Bild: Helmut Schütz

Religion – Religionskritik – Kritik der Religionskritik

Der Philosoph Odo Marquard verstand sich durchaus auch als religiöser Mensch. Eine Auswahl seiner Stellungnahmen zur Religion und ihrer Kritik, aber auch zur für ihn notwendigen Kritik der Religionskritik können dazu anregen, in seinen eigenen Schriften mehr zu diesem Thema zu erfahren. Die in Klammern angegebenen Stichworte verweisen auf die ausführlichen Literaturangaben in der chronologisch nach Jahreszahlen geordneten Bibliographie mit 103 Schriften von Odo Marquard.

 

Vernunft und Theologie
[W]omöglich mußte Vernunft vergessen, daß sie theologisch sein kann, weil Theologie vergaß, daß sie vernünftig sein sollte. (Kant, 1958, S. 79)

 

Kopf abnehmen?
Der Kopf optiert fürs Profane, wenn dem Menschen theologisch zugemutet wird, vor Gott auch den Kopf abzunehmen. (Kant, 1958, S. 82f.)

 

Spatz auf dem Dach
Die Taube auf dem Dach ist besser als der Spatz auf dem Dach. (Kant, 1958, S. 97)

 

Schöpfungstheologie als Blasphemie
[D]ie idealistische Wende fort von der philosophischen Schöpfungstheologie hin zur Autonomie-Position ist – im Gegensatz zur Meinung der Idealismuskritik – keine Abkehr von Gott, sondern (als Theodizee) die Abkehr einzig von jener verhüllten Weise der Blasphemie, die angesichts einer schlimmen Welt in der Aussage steckt, Gott habe sie geschaffen. (Theodizee, 1965, S. 59)

 

Atheismus ad maiorem gloriam Dei
[D]ie idealistische Autonomie-Position [ist] statt schlimm nur die vielleicht einzig aussichtsreiche Form der Theodizee. Sollte in dieser These Atheismus stecken: dann allenfalls ein ‚methodischer Atheismus ad maiorem gloriam Dei‛. (Theodizee, 1965, S. 65)

 

Entzauberung und Verinnerlichung
Je mehr die Welt entzaubert wird, desto mehr wird die Religion verinnerlicht… Je mehr die Religion verinnerlicht wird, desto mehr wird die Welt entzaubert… Die Ästhetik der romantischen Kunstform gehört zur Theorie dieser allgemeinen Geschichte der Verinnerlichung durch Entzauberung und Entzauberung durch Verinnerlichung. (Unbewußt, 1966, S. 38)

 

Gottwerdungsdruck
[Die Menschen] stehen… – sobald die Stelle Gottes vakant wird – unter Kandidaturzwang, unter Nachfolgezumutung, unter Gottwerdungsdruck. Darum obliegt ihnen ja nunmehr das, was vorher Gottes Sache war: alles zu machen. (Schicksal, 1976, S. 76)

 

Diabolisierter Gott
Die Erlösung heiligt – sie ent-übelt – den Sündenfall: dies liegt in der Konsequenz des Grundarguments der optimistischen Leibniztheodizee, der Verteidigung Gottes durch das Prinzip ‚Der Zweck heiligt die Mittel‘. Nur freilich: gerade dieses Prinzip ‚der Zweck heiligt die Mittel‘, das Gott als den guten bestätigen sollte, weckte Zweifel an seiner Güte. … Descartes methodisierte und Milton heroisierte den Diabolus; Leibniz hingegen – faktisch – diabolisierte Gott. (Felix culpa?, 1978, S. 56)

 

Entmythologisierung durch Monotheismus
Im Monotheismus negiert der eine Gott – eben durch seine Einzigkeit – die vielen Götter. Damit liquidiert er zugleich die vielen Geschichten dieser vielen Götter zugunsten der einzigen Geschichte, die nottut: der Heilsgeschichte; er entmythologisiert die Welt. Das geschieht epochal im Monotheismus der Bibel und des Christentums. Zwar pflegen hier die zuständigen Theologen – unter Hinweis etwa auf die Trinitätslehre – zu protestieren: das Christentum sei – anders als z. B. der Islam – gar kein „richtiger“ Monotheismus. Aber es genügt für den Zusammenhang, der hier beschäftigt, daß das Christentum jedenfalls „als“ Monotheismus „wirkte“. (Polytheismus 1, 1978, S. 100)

 

