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Lots Töchter

Tue ich dem biblischen Lot Unrecht, wenn ich ihn vergleiche mit Vätern unserer Zeit, die ihre Töchter ausnutzen für den eigenen Trost? Lot sucht Halt an den Töchtern, den er ihnen geben sollte. Wenn es dem Vater recht war, die Töchter zu opfern, ist es den Töchtern billig, sich – hebräisch ausgedrückt – „den Samen des Vaters lebendig zu machen“.

Gemälde: Lots Töchter machen ihren Vater Lot betrunken und verführen ihn
Der Inzest der Töchter Lots mit ihrem Vater hat die Phantasie vieler Maler angeregt (Bild: Gianni CrestaniPixabay)

#predigtGottesdienst am 6. Sonntag nach Trinitatis, den 15. Juli 2007, in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Ich begrüße Sie herzlich zum Gottesdienst in der Pauluskirche mit dem Wort zur Woche aus dem Propheten Jesaja 43, 1:

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!

In der Predigt erzählen wir heute die Geschichte von zwei jungen Mädchen bzw. Frauen, die zwar in der Bibel vorkommen, aber fast nie im Gottesdienst erwähnt werden. Sie sind eng verwandt mit dem Stammvater des Volkes Israel; sie sind Abrahams Großnichten; sie sind die Töchter des Lot, die dem Untergang von Sodom und Gomorrha gemeinsam mit ihrem Vater nur knapp entrinnen. Besser bekannt ist Lots Frau, die zur Salzsäule erstarrt. Was die Geschichte dieser Familie uns in der heutigen Zeit lehren kann, davon mehr in der Predigt.

Lied 161:

1. Liebster Jesu, wir sind hier, dich und dein Wort anzuhören; lenke Sinnen und Begier auf die süßen Himmelslehren, dass die Herzen von der Erden ganz zu dir gezogen werden.

2. Unser Wissen und Verstand ist mit Finsternis verhüllet, wo nicht deines Geistes Hand uns mit hellem Licht erfüllet; Gutes denken, tun und dichten musst du selbst in uns verrichten.

3. O du Glanz der Herrlichkeit, Licht vom Licht, aus Gott geboren: mach uns allesamt bereit, öffne Herzen, Mund und Ohren; unser Bitten, Flehn und Singen lass, Herr Jesu, wohl gelingen.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten mit Worten aus dem Buch Jesaja 42. Gott spricht:

1 Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn. Ich habe ihm meinen Geist gegeben.

2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen.

3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Wie viele unter uns sind wie ein geknicktes Rohr? Wie viele in unserer Gemeinde, in unserem Stadtteil sind wie ein fast verglimmender Docht? Über wie viele sehen wir hinweg, nehmen ihre seelische Not nicht wahr, weil sie sich selber auch gar nicht zeigen wollen mit ihren Problemen, weil sie sich schämen für ihr Schicksal.

Gott, wir bitten dich um ein Gespür für das, was unsere Mitmenschen belastet. Und wenn wir selber wie erdrückt sind von Schwermut und schweren Gedanken, dann bitten wir dich um den Mut, unser Herz auszuschütten bei einem Menschen, der unser Vertrauen verdient.

Wir rufen zu dir, Gott: Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Gott Abrahams und Gott Saras, du bist auch der Gott von Lot und seinen Töchtern. Du bist der Gott der großen Glaubensgestalten, aber auch der Kleingläubigen. Du bist der Gott Marias und der Gott des Petrus. Du bist unser Gott, wenn wir stark sind und auch wenn wir schwach sind, wenn wir vertrauen und wenn wir zweifeln.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist gross Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Bleibe bei uns und halte uns fest – auch wenn wir fast zerbrochen sind wie ein geknicktes Rohr! Lass uns, wenn wir wie ein glimmender Docht sind, nicht verlöschen, sondern bringe unser Licht zum Leuchten! Das erbitten wir von dir im Namen des Menschen, in dem du deine heilige Herrlichkeit offenbart hast, im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören die Schriftlesung aus dem Evangelium nach Matthäus 18, 1-6:

1 Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist doch der Größte im Himmelreich?

