er muss wieder zu Erde werden; dann sind verloren alle seine Pläne.

5 Wohl dem, dessen Hilfe der Gott Jakobs ist, der seine Hoffnung setzt auf den Herrn, seinen Gott,

6 der Himmel und Erde gemacht hat, das Meer und alles, was darinnen ist; der Treue hält ewiglich,

7 der Recht schafft denen, die Gewalt leiden, der die Hungrigen speiset. Der Herr macht die Gefangenen frei.

8 Der Herr macht die Blinden sehend. Der Herr richtet auf, die niedergeschlagen sind. Der Herr liebt die Gerechten.

9 Der Herr behütet die Fremdlinge und erhält Waisen und Witwen; aber die Gottlosen führt er in die Irre.

10 Der Herr ist König ewiglich, dein Gott, Zion, für und für. Halleluja!

Großer Gott, wir haben Loblieder gesungen und gebetet. Wir dürfen deine Stärke loben, auf deine Treue bauen, auf deine Hilfe hoffen – auch dort, wo Menschen leiden, wo Hass und Gewalt zu regieren scheinen.

Ich sage „wir“, doch ich weiß nur, was ich mit dir erfahren habe oder was mir Menschen erzählt haben, die auf dich vertrauen – oder zweifeln. Ich war voller Angst, und du hast mir Mut gemacht. Ich fühlte mich unsicher, und du gabst mir Selbstvertrauen. Aber in Sorge um Menschen, die mir am Herzen liegen, weiß ich manchmal auch nicht, warum du nicht eingreifst, warum Schmerz bleibt, Krankheit nicht geheilt wird, Misstrauen in einer Partnerschaft nicht überwunden werden kann. Gott, vor dir dürfen wir danken und bitten. Wir dürfen loben und auch klagen. In Gedanken mag nun jeder vor dir aussprechen, was ihm auf der Seele liegt, Leichtes oder Schweres:

Gebetsstille

So sind wir hier vor dir mit unserem eigenen Leben, mit Gedanken an Menschen, die uns nahe stehen, und darüber hinaus mit Gedanken an die so komplizierte Welt, in der wir leben.

In diesem Gottesdienst bitten wir dich nun um dein gutes Wort, dass wir es hören und tun, um das Licht deiner Liebe, dass es uns erfüllt und wir fähig werden, es anderen weiterzugeben. Amen.

Lied 572: Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht

Wir hören den Text zur Predigt aus dem Evangelium nach Markus 10, 46-52:

46 Und sie kamen nach Jericho. Und als [Jesus] aus Jericho hinausging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus.

47 Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

48 Und viele fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

49 Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!

50 Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus.

51 Und Jesus antwortete ihm und sprach: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde.

52 Und Jesus sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Wir singen das Lied 440:

1. All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu; sie hat kein End den langen Tag, drauf jeder sich verlassen mag.

2. O Gott, du schöner Morgenstern, gib uns, was wir von dir begehrn: Zünd deine Lichter in uns an, lass uns an Gnad kein Mangel han.

3. Treib aus, o Licht, all Finsternis, behüt uns, Herr, vor Ärgernis, vor Blindheit und vor aller Schand und reich uns Tag und Nacht dein Hand,

4. zu wandeln als am lichten Tag, damit, was immer sich zutrag, wir stehn im Glauben bis ans End und bleiben von dir ungetrennt.

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde,

was sollen wir mit der Geschichte anfangen, die Markus uns erzählt? Ein blinder Bettler bittet Jesus darum, sehen zu können, und Jesus heilt ihn. Der Blinde vertraut Jesus, und Jesus sagt: „Dein Glaube hat dir geholfen.“

Ist das wirklich so einfach? Es kann doch nicht jeder Blinde, der auf Jesus vertraut, sofort wieder sehen. Am Anfang meiner Tätigkeit als Pfarrer, vor über 40 Jahren, habe ich in der Blindenschule in Friedberg gearbeitet, und mit so einer Geschichte konnten die blinden Schüler nichts anfangen. Sie hatten aufgehört, Gott Vorwürfe zu machen, dass er ihnen die Blindheit nicht wegnahm. Froh waren einige, weil Gott ihnen half, mit ihrem Leben als blinde Menschen zurechtzukommen. Später lernte ich den blinden Theologieprofessor John M. Hull kennen, der ernsthaft mit Jesus böse war, weil der blinde Mann ihm erst nachfolgen durfte, als er sehend geworden war. Wollte Jesus keinen Jünger bei sich dulden, der blind blieb?