Integrierte Gesamtewigkeit
Das Individuum entsteht gegen den Monotheismus. Solange – im Polytheismus – viele Götter mächtig waren, hatte der Einzelne … ohne viel Aufhebens seinen Spielraum dadurch, daß er jedem Gott gegenüber immer gerade durch den Dienst für einen anderen entschuldigt und somit temperiert unerreichbar sein konnte: Es braucht ein gewisses Maß an Schlamperei, die durch die Kollision der regierenden Gewalten entsteht, um diesen Freiraum zu haben; ein Minimum an Chaos ist die Bedingung der Möglichkeit der Individualität. Sobald aber – im Monotheismus – nur mehr ein einziger Gott regiert mit einem einzigen Heilsplan, muß der Mensch in dessen totalen Dienst treten und total parieren; da muß er sich ausdrücklich als Einzelner konstituieren und sich die Innerlichkeit erschaffen, um hier standzuhalten; die Allmacht konterkariert er durch Ineffabilität. Darum hat nicht der Polytheismus den Einzelnen erfunden: er brauchte es nicht, weil noch kein Monotheismus da war, der den Einzelnen extrem bedrohte. Der Monotheismus seinerseits aber hat nicht selber den Einzelnen entdeckt, sondern er – freilich gerade er – hat die Entdeckung des Einzelnen nur provoziert, weil zuerst er – der Monotheismus – dem Einzelnen wirklich gefährlich wurde. Darum konnte erst nachmonotheistisch der Einzelne offen hervortreten und – unter der Bedingung des säkularisierten Polytheismus der Gewaltenteilung – erst modern die wirkliche Freiheit haben, ein Individuum zu sein. Diese Freiheit riskiert er, wo er sich – monomythisch – einer neuen Monopolgewalt unterwirft. Fasziniert durch den neuen Mythos der Alleingeschichte bleibt er dann auf jener Strecke, die nur vermeintlich die Strecke zum Himmel auf Erden ist, in Wirklichkeit aber die zur irdischen Identität von Himmel und Hölle: zur integrierten Gesamtewigkeit. (Polytheismus 1, 1978, S. 108f.)

 

Erlösungstat Gottes
Christlich gerät der Mensch gerade nicht unter absoluten Rechtfertigungsdruck, denn seine Rechtfertigung – die christlich nicht vom Menschen erwartet wird, weil dieser sie selber gar nicht leisten kann – ist je schon geschehen: durch die Erlösungstat Gottes per Christentum. (Angeklagt, 1978, S. 49)

 

Autobiographie statt Apologie
Nur deswegen konnte … die … antike Wurzel des Autobiographischen, das Bedürfnis der Apologie, seit Augustinus abgelöst werden von der Lizenz zum Bekenntnis der eigenen Bedürftigkeit und Besonderheit: erst christlich – im Schutz der Gnade – kann die Autobiographie der Tendenz nach aufrichtig und individualitätsfähig werden, weil erst dort – trotz der Sünde wegen der Rechtfertigungstat Gottes – dem Menschen geschenkt ist die sekundäre Rechtfertigungsunbedürftigkeit des Gnadenstands. (Angeklagt, 1978, S. 49f.)

 

Eschatologische Weltnegation
Der antike Ausschluß der Übel aus dem Vernünftigen durch ihre theoretische Veruneigentlichung zu Phänomenen einer – materiebedingt – ontologisch nichtigen Welt kümmert sich zu wenig darum, daß die Menschen diese Welt und ihre Übel praktisch leben müssen. Erst die christliche Heilsbotschaft nimmt das angemessen ernst, indem sie Erlösung von diesen Übeln verheißt durch den menschgewordenen Gott, der die vorhandene Übelwelt aufhebt zugunsten einer neuen heilen Welt. Und wo dabei nicht nur die Gründe für die Notwendigkeit der Erlösung, sondern auch die Gründe für ihre Verzögerung radikal benannt werden sollen: da kommt es zur Rede von einem bösen – dann auch erlösungswidersetzlichen, sozusagen reaktionären – Gott und seiner Schöpfung, mit der der Erlösergott Schluß machen muß: durch eschatologische Weltnegation. Diese eschatologische Weltnegation nicht zu wollen ist das Motiv der Neuzeit; es ist – wenn Hans Blumenberg recht hat – ein weltkonservatives Motiv. (Vernunft, 1981, S. 46)

 

Rechtfertigungsunbedürftigkeit
[D]as Ästhetische … wird – durch den Schritt vom Normativen zum Originellen – zum Refugium menschlicher Rechtfertigungsunbedürftigkeit: ein Kompensat der verlorenen Gnade. (Kunst, 1981, S. 119f.)