2 Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie

3 und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.

4 Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.

5 Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.

6 Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Halleluja! „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis
Lied 625: Wir strecken uns nach dir, in dir wohnt die Lebendigkeit
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde! Ich erzähle Ihnen eine biblische Geschichte nach, die Sie so wohl nie gehört haben. Den biblischen Text selbst liest Frau Schau, in eigenen Worten erzähle ich die Geschichte so, als könnte sie auch heute, in unserer Zeit passieren. Denn ähnliche Geschichten geschehen tatsächlich noch heute. Es geht um zwei Kinder, die wie jedes Kind darauf angewiesen sind, zuerst in ihrem Leben ihren Eltern vertrauen zu können. Aber ihr Vertrauen wird enttäuscht, missbraucht. Wie kommt es dazu? Wie werden sie damit fertig werden?

Da liegt die schöne Stadt Sodom am Jordan, umgeben von Feldern und Wiesen, eine reiche Stadt mit reichen Ackerbauern und Viehhirten. Den Menschen in Sodom könnte es gut gehen, es muss niemand hungern, jeder hat ein Dach über dem Kopf. Aber dennoch ist man in der Stadt nicht glücklich. Viele wissen vor lauter Geld und Langeweile nicht, womit sie ihre Zeit totschlagen sollen; sie suchen sich Vergnügungen, die immer ausgefallener sein müssen, bis dahin, dass sie Menschen quälen, um Lust zu empfinden.

Ich glaube, das ist es, was der biblische Erzähler im 1. Buch Mose – Genesis 13, meint, wenn er schreibt:

13 Aber die Leute zu Sodom waren böse und sündigten sehr wider den HERRN.

Nun lebt aber auch eine Familie in Sodom, die ist fremd in der Stadt. Abrahams Neffe hat sich Sodom als Wohnort ausgesucht, mit all den gut bewässerten Weiden drumherum – dort lässt er es sich gut gehen. Eine Frau hat er sich in Sodom genommen, und zwei Töchter sind dem Ehepaar geboren worden. Leider versteht sich Lot nicht so gut mit seiner Frau; zu sehr ist sie ein Kind ihrer Stadt, zu viel bedeuten ihr die Vergnügungen in Sodom, mit denen Lot nichts zu tun haben will. „Wir haben einen anderen Glauben als die Leute in dieser Stadt”, sagt er immer. „Wir glauben an einen anderen Gott. Ich kann es nicht so gut ausdrücken, frag meinen Onkel Abraham, der hat einen direkten Draht nach oben.”

Kein Wunder, dass Lot sehr einsam ist in Sodom. Mit den Bewohnern wird er einfach nicht richtig warm; ihre ganze Lebensweise gefällt ihm nicht. Seinen Onkel Abraham hat er schon lange nicht mehr gesehen. Mit dem war er damals den weiten Weg aus Mesopotamien hier in dieses Land gekommen, weil Gott es dem Abraham gesagt hatte, heute wäre das eine Reise aus dem Irak nach Israel. Abraham hatte dem Lot früher immer wieder geholfen, wenn er in Schwierigkeiten war, und das war oft vorgekommen. Dann hatten sie sich voneinander getrennt, denn beinahe war es zu Mord und Totschlag zwischen ihren Viehhirten gekommen.

Inzwischen gibt es nur zwei Menschen, die Lot wirklich etwas bedeuten: seine beiden Töchter, die fast zur Frau herangewachsen sind. Damals im alten Israel gelten zwölfjährige Mädchen als erwachsen, die eine ist vielleicht elf und die andere zwölf Jahre alt.

Wie die beiden heißen, wird uns nicht überliefert, ich nenne die ältere in dieser Predigt Bekirah, das ist das hebräische Wort für die erstgeborene Tochter, und die jüngere nenne ich Zeïrah, damit ist im Hebräischen die kleine Schwester gemeint.