Manchmal muss man, um Bibeltexte zu verstehen, sehr genau hinschauen. Und zwar in drei Richtungen. Erstens in den unmittelbaren Zusammenhang – zweitens auf jedes einzelne Wort – drittens in den größeren Zusammenhang der ganzen Bibel.

Für die Geschichte von der Heilung des Bartimäus ist wichtig, was Markus unmittelbar zuvor erzählt. Gerade hat Jesus seinen Jüngern zum dritten Mal angekündigt, was ihm in Jerusalem bevorstehen würde: Verurteilung und Spott, Folter und Tod, und nach drei Tagen würde er auferstehen. Nichts davon haben sie verstanden, erst recht nichts davon akzeptiert. Stattdessen haben ihn Jakobus und Johannes gefragt, ob sie Ehrenplätze in seinem Königreich des Friedens bekommen würden, rechts und links neben ihm (Markus 10, 35-37), und darüber gab es dann Streit mit den anderen zehn Jüngern.

42 Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.

43 Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein.

44 und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.

45 Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

„Menschensohn“, nur so nennt Jesus sich selbst. In seiner aramäischen Muttersprache heißt das einfach „Mensch“. Nichts weiter als ein einfacher Mensch will Jesus sein: Ein menschlicher Mensch. Ein Mensch, wie Gott ihn gemeint hat, nach dem Bild der Liebe Gottes geschaffen. Ein auf Gott vertrauender, hoffender, liebender Mensch.

Unmittelbar nach diesem Wort Jesu über den Menschensohn, der dient und sein Leben gibt, beginnt die Geschichte, die wir vorhin gehört haben. Die will ich jetzt mit Ihnen noch einmal genau anschauen. Und zwar jeden einzelnen dieser sieben Verse, jedes einzelne Wort.

46 Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho hinausging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus.

Die Geschichte fängt schon seltsam an. Auf dem Weg nach Jerusalem kommt Jesus in die Stadt Jericho. Und dann geht er wieder aus der Stadt heraus. Nichts erzählt Markus von dem, was in Jericho geschieht, sondern nur, was passiert, als er mit seinen Jüngern und einer ansehnlichen Menschenmenge wieder herausgegangen ist. Wieso erwähnt er dann überhaupt, dass Jesus nach Jericho kommt?

In solchen Fällen ist es im Falle des Neuen Testaments immer gut, nicht zu denken: Na ja, wird schon nicht so wichtig sein, kommt ja vor, dass in einem Ort nichts Berichtenswertes los ist. Gerade der Evangelist Markus ist oft so sparsam mit seinen Worten, dass er kaum einmal etwas Überflüssiges sagt. Allerdings gibt er oft Rätsel auf mit seinen Formulierungen. Und diese Rätsel lassen sich manchmal nur lösen, wenn man sich fragt: Auf welche alten Überlieferungen in seiner jüdischen Bibel, die wir das Alte Testament nennen, spielt er hier wohl an?

In diesem Fall mag Markus an das 2. Buch der Könige 2, 1-13, denken (1). Da geht es um den Propheten Elia. Der weiß, dass er sterben muss. Und sein Abschied vom Leben wird geschildert als ein Weg mit mehreren Stationen: von Gilgal nach Bethel, von Bethel nach Jericho, von Jericho an den Jordan. Auch in dieser alten Geschichte kommt Elia nicht nach Jericho, um dort etwas zu tun. Er kommt hin, um weitergesandt zu werden, um über den Jordan zu gehen. Ja, genau aus dieser Geschichte kommt auch die übertragene Bedeutung dieses Ausdrucks: Jenseits des Jordans wird Elia sterben, wird er von Gott in den Himmel aufgenommen werden. Auf einem solchen Weg befindet sich auch Jesus, nämlich nach Jerusalem. Dort muss Jesus seinen Jordan des Leidens durchschreiten, um zu sterben und auferweckt zu werden.