 

Kreuz-Auferstehungs-Motiv
Alle Formen der felix-culpa-Figur, darüber hinaus alle Formen konsolatorisch gelesener Kompensationsbefunde überhaupt – scheint mir Pannenberg zu meinen – werden tröstlich nur dann, wenn sie durch das Kreuz-Auferstehungs-Motiv gedeckt und getragen sind: … Auferstehung Christi. Alle Kompensationsgeschichten … sind eigentlich immer nur eine Geschichte: die Erlösungsgeschichte vom Tod und der Auferstehung des menschgewordenen Gottes. (Trost, 1981, S. 117f.)

 

Bonum-durch-malum
[Z]war – malum – wird der christliche Erlösungsglaube modern erschüttert; aber – bonum-durch-malum – gerade dadurch werden die modernen Menschen gezwungen zur Aufmerksamkeit auf den binnenweltlichen Reichtum vielgestaltiger bonum-durch-malum Geschichten. … [D]ie Tröstlichkeit des bonum-durch-malum-Gedankens wird zweifelhaft, wo er nicht mehr gedeckt ist durch religiöse Vorgaben. (Trost, 1981, S. 118)

 

Schwacher Trost
Und jedenfalls ist Skepsis angebracht: jeder Kompensationsgedanke – auch in der neuzeitlichen Form des bonum-durch-malum-Gedankens – ist dort, wo der Trost, den das Christentum anbietet, in der modernen Welt schwach geworden ist, seinerseits stets nur ein schwacher Trost. Dabei muß oder kann der Skeptiker – scheint mir – eins weiter gehen als der Theologe, indem er geltend macht: dieser Zweifel an den Kompensationen ist – angesichts der menschlichen Schwäche – keineswegs ein vernichtender Einspruch. Wenn Kompensationen … nur einen schwachen Trost bieten, so ist – für schwache Wesen – ein schwacher Trost immer noch besser als gar keiner. Die Menschen sind – als bedürftig Lebendige – ontologisch nicht so gestellt, daß sie auf ihn verzichten könnten: der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach auch dann, wenn diese Taube den heiligen Geist symbolisiert. … Ich räume gern ein, daß es in der Konsequenz dieser Überlegung liegt, auch den neuzeitlich schwach gewordenen Trost des christlichen Erlösungsglaubens als solch einen schwachen Trost anzusehen, den einfachhin auszuschlagen – angesichts der menschlichen Bedürftigkeit – leichtfertig wäre: zweifellos gibt es Situationen, in denen die Taube auf dem Dach – sozusagen – der einzige Spatz ist, den man noch in der Hand hat. Es gehört zum Schicksal der Skeptiker, daß gerade sie disponiert sind zur Respektierung der Unvermeidlichkeit des Religiösen. (Trost, 1981, S. 119)

 

Singularisierende und pluralisierende Hermeneutik
Man könnte – zumindest dort, wo es um Geschichten geht, zu denen auch die heiligen Geschichten gehören – unterscheiden zwischen   Hermeneutik. Jene entdeckt in allen vielgestaltigen Geschichten stets nur die eine einzige und selbe; diese findet in jeder einzelnen – und vielleicht dem Anspruch nach einzigen – Geschichte stets noch viele weitere und immer wieder andere Geschichten. Beide Weisen der Hermeneutik leben davon, daß sie eine eigentliche Lesung von der uneigentlichen unterscheiden: „Geist“ und „Buchstabe“ (vgl. 2. Kor. 3, 6), oder wie immer die Opposition vom Dienst sich hier nennt… Jene – die singularisierende Hermeneutik – ruft die Vielgestaltigkeit der buchstäblichen Geschichten zur Ordnung des einen und einzigen Sinnes und Geistes; diese – die pluralisierende Hermeneutik – findet in der einen und selben buchstäblichen Gestalt viele Sinnmöglichkeiten und verschiedenartigsten Geist. Jene gehört zur schweren Phase der institutionellen Etablierung von Religionen; diese gehört zur nicht minder schweren Phase der Liberalisierung von Religionen. Jene – die singularisierende Feststellung einer einzigen verbindlichen Lesung – ist nötig, wo Orthodoxie gegen Heterodoxie und Häresie gesichert werden muß; diese – die Eröffnung verschiedenster Lesungsmöglichkeiten – ist nötig, wo man Tödlichkeitsfolgen des Streits um die verbindliche Lesung ausweichen muß: darum ist – in der Geschichte der christlichen Theologie und der ihr verbundenen Philosophie und Jurisprudenz – der Kenterpunkt zwischen der Dominanz des singularisierenden und der Dominanz des pluralisierenden Verfahrens das Zeitalter der Glaubenskämpfe: es ist der Augenblick des repräsentativen Funktionswandels der Differenz von Geist und Buchstabe. Vorher dominiert – hermeneutisch – die Erfahrung, daß vielgestaltiger Buchstabe einerlei Geist haben kann und muß; nachher dominiert – hermeneutisch – die umgekehrte Erfahrung, daß einerlei Buchstabe vielerlei Geist haben kann und soll. Vielleicht kann man – grob typisierend – sagen: exemplarischer Exponent der singularisierenden Hermeneutik ist das kirchliche Lehramt; exemplarischer Exponent der singularisierenden Hermeneutik ist das unendliche Gespräch; zu jenem gehört die Dogmatisierung; zu diesem gehört die Interpretation. (Trost, 1981, S. 120)