Da die Mutter sich mehr in Sodom herumtreibt, als für ihre Kinder zu sorgen, ist es den Mädchen nur lieb, dass der Papa sich viel mit ihnen beschäftigt, mal mit der einen und mal mit der anderen. „Wenn ich dich nicht hätte”, sagt er dann manchmal zu Bekirah oder zu Zeïrah, „dann wäre ich ganz allein. Du bist meine Lieblingstochter. Irgendwie bist du meine kleine Frau.” Ein bisschen spüren Bekirah und Zeïrah, dass das manchmal etwas komisch ist mit dem Papa; immer müssen sie ihn trösten, immer muss die eine eifersüchtig auf die andere sein, manchmal küsst oder streichelt der Papa sie auch so komisch. Aber wenn die eine sagt: „Das mag ich nicht!” dann sagt Lot: „Das tu ich doch bloß, weil ich dich so lieb habe, aber wenn du es nicht willst, dann gehe ich eben zu deiner Schwester”. Nein, glücklich sind auch die beiden Mädchen mit ihrem Vater nicht. Wem sollen sie es auch sagen, was der Vater macht? Sie wissen ja selbst nicht genau, was da nicht stimmt. Und die Mutter würde sie nur auslachen.

So ist das mit Lot und seinen beiden Töchtern, Bekirah und Zeïrah, als die Nacht der Katastrophe über Sodom hereinbricht. Am frühen Abend ist noch nichts davon zu merken, dass wenige Stunden später die Stadt Sodom zusammen mit der Nachbarstadt Gomorrha untergehen wird: durch Erdbeben und Vulkanausbruch, in Feuer und Schwefel. Nur eins ist anders an diesem Abend: es kommt Besuch. Zwei von den drei Männern, die vorher dem Abraham und seiner Frau Sara angekündigt haben, dass sie ihren Sohn Isaak bekommen werden, kommen bei Abrahams Neffen in der Stadt Sodom vorbei (1. Buch Mose – Genesis 19):

1 Die zwei Engel kamen nach Sodom am Abend; Lot aber saß zu Sodom unter dem Tor. Und als er sie sah, stand er auf, ging ihnen entgegen und neigte sich bis zur Erde

2 und sprach: Siehe, liebe Herren, kehrt doch ein im Hause eures Knechts und bleibt über Nacht; lasst eure Füße waschen und brecht frühmorgens auf und zieht eure Straße. Aber sie sprachen: Nein, wir wollen über Nacht im Freien bleiben.

3 Da nötigte er sie sehr, und sie kehrten zu ihm ein und kamen in sein Haus. Und er machte ihnen ein Mahl und backte ungesäuerte Kuchen, und sie aßen.

Diese beiden jungen Männer, die zum Stadttor hereinkommen – sie haben etwas Besonderes an sich; solche Männer haben die beiden Mädchen noch nie gesehen. Ganz anders als die Männer in der Stadt, anders als die Männer, die Lot für sie bereits als Ehemänner ausgesucht hat, die denken immer nur als Vergnügen und Sex. Auch anders als Lot, der immer so unsicher und traurig und einsam ist und von Bekirah und Zeïrah getröstet werden muss. Die beiden, die da hereinkommen, sind zwar jung, aber sie wirken erfahren und selbstbewusst, freundlich, aber auch ernst.

Dem Vater Lot schießt sofort durch den Kopf: „Diese beiden Jüngelchen sind ohne meinen Schutz in der Stadt verloren!“ Er denkt an das, was sein Onkel Abraham immer sagt: „Halte die Gastfreundschaft in hohen Ehren – es geht nichts über die Pflicht, seine Gäste vor allem Bösen zu schützen!” Darum bittet er die beiden gleich zu sich ins Haus, er weiß ja, wie die anderen Stadtbewohner sind.

4 Aber ehe sie sich legten, kamen die Männer der Stadt Sodom und umgaben das Haus, jung und alt, das ganze Volk aus allen Enden,

5 und riefen Lot und sprachen zu ihm: Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, dass wir uns über sie her machen.