Und am Rande dieses Weges, außerhalb von Jericho, begegnet ihm nun ein blinder Bettler, dessen Name im Urtext zunächst in griechischer Übersetzung genannt wird: Sohn des Timäus, auf aramäisch Bartimäus. Timē ist das griechische Wort für „Ehre“; offenbar will Markus andeuten: dieser Mann ist nicht von Geburt an blind und arm, sondern ein ursprünglich hochgeachteter Ehrenmann, der durch seine Blindheit verelendet und zum Bettler geworden ist.

Noch einmal erinnere ich an Elia – als der damals aus Jericho zum Jordan geht, begleitet ihn sein Schüler Elisa. Obwohl Elia ihn immer wieder auffordert, zurückzubleiben, lässt Elisa den Elia nicht allein, nicht einmal, als Elia schließlich buchstäblich über den Jordan geht und sterben muss. Interessant ist nun, dass es dann ausdrücklich um das Thema „Sehen“ geht. Elisa erbittet von seinem Lehrer Elia, dass ihm nach seinem Tod etwas von seinem Geist zufällt, und Elia antwortet (2. Könige 2):

10 Wenn du mich sehen wirst, wie ich von dir genommen werde, so wird‘s geschehen; wenn nicht, so wird‘s nicht sein.

Und Elisa kann dann auch tatsächlich mit den Augen seines Gottvertrauens sehen, wie Elia in einem feurigen Wagen mit feurigen Rossen im Wettersturm gen Himmel fährt.

Jesus hat auf dem Weg zu seinem Jordan in Jerusalem keinen solchen Elisa bei sich, der den Himmel zu sehen vermag. Er begegnet stattdessen einem blinden Bettler. Indem Markus Jesu Durchzug durch Jericho erwähnt und damit an Elia und Elisa erinnert, mag er uns also auf die Spur setzen, die Blindheit des Bartimäus vielleicht auch symbolisch zu deuten. (Nun weiter im Text von Markus 10:)

47 Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

Der Blinde hört, wer da vorbeigeht, Jesus, der Nazarener, wie es bei Markus wörtlich heißt. Wir denken dabei immer an den Ort Nazareth. Vielleicht will Markus mit dem Wort „Nazarenos“ aber auch an die Stelle aus Jesaja 11, 1 erinnern, die wir aus dem Weihnachtslied „Es ist ein Ros entsprungen“ kennen:

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.

Der Zweig aus der Wurzel Isais heißt auf Hebräisch NeZäR, davon kann das Wort „Nazarenos“ abgeleitet sein. So gesehen ist Jesus ein Nachkomme dieses Isai oder Jesse, so wie wir von Jesus singen: „von Jesse kam die Art“. Isai oder Jesse aber war der leibliche Vater des Königs David.

Also dieser Jesus, der Nazarener aus dem Stammbaum des Königs David, ist da. Das hört der Blinde, und er fängt lauthals an zu schreien. „Sohn Davids Jesus!“ ruft er und bittet um sein Erbarmen – um Mitgefühl – um Aufmerksamkeit!

Nur an dieser einen Stelle wird Jesus im Markusevangelium der Sohn Davids genannt. Nur dieser Blinde nennt ihn so. Sieht hier ein Blinder mehr als alle anderen – nämlich dass Jesus tatsächlich der Messias ist, der kommen soll, ein König, der nach Gott fragt und sogar vor Gott seine Schuld bekennt, wie es damals König David getan hat? Sieht er in Jesus den Menschen, der von Gott kommt und alles in Ordnung bringt und heil macht, was in dieser Welt kaputt und krank ist?

Oder will Markus sagen: Indem dieser Mann so laut herausposaunt, dass Jesus der Sohn Davids ist, ist er tatsächlich blind für die wahre Bedeutung Jesu? Denn wer zur Zeit Jesu und in den Jahren danach auf einen Davidssohn hoffte, der wollte ja in aller Regel das Großkönigreich Davids buchstäblich wiederherstellen und dazu den römischen Machthabern mit Gewalt ihre Herrschaft entreißen. In der Zeit, als Markus sein Evangelium schrieb, war deutlich geworden, wohin so etwas führte: zum Jüdischen Krieg 66 bis 70, zum Untergang Jerusalems, zur Zerstörung des Tempels, zur erneuten Kreuzigung vieler Menschen des jüdischen Volkes.