 

Als ob
[A]uch Kants „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ [scheinen] Als-obs zu sein: handlungsdienliche Fiktionen. … wir müssen … handeln, „als ob“ Gott existierte; denn: wir müssen Gott postulieren, um zuversichtlich bleiben zu können, daß über Folgen und Nebenfolgen des sittlich unbedingten Handelns hinweg ein guter Ausgang der Dinge sich herstellt. Wo die Gesinnungsethik auf Kosten der Verantwortungsethik regiert, kann nur noch Gott helfen: darum muß er notfalls fingiert werden; in diesem Sinne braucht auch gerade der autonome Mensch Religion. (Antifiktion, 1983, S. 85)

 

Jenseitsgott
[Julius Harms meint], es habe das … paulinische „ ‚haben als hätte man nicht‘ dem“ – angeblich Leibnizschen – „ ‚etsi deus non daretur‘ längst sachlich vorgearbeitet“…; und Kants scheinbare postulatorische Umkehrung dieser Formel in ein „als ob Gott gegeben sei“ … sei dann in Wahrheit die Radikalisierung dieser fiktionalistischen Reduktionsposition: Gott werde bei Kant … so sehr zum bloßen „Hilfsgedanken“ „ohne Realität“ … entlebendigt und entwirklicht …, daß auch in der Folge … Gott nur noch als weltfremder Jenseitsgott sich blicken lassen darf…: vom „hos mä“ über das „etsi non“ zum „als-ob“ läuft nach Harms die Linie einer falschen Theologie. (Antifiktion, 1983, S. 85)

 

Gottvernichtung
Wo Gott zu ihrem Heil die Welt vernichtet, mußte man – diese Vernichtung erwartend und vorwegnehmen – schon so tun, als ob die Welt nicht sei; wo aber die Welt – gegen die eschatologische Weltvernichtung – festgehalten und bewahrt werden soll, muß man im Gegenteil so tun, als ob ihr Vernichter – Gott – nicht sei… (Antifiktion, 1983, S. 87)

 

Werkgerechtigkeit
Man kann – für jene Gegenden, in denen seit 1750 die philosophische Ästhetik erfunden wurde – … [die] ästhetische Emphatisierung des Kunstwerks (unter anderem) verstehen als Rettung der Werkgerechtigkeit unter Bedingungen des Protestantismus… Dabei wurden die guten Werke – alsbald ihrerseits gratial interpretiert als Werke des durch die „Naturgnade“ des „Genies“ „begnadeten Künstlers“ mit dem Pensum menschlicher Selbsterlösung durch Kunst – nun zu schönen Werken, eben zu Kunstwerken: zu guten Werken der schönen Künste und schließlich auch – in der weiteren Entwicklung – der „nicht mehr schönen Künste“: der erhabenen, sentimentalischen, interessanten, romantischen, dionysischen, avantgardistischen Kunst und Antikunst. (Gesamtkunstwerk, 1983, S. 100)

 

Gottes Es
Richard Wagner suchte … ein theatralisches Bündnis der Kunst mit dem Kult. … Dabei nimmt – scheint mir – Wagner unbewußt Schellings weltalterphilosophischen Mythos auf von dem Gott, dessen Ich es mit seinem Es so schwer hat, daß ihm der – dabei autonom werdende – Mensch bei seiner Erlösung helfen muß… (Gesamtkunstwerk, 1983, S. 107)