Kaum bekommen die Männer der Stadt heraus, dass Lot zwei junge Gäste hat, wittern sie ein Abenteuer, das es nicht alle Tage gibt. Mit denen wollen sie es treiben, ihnen Gewalt antun, das macht ihnen Spaß. Was soll Lot tun? Abraham hat ihm beigebracht: Wenn es darum geht, Gastfreunde zu beschützen, darf einem kein Opfer zu groß sein. Er entschließt sich, zu handeln:

6 Lot ging heraus zu ihnen vor die Tür und schloss die Tür hinter sich zu

7 und sprach: Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel!

8 Siehe, ich habe zwei Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will ich herausgeben unter euch, und tut mit ihnen, was euch gefällt; aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Dachs gekommen.

Bekirah und Zeïrah drinnen trauen ihren Ohren nicht: Sie sind nicht im Zimmer bei den Gästen, das würde sich nicht gehören; aber hinter ihrem kleinen Fenster hören sie alles, was draußen gesprochen wird. „Was hat der Vater gerade gesagt?“ denken sie. „Ich habe zwei Töchter, sie haben noch mit keinem Mann geschlafen, mit denen könnt ihr machen, was ihr wollt?“ Ist das wirklich unser lieber Vater? Will er uns wirklich zu den bösen Männern hinausschicken? Sind wir weniger wert als die fremden Männer, die zu Besuch gekommen sind, dass es dem Papa egal ist, was mit uns passiert da draußen in der wilden Meute? „Ich habe Angst”, flüstert Zeïrah und kuschelt sich an die ältere Schwester. „Ich auch”, sagt Bekirah. In ihr ist etwas zerbrochen. Sie ist enttäuscht, tief enttäuscht von ihrem Papa, den sie so sehr lieb hat. Irgendwie spürt sie, dass der Vater sie wohl nie einfach so lieb gehabt hat. Immer waren sie für ihn da gewesen, weil er so alleine war. Und sie, die Töchter, waren einfach sein Eigentum, und auch jetzt konnte er mit ihnen machen, was er wollte.

Aber was auch immer sich Lot dabei gedacht hat, als er seine Töchter den Männern draußen angeboten hat, die Männer hören gar nicht auf Lot.

9 Sie aber sprachen: Weg mit dir! Und sprachen auch: Du bist der einzige Fremdling hier und willst regieren? Wohlan, wir wollen dich noch übler plagen als jene. Und sie drangen hart ein auf den Mann Lot.

„O weh!” ruft Zeïrah, und „Der arme Papa!” ruft Bekirah, als sie das hören. Was werden die Männer jetzt mit ihrem Vater machen? Sie sind enttäuscht von ihm, aber sie haben ihn doch auch lieb. Sie wollen nicht, dass ihm etwas passiert! Sie denken: „Nein, dann sollen sie lieber uns holen, den Papa sollen sie nicht totschlagen!”

In diesem Augenblick greifen plötzlich die beiden Gäste ein:

Doch als sie hinzuliefen und die Tür aufbrechen wollten,

10 griffen die Männer hinaus und zogen Lot herein zu sich ins Haus und schlossen die Tür zu.

11 Und sie schlugen die Leute vor der Tür des Hauses, klein und groß, mit Blindheit, so dass sie es aufgaben, die Tür zu finden.

Damit geben sich die Männer zu erkennen: Sie sind Engel, Boten Gottes, die nicht auf den Schutz durch Lot angewiesen sind, sondern umgekehrt auf wunderbare Weise Lots Familie vor Schaden bewahren. Aber Lot bleibt keine Zeit, sich zu wundern oder zu staunen. Er bekommt einen Auftrag von den Engeln:

12 Und die Männer sprachen zu Lot: Hast du hier noch einen Schwiegersohn und Söhne und Töchter und wer dir sonst angehört in der Stadt, den führe weg von dieser Stätte.

13 Denn wir werden diese Stätte verderben, weil das Geschrei über sie groß ist vor dem HERRN; der hat uns gesandt, sie zu verderben.