Für Markus ist klar: Ein solcher König, der sein jüdisches Volk in einen gewaltsamen und letztlich selbstmörderischen Aufstand gegen die Römer hineinführt, will Jesus nicht sein. Bevor er von Bartimäus als Sohn Davids angeschrien wird, hat Jesus das ja gerade noch seinen Jüngern deutlich genug gesagt. (Weiter mit Markus 10:)

48 Und viele fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

Zu diesem Vers geht mir eine ganze Menge durch den Kopf. Erstens zeigt sich hier, welche Verachtung der früher hochgeachtete Sohn des Timaios erfährt. Statt Timē, also Ehre erwiesen zu bekommen, putzt man ihn herunter, schimpft man ihn aus. Markus gebraucht hier das Wort epi-timein, es drückt das Gegenteil von timē, von Ehre aus, Bartimäus wird ent-ehrt.

Zweitens denke ich nach meinen Überlegungen von eben: Eigentlich dürfte es auch Jesus nicht gefallen, so lautstark als Davids Sohn gefeiert zu werden. Denn wenn das ein römischer Soldat oder ein Beamter von König Herodes hört, könnte man ihn verdächtigen, er würde einen Aufstand planen.

Drittens allerdings könnte es sein, dass Bartimäus, indem er zu Jesus als dem Sohn Davids schreit, genau das erwartet: Richte doch das Königreich Davids wieder auf, dann wird auch meine Ehre wieder hergestellt sein! Make Israel great again! Mache Israel wieder groß und setze dich gegen die fremden Machthaber durch!

Und so lässt sich Bartimäus ganz und gar nicht den Mund verbieten. Statt zu schweigen, schreit er um so lauter: „Sohn Davids, hab doch Mitleid mit mir!“

49 Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!

Jesus bleibt stehen. Er unterbricht den Weg, auf dem er unterwegs ist. So ernst nimmt er den Blinden.

Aber nun heißt es nicht etwa, dass er ihm sofort hilft. Auch noch nicht, dass er mit ihm persönlich spricht. Er geht nicht einmal auf den Blinden zu. All das scheint mir anzudeuten, dass Jesus wirklich nicht sehr glücklich damit ist, von dem blinden Mann als Sohn Davids angeschrien worden zu sein.

Nachdem Bartimäus zwei Mal zu Jesus geschrien, ihn geradezu angebrüllt hat, auf Griechisch krazein,  benutzt Markus drei Mal das Wort phōnein, mit dem Jesus den Blinden zu sich rufen lässt. Mit demselben Wort hatte Jesus auch seine Jünger schon einmal zu sich gerufen (9,35), um ihnen klarzumachen, dass es nicht darauf ankommt, der Größte sein zu wollen, sondern:

Wenn jemand will der Erste sein, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener.

Wenn wir also von Jesus Hilfe erwarten, dann mag es sein, dass auch wir erst einmal von Jesus gerufen werden, um von ihm etwas zu lernen.

Dieses dreifache Wort Rufen rahmt aber nun ein erstaunliches Geschehen ein:

Indem die Menschenmenge dem Blinden den Ruf Jesu weitergibt, wird ein Wunsch des Blinden anscheinend bereits erfüllt: Er wird auf einmal mit Ehrerbietung behandelt. Allein die Tatsache, von Jesus gerufen zu sein, stellt die Ehre des Bartimäus wieder her, so dass man ihn nicht mehr anfährt, sondern aufmunternd mit ihm spricht: „Hab Mut! Steh auf! Er ruft dich!“ (Weiter mit Markus 10:)

50 Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus.

Wieder haben wir hier eine von Markus erzählte seltsame Einzelheit. Wieso wirft Bartimäus seinen Mantel von sich, als er aufspringt, um zu Jesus zu kommen?