 

Ein-samkeit als Eins-sein
„Einsamkeit“ … [war in der mittelalterlichen Mystik] überhaupt kein Wort für das Solitäre und Isolierte, sondern die deutsche Übersetzung von unio im Sinne von unio mystica, der mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott: ihre Ein-samkeit war ihr Eins-sein als intensivste Form ihrer Kommunikation. (Einsamkeitsfähigkeit, 1983, S. 116)

 

Taube auf dem Dach als Spatz in der Hand
Zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehört – auch und vielleicht unvermeidlicherweise – Religion: Gott ist – für den Religiösen – der, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist. Der Nichtreligiöse glaubt, daß das nicht ausreicht: kommunikativ scheint ihm der profane Spatz in der Hand besser als die Taube auf dem Dach auch dann, wenn diese Taube den Heiligen Geist symbolisiert. Aber Menschen – sterblichkeitsbedingt einsame Lebewesen – sind seinsmäßig nicht so gestellt, daß sie es sich leisten könnten, auf solchen Trost leichtfertig zu verzichten: den zweifellos gibt es Einsamkeitssituationen, in denen die Taube auf dem Dach – sozusagen – der einzige Spatz ist, den man noch in der Hand hat. (Einsamkeitsfähigkeit, 1983, S. 121f.)

 

Neuzeitlichkeit der Theodizee
Zwar scheint die Frage nach der gerechten Güte Gottes angesichts der Übel der von ihm geschaffenen Welt uralt… Dennoch behaupte ich – auch in der Meinung, daß ihre Frage überall früher, d. h. vorneuzeitlich, durch intakte Religion entschärft war – die spezifische Neuzeitlichkeit der Theodizee: wo Theodizee ist, ist Neuzeit; wo Neuzeit ist, ist Theodizee. (Entlastungen, 1983, S. 14)

 

Zeitalter der Distanz
Die Lebenserfahrung scheint mir zu zeigen: vor Ort des Leidens, unter seinem unmittelbaren Druck, ist das Problem niemals die Theodizee; denn wichtig ist dort allein das Stehvermögen bei passio und Sympathie, die Kondition beim Aushalten, Helfen und Trösten. Wie erreiche ich das nächste Jahr, den nächsten Tag, die nächste Stunde? Angesichts dieser Frage ist die Theodizee kein Thema; denn ein Bissen Brot, eine Atempause, ein Minimum an Linderung, ein Augenblick Schlaf sind dort stets wichtiger als Anklage und Verteidigung Gottes. Erst wo der direkte Leidens- und Mitleidensdruck nachläßt – unter Bedingungen der Distanz – kommt es zur Theodizee: darum repräsentativ in der Neuzeit. Denn die Neuzeit ist das Zeitalter der Distanz: die erste Epoche, in der für die Menschen Ohnmacht und Leiden nicht mehr das Selbstverständliche und Normale sind. Jetzt – erstmalig – scheint die Not grundsätzlich beherrschbar, der Schmerz grundsätzlich ersparbar, die Krankheit grundsätzlich besiegbar, das Böse grundsätzlich abschaffbar, die endlichkeitsbedingte Ohnmacht des Menschen grundsätzlich überspielbar. Weil die Übel unselbstverständlich werden, braucht man (scheint es) Gott immer weniger als Erlöser und kann ihn darum nunmehr – in der Neuzeit: dem Zeitalter der Distanz – formvollendet als Schöpfer zur Rechenschaft ziehen: durch die Theodizee. Das schließt Diskussionsheftigkeit nicht aus, denn es regiert das Gesetz der zunehmenden Penetranz der Reste: je mehr Negatives getilgt wird, um so ärgerlicher wird – gerade, wenn es sich vermindert – das Negative, das übrigbleibt. (Entlastungen, 1983, S. 14f.)

 

Gotteserlöser
„[D]ie einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt“ sagt Stendhal. Schelling – der spätere – hatte zuvor noch eine andere Entschuldigung gesucht: Gottes Ich hat es mit Gottes Es so schwer, daß Gott dadurch – in seiner Allmacht gebremst – das Böse nicht verhindern kann und zugleich den Menschen indirekt zur Autonomie ermächtigt, wobei der Mensch in die Rolle des Gotteserlösers gerät. (Entlastungen, 1983, S. 19f.)