14 Da ging Lot hinaus und redete mit den Männern, die seine Töchter heiraten sollten: Macht euch auf und geht aus diesem Ort, denn der HERR wird diese Stadt verderben. Aber es war ihnen lächerlich.

Bekirah und Zeïrah bekommen die Aufregung mit. Ist das zu glauben? Am frühen Morgen wird es die Stadt nicht mehr geben? Die Erde wird aufbrechen, die Stadt wird verschüttet werden von glühender Lava? Nur wer schnell aus der Stadt flieht, kann gerettet werden? Erschreckt und verstört fragen sich die beiden Mädchen: „Ist jetzt alles aus? Werden wir jetzt alle sterben?“

Enttäuscht sind sie auch von ihren zukünftigen Männern – sie lachen Lot nur aus, als er ihnen sagt: „Rettet euch! Kommt mit uns mit!” Richtig, Lot macht meistens keine gute Figur, niemand gibt viel auf sein Wort. In der Großfamilie hat Abraham viel mehr zu sagen, und hier in Sodom ist Lot nur der Zugereiste. Der gehört nicht dazu. Der zählt nicht. Aber dass man ihn deswegen auslacht, tut Bekirah und Zeïrah doch weh.

Auch in dieser Nacht fällt es Lot schwer, schnell einen Entschluss zu fassen. „Sollen wir nicht doch bleiben, ich kann nicht glauben, dass wir alles zurücklassen müssen”, denkt er. „Wir werden arm sein, so arm, wie wir noch nie gewesen sind”.

Und wieder einmal wird Lot eine Entscheidung abgenommen. Diesmal ist es nicht Abraham, der ihm hilft, sondern die beiden Gastfreunde:

15 Als nun die Morgenröte aufging, drängten die Engel Lot zur Eile und sprachen: Mach dich auf, nimm deine Frau und deine beiden Töchter, die hier sind, damit du nicht auch umkommst in der Missetat dieser Stadt.

16 Als er aber zögerte, ergriffen die Männer ihn und seine Frau und seine beiden Töchter bei der Hand, weil der HERR ihn verschonen wollte, und führten ihn hinaus und ließen ihn erst draußen vor der Stadt wieder los.

17 Und als sie ihn hinausgebracht hatten, sprach der eine: Rette dein Leben und sieh nicht hinter dich, bleib auch nicht stehen in dieser ganzen Gegend.

Viel Mühe haben die Boten Gottes mit Lot, fast gegen seinen Willen müssen sie ihn retten nach vielem Hin und Her. Einer nimmt Lot und seine Frau an die Hand, der andere die beiden Mädchen, und rasch geht es aus der Stadt hinaus. Nur die letzte Strecke müssen sie allein laufen – und sie müssen sich beeilen, sie dürfen nicht mehr zögern, nicht mehr zurückschauen. Es gibt im Leben Augenblicke, wo jeder Blick zurück schadet, wo es wichtig ist, nur nach vorn zu schauen.

Die Frau von Lot, was macht sie? Auch sie weiß nicht, wie ihr geschieht in dieser Nacht. Das alles soll untergehen, was ihr Leben ausgemacht hat, das ganze Treiben in der Stadt Sodom? Sie hat doch immer nach mehr gesucht – mehr Vergnügen, mehr Männer, mehr Leben, auch wenn sie nie gefunden hat, was sie wirklich suchte. Zusammen nur mit diesen drei Menschen sollte sie das alles aufgeben, mit diesem langweiligen Lot, mit diesen Papakindern, die ihr immer fremd geblieben sind? Frau Lot zögert, bleibt hinter den anderen zurück, schaut hinter sich, kann kein neues Leben beginnen. Und da geschieht die Katastrophe:

23 Und die Sonne war aufgegangen auf Erden, als Lot nach Zoar kam.

24 Da ließ der HERR Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra

25 und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war.