Und wieder ist interessant, dass auch in der vorhin erwähnten Geschichte von Elia und Elisa ein solcher Mantel vorkommt. Als Elisa seinen Lehrer Elia hat zum Himmel fahren sehen (2. Könige 2, 12),

da fasste er seine Kleider, zerriss sie in zwei Stücke.

„Kleider“, so steht es in der Lutherübersetzung; die griechische Übersetzung des Alten Testaments hat an dieser Stelle dasselbe Wort wie bei Markus. Elisa wirft seinen Mantel zwar nicht weg, aber er zerreißt ihn. Und an Stelle dieses Mantels nimmt er den Prophetenmantel seines verstorbenen Lehrers Elia an sich. Wenn Bartimäus also seinen Mantel wegwirft, mag damit angedeutet sein, dass er sich nicht nur von Jesus rufen lässt, sondern auch von ihm lernen will, sein Schüler und Jünger sein will, so wie damals Elisa von seinem Lehrer Elia (2). (Weiter mit Markus 10:)

51 Und Jesus antwortete ihm und sprach: Was willst du, dass ich für dich tun soll?

Jetzt erst heißt es, dass Jesus dem Blinden antwortet. Offenbar hielt er es nicht für angebracht, direkt auf sein Schreien zu antworten. Aber als Bartimäus auf Jesu Ruf hin den Mantel wegwirft, aufspringt und zu ihm kommt, da antwortet Jesus, indem er eine Frage stellt: Was genau willst du nun von mir, was soll ich für dich tun?

Nun könnte man sagen: Warum fragt Jesus so dumm? Liegt es nicht auf der Hand, dass ein Blinder wieder sehen können will?

Aber inzwischen haben wir wohl gemerkt, dass es so einfach eben nicht ist. Ich erinnere an meine Schüler in der Blindenschule, die genau wussten: Auch wenn sie noch so sehr an Jesus glauben, ihre Augen werden nicht wieder sehen können. Ich erinnere an den blinden Theologieprofessor John Hull, der sich wünschte, Jesus als blinder Jünger nachfolgen zu dürfen. Ich denke auch an eine Frau, die ich in meiner Zeit als Klinikseelsorger kennenlernte und die aus seelischen Gründen farbenblind war: Ihre Seele weigerte sich, die Welt farbig zu sehen, weil sie in ihrer Kindheit massiven Missbrauch erfahren hatte und ihr Leben nur ertragen konnte, wenn der Anblick der schrecklichen Realität durch eine Art Graufilter abgemildert wurde.

Hinzu kommt bei Bartimäus: Schon jetzt ist mit ihm eine Menge geschehen. Er hat geschrieen. Er ist von Jesus ernstgenommen, ja, gerufen worden, wie ein Jünger. Die Menschen haben ihre Haltung ihm gegenüber verändert. So hat er seine Ehre wiedergefunden. Er hat Jesu Ruf gehört und seinen Mantel weggeworfen, wie man eine liebgewordene, aber ungute Angewohnheit oder Haltung ablegt.

Auf Jesu Frage formuliert er trotzdem seine Bitte:

Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde.

Wieder verwendet Markus hier ein Wort, das die Bitte des Bartimäus in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Er bittet nicht einfach: Gib mir das Augenlicht wieder! Er will sehend werden, fügt aber die Anrede hinzu: „Rabbuni“. Nur an dieser einen Stelle kommt dieses Wort bei Markus vor – sonst wird Jesus nur noch im Johannesevangelium von Maria Magdalena als Auferstandener so ehrenvoll angeredet (3). „Mein verehrter Meister und Lehrer“, so ungefähr müsste man dieses Wort übertragen. Wenn Bartimäus aber Jesus als einen Rabbi anspricht, ihn also als einen Lehrer der Heiligen Schrift so eindringlich bittet, sehen zu können, dann will er vor allem sehen lernen im Sinne von Einsicht und Durchblick. Er will als Jünger bei Jesus bleiben und sehen, was wirklich die Ziele des Messias Jesus sind, was für einen Frieden er bringt, wie die Menschlichkeit des Menschensohnes aussieht.