 

Sinnverwöhnung durch Heil statt Glück
Zwar halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß unser heutiges Bedürfnis nach Verwöhnung mit Sinn durch das Christentum gefördert wurde: nämlich – als der Sinn als Glück durch den Sinn als Heil nicht so sehr pseudonymisiert als vielmehr überboten wurde – durch die christliche Gewißheit über Gottes Zusage an die Menschen, nicht mehr nur – wie im griechischen Falle des Glücks – bei einer endlichen Partie (bei der Polis, beim Einzelnen) auf endliche Weise, sondern nun – im christlichen Falle des Heils – bei einer absoluten Partie (der Partie Gottes) auf absolute Weise mit von der Partie zu sein: das ist schon ein Sinnquantum, durch das man in Dingen Sinn verwöhnt werden kann. Doch muß man … unterscheiden: nicht das Christentum hat diese absolute Sinnpartie zur direkten Sinnintention stilisiert, sondern … die – am konsequentesten von Marcion vertretene – gnostisch-eschatologische Version, die durch Positivierung der Weltfremdheit mittels Negativierung der vorhandenen Welt für eine ganz andere und ganz neue Welt optierte und darum – eschatologisch – für das Ende der vorhandenen Welt eintrat, so sehr, daß sie auch das Ende ihres Schöpfergottes – was man also heute den Tod Gottes nennt – wollte durch einen Gegengott der ausschließlichen Erlösung: der Erlösung des Menschen zur einer Lage, in der das gelingt, was in der vorhandenen Welt nicht gelingen kann: die Lebenserfüllung durch direkte Sinnintention… (Sinnerwartung, 1983, S. 45)

 

Subsidiär geregelte Lebenssinnfrage
Die Antwort auf die Frage von Camus, „ob das Leben lohne“, also die Antwort auf die Lebenssinnfrage, hängt mehr an den nächsten Dingen als an den letzten. (Religiös könnte man sagen: Gott hat sie subsidiär geregelt.) (Sinnerwartung, 1983, S. 50)

 

In dubio pro vita
Es ist unser Leben – in einer sehr unprinzipiellen, bescheidenen, kontingenten, unsensationellen Weise – sinnvoll: es hat nämlich Sinn – es lohnt -, weil es nicht erwiesenermaßen sinnlos ist: in dubio pro vita. Das ist so, weil unser Tod schnell ist: eben darum hat er stets hervorragende Chancen, auf der Rennstrecke, die unser Leben ist, den Wettlauf mit der prinzipiellen Verzweiflung zu gewinnen. Was darüber hinaus – etwa durch Rekurs auf Religiöses – zum Sinn des Lebens zu sagen sein könnte: das zu sagen ist (meine ich) nicht Sache des Philosophen, jedenfalls nicht des Skeptikers, der dazu keine Vollmacht hat. (Sinnerwartung, 1983, S. 52f.)

 

Kapitalismus
[I]st der Kapitalismus die Rache der protestantisch vertriebenen „Werkgerechtigkeit“ an ihrer Vertreibung? (Polytheismus 2, 1984, S. 77, Anmerkung 5 zu „säkularisierte Askeserationalität“)

 

Politische Theologie
[D]ie moderne Geschichtsphilosophie und ihre Revolutionen sind nicht die eigentliche Neuzeit, sondern – als Regression in die biblische Eschatologie – deren datierungsmäßig neuzeitliche Negation: die Gegenneuzeit. … [D]ie revolutionäre Geschichtsphilosophie ist die mißlungene Säkularisierung der biblischen Eschatologie und darum „politische Theologie“. (Polytheismus 2, 1984, S. 80)

 

Theologisches Trauma
Die Neuzeit ist theologisch provoziert, erzwungen; aber das Theologische – das Motiv der eschatologischen Weltvernichtung – wirkt nicht direkt, als Position, sondern indirekt, als Trauma: wo Gott zum Weltvernichter wird, muß die Welt ohne ihn und gegen ihn (außertheologisch, theologieneutral oder gegentheologisch) bewahrt werden: zu diesem Zweck mußten die Menschen die Neuzeit erfinden, das Zeitalter der Neutralisierung der – aus der Bibel kommenden – Eschatologie. (Polytheismus 2, 1984, S. 81)

 

Umgang mit dem Zufall
Sicher gehört zum Umgang mit dem Beliebigkeitszufälligen die Kunst: die Beliebigkeitsersparung durch Form; und sicher gehört zum Umgang mit dem Schicksalszufälligen die Religion: die Verwandlung von Grenzsituationen in Routinen. (Zufällig, 1984, S. 130)

 

Kunst als Gnadenstand
[D]ie Ästhetisierung der Kunst kompensiert – als ästhetisches Festhalten der Kunst gegen ihr Ende – den eschatologischen Weltverlust… sie ist Entlastung vom Weltgericht und insofern profan in etwa das, was christlich die göttliche Gnade war: ein Gnadenstand unter Bedingungen der nicht mehr eschatologischen Welt. (Aesthetika, 1986, S. 13f.)