26 Und Lots Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule.

Nun sind Bekirah und Zeïrah ganz allein mit ihrem Vater; und der Vater ist ganz allein mit ihnen. Wer braucht nun wen mehr, die Mädchen den Vater, oder der Vater die Mädchen? Die Töchter sind ja nach unseren Begriffen noch Kinder, sie brauchen erwachsene Anleitung, um in das Leben einer erwachsenen Frau hineinwachsen zu können. Aber werden sie diese väterliche Hilfe von Lot bekommen? Schon bald kommt für sie die Zeit, in der alle anderen jungen Mädchen heiraten. Wird er ihnen helfen, diesen Schritt ins Erwachsenenleben zu schaffen? Oder wird sich Lot noch mehr in seine Einsamkeit vergraben?

In dem kleinen Ort Zoar hält er es jedenfalls nicht lange aus, vielleicht weil der Dorfklatsch seine Geschichten über diesen Lot verbreitet hat, der aus der bösen Stadt Sodom gekommen ist. Er zieht sich mit den Töchtern in die Berge zurück und wohnt dort mit ihnen in seiner Höhle.

30 Und Lot zog weg von Zoar und blieb auf dem Gebirge mit seinen beiden Töchtern; denn er fürchtete sich, in Zoar zu bleiben; und so blieb er in seiner Höhle mit seinen beiden Töchtern.

Die Zeit vergeht. Lot lebt in seiner Höhle in den Bergen zurückgezogen mit Bekirah und Zeïrah. Als ob sie seine beiden Ehefrauen wären, so versorgen sie ihn. Kontakt zu anderen Menschen aus der Umgebung lässt er nicht zu. Verschlossen ist er geworden nach der Katastrophe, er wird nicht damit fertig, dass er ein armer Mann ist, manchmal trinkt er zu viel Alkohol. Lot wird immer unselbständiger, seine Töchter dagegen müssen immer mehr Verantwortung übernehmen. Lot bindet Bekirah und Zeïrah immer enger an sich, obwohl sie doch längst hätten verheiratet sein sollen. Aber zur gleichen Zeit verschließen sich die Töchter auch immer mehr vor ihm. Sie leben so eng, zu eng zusammen, und leben doch wie auf verschiedenen Sternen. Vertrauen ist nicht mehr zwischen ihnen und dem Vater seit jener Katastrophennacht, seit der Vater sie freigeben wollte zur Vergewaltigung. Stattdessen sind die Töchter inzwischen einander nähergekommen.

Eines Tages denkt sich Bekirah: „Wir werden noch ohne Kinder sterben, wenn es so weitergeht. Und auch unser Vater Lot, er wird niemals Enkel und Urenkel haben, wenn er uns nicht frei gibt. Das ist ihm alles egal, wenn wir nur für ihn kochen und waschen. Es muss also etwas geschehen.”

31 Da sprach die ältere zu der jüngeren: Unser Vater ist alt, und kein Mann ist mehr im Lande, der zu uns eingehen könnte nach aller Welt Weise.

32 So komm, lass uns unserm Vater Wein zu trinken geben und uns zu ihm legen, dass wir uns Nachkommen schaffen von unserm Vater.

33 Da gaben sie ihrem Vater Wein zu trinken in derselben Nacht. Und die erste ging hinein und legte sich zu ihrem Vater; und er ward’s nicht gewahr, als sie sich legte noch als sie aufstand.

Wenn jemand diese Bibelstelle liest, dann in der Regel mit Entrüstung über die Töchter, die den Vater zum Beischlaf verführen. In die Entrüstung mischt sich oft auch Faszination am sündige Treiben, das manch ein Maler mit viel nacktem Fleisch auf die Leinwand gebracht hat. Aber bis vor kurzem achtet kaum jemand auf die Vorgeschichte. Was ist das für ein Vater, der seine elf oder zwölf Jahre alten Töchter einer wilden Meute von gierigen Männern auszuliefern bereit ist? Welcher Vater zieht sich in die Einsamkeit zurück ohne Rücksicht darauf, dass seine Töchter den Kontakt mit Gleichaltrigen brauchen und das Recht haben, eine eigene Familie zu gründen?