52 Und Jesus sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.

Auf überraschende Weise reagiert Jesus. Er hat doch gefragt, was er für den Blinden tun soll. Aber nun tut er gar nichts. Er sagt nur: Geh fort! Dir ist schon geholfen. Wörtlich sagt Jesus: Dein Vertrauen hat dich befreit. Wir haben es ja eben schon gesehen, was alles in und mit Bartimäus in Bewegung geraten ist, was sich, indem Jesus ihn rufen ließ, um ihn herum verändert hat und wie er, indem er auf Jesu Ruf geantwortet hat, auch seine Einstellung verändert hat. Frei geworden ist er von Entehrung, frei geworden ist er, um sich selber anzunehmen, frei geworden zur Nachfolge Jesu, zur Liebe.

Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Ist Bartimäus nun auch noch körperlich, biologisch, durch ein übernatürliches Wunder, sehend geworden? Markus scheint es anzunehmen, aber er erwähnt es fast nur am Rande, sehr beiläufig. Genauso gut kann das Wort auch bedeuten: Blitzartig hat Bartimäus Durchblick gewonnen, nämlich die neue Einsicht, dass sein eigenes Vertrauen ihn aus seiner elenden Lage befreit hat. Als befreiter Mensch folgt er nun Jesus auf seinem Weg, der ihn nach Jerusalem führen wird. Ob Bartimäus nun körperlich blind geblieben ist oder nicht – sein Leben hat eine neue Erfüllung gewonnen, indem er Jesus als Jünger nachfolgen darf, vielleicht sogar als blinder Jünger, wie es sich der von mir erwähnte Theologieprofessor gewünscht hat.

Fensterbild in der Kapelle des Evangelischen Krankenhauses mit dem Text des Vaterunser
Der Text des Vaterunser auf einem Fensterbild in der Kapelle des Evangelischen Krankenhauses Gießen (Foto: Helmut Schütz)

So gesehen sieht der blinde Bartimäus im Markusevangelium mehr als die sehenden Jünger Jesu. Die Zwölf haben viel mehr Schwierigkeiten, Jesus zu verstehen und von ihm zu lernen, als dieser Blinde. Sehend wird der Blinde, indem er sich von der Stimme Jesu rufen lässt, ansprechen lässt, indem er lernen will, in welcher Weise Jesus tatsächlich der Menschensohn ist, ein wahrer Mensch mit wahrer Menschlichkeit. Er muss sich nicht mehr entehrt fühlen, muss nicht nach der Ehre streben, dass sein Volk größer ist als andere Völker und sich mit Gewalt durchsetzt. Er kann dem Menschen folgen, der im Vertrauen zu dem Einen Gott Israels für alle Menschen da ist und sogar sein Leben lässt, damit sie alle lernen, füreinander einzustehen und im Frieden miteinander zu leben. So sieht der blinde Jünger Bartimäus mehr als andere Jünger Jesu. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 236: Augen gabst du mir, sehen kann ich nicht
Fürbitten und Gebetsstille

Gemeinsam beten wir mit Jesu Worten:

Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Lied 562: Segne und behüte
Abkündigungen

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

Orgelnachspiel
Kaffeetrinken in der Cafeteria des Krankenhauses

Anmerkungen

(1) Auf diese Geschichte gehe ich in meinem Gottesdienst Elisa begleitet Elia „über den Jordan“ ein.

(2) Zu weit führen würde im Zusammenhang dieser Predigt die Erinnerung an 1. Könige 11, 29-31. Dort zerreißt der Prophet Ahija vor Jerobeam einen neuen Mantel in zwölf Stücke, zum Zeichen dafür, dass Israel in der Zeit nach Salomo in ein Nord- und Süd­reich zerrissen sein sollte. Der Man­tel des Bartimäus könnte also auch das Sinnbild eines wiederhergestell­ten Großisrael sein, das die zeloti­schen Anhänger eines Messias nach der Art des Königs David anstrebten.

(3) Interessanterweise hat auch die Erzählung von Maria Magdalena und Jesus in Johannes 20, 11-18 mit Elia und Elisa zu tun; vgl. dazu meinen Gottesdienst Maria Magdalena sieht Jesus.

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