 

Gewimmel vieler Werke
[D]ie Ästhetisierung der Kunst ist – die spezifisch moderne – Rettung der Werkgerechtigkeit unter Bedingungen des (lutherischen) Protestantismus… Im Gebiet des Katholizismus brauchte die Werkgerechtigkeit nicht gerettet zu werden; im protestantisch reformierten Gebiet – vor allem im Calvinismus – rettete sich die Werkgerechtigkeit auf komplizierte Weise in die „innerweltliche Askese“ des Kapitalismus (Max Weber). Wo beide Wege zunächst nicht offenstanden – also im Terrain des lutherischen Protestantismus – mußte das Ästhetische ausdrücklich erfunden werden, um die Heilsrelevanz der guten Werke zu bewahren… Durch die Ästhetisierung der Kunst wurden – gerade und nur modern – die „guten Werke“ säkularisiert zu guten „schönen Werken“: zu ästhetischen Kunstwerken. …Werkgerechtigkeit: das meint die Ermunterung vieler Werke, die – flankierend zur Erlösung – einige „Gerechtigkeit“ d. h. Erlösung bringen, sozusagen die kleine – die menschenmögliche – Erlösung. So ist auch die säkularisierte Werkgerechtigkeit – die Fülle der ästhetischen Werke – das Gewimmel vieler Werke… (Aesthetika, 1986, S. 14f.)

 

Gott die Ehre geben
Feste zu feiern ist menschlich; und ich glaube, es ist nur menschlich. Weder Sterne, Meere, Steine, Feuersbrünste noch Pflanzen noch Tiere feiern Feste. Zwar gibt es auch Menschen, die ungern Feste feiern: etwa Festmuffel, wie ich einer bin. Aber selbst diese feierschwachen Menschen können – und ich sage das aus eigener Erfahrung des Widerstrebens – gar nicht umhin, die stets nötigen und unentwegt wiederkehrenden menschlichen Feste mitzufeiern: Willkommen zu sagen zu Menschen, wenn sie geboren sind; Abschied zu nehmen von Menschen, wenn sie gestorben sind; gute Wünsche zu sagen an Menschen, wenn sie – durch Heirat oder berufliche oder politische Entscheidungen – Wichtiges vorhaben; Dank zu sagen für das, was gut und zugleich nicht selbstverständlich war; und schließlich dabei allüberall Gott die Ehre zu geben oder – hilfsweise – seinen Surrogaten, auf die Menschen offenbar nicht verzichten können, sobald sie auf Gott verzichten wollen. Die Menschen sind – unvermeidlich – feiernde und also festliche Lebewesen. (Moratorium, 1987, S. 59f.)

 

Alltag und Sonntag
Wer sich mit seinem Alltag versöhnt, und wer sich durch den Sonntag – durch die Vielheit und Buntheit der Feste – mit seinem Alltag versöhnt, braucht jenes „Moratorium des Alltags“ nicht, das der große Ausstieg in den Ausnahmezustand ist: vom „alternativen Leben“ bis zum Krieg. (Moratorium, 1987, S. 67)

 

Fromme Feste
Die genießenden Menschen amüsieren sich beim Fest; die praktischen Menschen machen – beim festumgebenden Rummel – ihre Geschäfte; die frommen und beschaulichen Menschen aber begehen das Fest, wie es – die anderen Formen des Feierns mit ermöglichend – zentral gemeint ist: beschaulich, bittend und dankend, betend. (Moratorium, 1987, S. 68f.)