Tue ich dem biblischen Lot Unrecht, wenn ich ihn vergleiche mit Vätern unserer Zeit, die in ihrer Erziehungsaufgabe versagen und ihre Töchter ausnutzen für den eigenen Trost, weil sie sich einsam und unsicher fühlen? Deutlich ist, dass Lot einen Halt an den Töchtern sucht, obwohl er als Vater ihnen hätte Halt geben sollen. Da muss sich niemand wundern, dass die Töchter ihr Schicksal auf ihre Weise, so wie sie es von ihrem Vater gelernt haben, in die Hand nehmen – im Notfall sind alle Mittel recht. Wenn es dem Vater recht ist, die Töchter zu opfern, dann ist es den Töchtern billig, sich den Samen des Vaters lebendig zu machen, wie es in der hebräischen Sprache ausgedrückt wird.

34 Am Morgen sprach die ältere zu der jüngeren: Siehe, ich habe gestern bei meinem Vater gelegen. Lass uns ihm auch diese Nacht Wein zu trinken geben, dass du hineingehst und dich zu ihm legst, damit wir uns Nachkommen schaffen von unserm Vater.

35 Da gaben sie ihrem Vater auch diese Nacht Wein zu trinken. Und die jüngere machte sich auch auf und legte sich zu ihm; und er ward’s nicht gewahr, als sie sich legte noch als sie aufstand.

Die Geschichte, die wir heute hören, wird in grauer Vorzeit erzählt. Aber sie erzählt von Vorgängen, die es leider bis heute immer noch gibt. Es gibt Erwachsene, die ihre Kinder in schlimmer Weise ausnutzen, und das nicht erst, seit es die Kinderpornographie gibt. Früher haben die Betroffenen noch viel weniger als heute sich getraut, von ihren schrecklichen Erfahrungen zu erzählen, erst in den letzten Jahren hört man mehr über Mädchen, teilweise auch Jungen, die von Vätern, Stiefvätern, Verwandten oder Freunden der Familie in frühem Lebensalter missbraucht oder dem Missbrauch preisgegeben werden. Und wie in der Geschichte von Lots Töchtern stehen am Ende oft die Kinder als diejenigen da, die angeblich einen unschuldigen Erwachsenen verführen. In Wirklichkeit trägt immer der Erwachsene die Verantwortung für sein Verhalten. Was Bekirah und Zeïrah mit Lot machen, geht letzten Endes auf die mangelnde Verantwortung des Vaters für seine Töchter zurück. Eine jüdische Auslegung der Geschichte sagt über den Vater Lot: Als er herausfand, was ihm in der ersten Nacht passiert war, hätte er es auf keinen Fall noch ein zweites Mal zulassen dürfen, betrunken zu werden.

Eine Verurteilung der Töchter enthält die biblische Geschichte nicht. Sie handeln in ehrenhafter Absicht. Sie wollen ihrem Vater und sich selbst Nachkommen schaffen und kommen zum Ziel: sie werden zu Stamm-Müttern zweier Völker:

36 So wurden die beiden Töchter Lots schwanger von ihrem Vater.

37 Und die ältere gebar einen Sohn, den nannte sie Moab. Von dem kommen her die Moabiter bis auf den heutigen Tag.

38 Und die jüngere gebar auch einen Sohn, den nannte sie Ben-Ammi. Von dem kommen her die Ammoniter bis auf den heutigen Tag.

So endet die Geschichte, ohne dass Lot überhaupt noch einmal erwähnt wird. Er hat nicht als ein guter Vater gehandelt; das letzte Bild, das von ihm gemalt wird, ist das eines schwachen, dem Alkohol verfallenen Mannes, der seine Töchter unter den Zwang stellt, etwas zu tun, wovor sie sich mit Sicherheit ekeln, was sie nicht gerne tun, was sie aber meinen, tun zu müssen, damit die Familie nicht ausstirbt.

Und wo bleibt Gott in dieser Geschichte? Gott hat Lot gerettet in der Gestalt der beiden jungen Männer. Er hat ihn davor bewahrt, von den Männern Sodoms getötet zu werden. Er hat die Mädchen davor bewahrt, von den gleichen Männern vergewaltigt zu werden. Er hat Lot und die beiden Töchter vor dem Untergang in der Stadt Sodom beschützt und sie hinausgeführt. Aber er hindert die Töchter nicht daran, den Inzest mit dem Vater zu vollziehen.

Schwieriger ist die Frage zu beantworten: Wo ist Gott, wenn heutzutage hinter verschlossenen Türen Kinder dem Missbrauch preisgegeben sind? Die einzige Antwort, die mir dazu einfällt, ist: Er ist in diesen Kindern. Er leidet in diesen Kindern ihr Leid mit. In unseren geringsten Geschwistern begegnet uns Jesus. Können sie bei uns in der Kirche einen Ort finden, wo sie sich ein bisschen zu Hause fühlen, wo sie sich lösen können aus ihren Zwängen und Ängsten, wo sie sich vielleicht irgendwann einmal aussprechen können über das, was ihnen angetan wurde? Ich denke, das will Jesus von uns.

Jesus hat über Menschen, die Kinder für ihre eigenen Zwecke missbrauchen und verführen, so dass sie ihren Glauben, ihr Vertrauen und ihren Lebensmut verlieren, ein hartes Urteil gefällt. Wir haben es in der Lesung gehört und wiederholen es noch einmal. Jesus hat gesagt (Matthäus 18):

6 Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.

Dann rief er ein Kind zu sich, stellte es mitten unter sie und sagte:

3 Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.

Wir dürfen zu Gott kommen, mit dem Schmerz, den wir erlitten haben, mit allem, was wir tun mussten, um überleben zu können, auch wenn wir uns dafür schämen. Gott nimmt uns in Jesu Namen an – ihm sind wir recht als seine geliebten Kinder. Niemand darf uns auslachen oder zu Unrecht beschuldigen. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 237: Und suchst du meine Sünde, flieh ich von dir zu dir

Freundlicher, treuer, geduldiger, barmherziger Gott, du nimmst uns an, so wie wir sind. Mit Schuld und Scham, auch mit Dingen, die wir unter Zwang tun und nicht aus wirklich freiem Entschluss. Wir bitten dich, dass wir nicht aufgeben, nach Antworten zu suchen auf die Frage: warum tun wir manche Dinge immer wieder, obwohl wir es gar nicht wollen? Wir wissen: du hast uns trotzdem lieb. Du vergibst uns nicht nur unsere Schuld, die wir bereuen, du trägst nicht nur die Schuld der anderen, die wir uns zusätzlich aufladen, du trägst uns auch mit der Schuld, die wir immer wieder neu auf uns laden, weil wir nicht wissen, warum wir so handeln.

Gott, wir wissen oft nicht, was wir tun sollen, angesichts von so viel Leid, das hinter verschlossenen Türen in vielen Familien geschieht. Wir verstehen nicht, warum du keine Wege findest, all diesen Kindern zu helfen. Aber ich weiß auch, dass du vielen Betroffenen ein starker Helfer geworden bist, ohne den sie nicht überlebt hätten. Hab Dank dafür – und lass uns nicht wegsehen und weghören, wenn du unsere Aufmerksamkeit auf Menschen lenkst, die unsere Hilfe ganz dringend brauchen.

Gott, lass uns nicht allein! Sei mit uns, wenn wir uns freuen und wenn wir traurig sind. Sei mit uns, wenn wir Angst haben und wenn wir Schmerzen spüren. Lass uns nicht vergessen, dass wir deine Kinder sind und dass du uns lieb hast! Amen.

Was wir außerdem auf dem Herzen haben, vertrauen wir dir, Gott, in der Stille an.

Stille und Vater unser
Lied 631: In Gottes Namen wolln wir finden, was verloren ist
Abkündigungen

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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