 

Torheit
Am Anfang der Philosophie bis ins Mittelalter hinein war es so: die eigentliche Weisheit gehört Gott; die Philosophie erfüllt die Liebe zur Weisheit, indem sie den Menschen möglichst weitgehend an Gott angleicht… Dagegen sieht es heute so aus: die eigentliche Weisheit gehört demjenigen Menschen, der um das menschliche Nichtwissen weiß; die Philosophie erfüllt die Liebe zur Weisheit, indem sie den Menschen möglichst menschlich sein läßt, einschließlich des Allzumenschlichen, und zwar durch die Skepsis auch noch gegenüber der Philosophie. Dabei wird diese heutige, diese moderne Tradition des Weisheitsverständnisses … durch das Christentum zur Dominanz gezwungen, weil das Christentum … den Abstand zwischen Gott und Mensch betont und die Weisheit der Welt zur Torheit erklärt …; darum kann fortan … nur noch derjenige der Weise sein und philosophisch zur Weisheit streben, der die Torheit seiner Weisheit mit erkennt: also … der skeptische Moralist und der, der ihm gegenwärtig entspricht, etwa auch der Transzendentalbelletrist. (Weisheit, 1988, S. 100f.)

 

Vorläufige Welt
Die christliche Philosophie relativiert das Unglück durch „eschatologische Negation“: jene Welt mit Unglück, in der wir leben müssen, ist nicht die endgültige, sondern die vorläufige Welt… (Weisheit, 1988, S. 104)

 

Leben mit dem Unglück
[M]an muß wohl – wenn die Philosophie und insbesondere ihre Ethik auch heute noch Liebe zur Weisheit sein soll – das Thema „Glück“ in die Philosophie zurückholen; doch man kann das nur, wenn man zugleich auch das Thema „Unglück“ in die Philosophie zurückholt, und zwar nicht nur als Frage nach praktischen Verfahren zur Vermeidung des Unglücks, sondern auch als die Frage: Wie leben mit dem Unglück, wenn man es nicht vermeiden kann? Hier werden für die Philosophie Bündnisse nötig sein: z. B. mit der Religion. (Weisheit, 1988, S. 105)

Mehrkonfessionalität
[V]ielleicht darf man sagen: die neuzeitliche Mehrkonfessionalität des Christentums ist eine Fortsetzung des Polytheismus unter streng monotheistischen Bedingungen und als solche individualitäts- und liberalitätsproduktiv… (Gewaltenteilung, 1988, S. 84)

 

Individuum
Das Individuum und die menschliche Freiheit – die polytheistisch latent blieben – mußten gegen den Monotheismus erfunden, etabliert, zum Erfolg gebracht werden (indem der eine Gott selber gewaltenteilig wurde): der Monotheismus hat mit der Freiheit auch das Individuum gezwungen, aus Notwehr gegen den Monotheismus manifeste Wirklichkeit zu werden. (Gewaltenteilung, 1988, S. 85)

 

Predigt als Reduktion von Informationskomplexität
Informationskomplexität wird reduziert durch Rekurs auf Mündlichkeit. Das ist … kein neuer Analphabetismus, sondern die alte Kunst des langsamen Menschen, mit Informationsüberflutung fertig zu werden. … Die gottesdienstliche Zentralisierung der Predigt durch die Reformation war, zumindest auch, die Antwort auf die Informationsüberlastung durch den beginnenden Buchdruck. (Herkunft 1, 1988, S. 77)

 

Romantik des Ausnahmezustands
Wegen des Mangels an Sinn für Ausnahmezustand und „Dezision“ kritisierte er [Carl Schmitt] den Liberalismus, das Bürgertum als „diskutierende Klasse“, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1929) und die moderne Welt. Er hat die bürgerliche Welt zutreffend als „das Zeitalter der Neutralisierungen“ (von Ausnahmezuständen) beschrieben; er hat dabei nur vergessen, sie in genau dieser Eigenschaft zu bejahen. Denn ihm war „die Ausnahme wichtiger … als die Regel“. Er erlag der Romantik des Ausnahmezustands, wobei er sich auch auf Sören Kierkegaard berief und berufen konnte. Darum war es außer Carl Schmitt nicht nur Ernst Jünger, der den Ausnahmezustand … feierte, waren es nicht nur die Vertreter der „konservativen Revolution“ und die Marxisten, die den Ausnahmezustand – als Revolution – fundamentalisierten, sondern auch jene Theologen, für die – wie für Kierkegaard – Gott den Menschen nur im Ausnahmezustand („senkrecht von oben“) begegnet: Also die – schon genannten – dialektischen Theologen um Karl Barth und die religiösen Sozialisten um Paul Tillich, der – gegen den „Geist der bürgerlichen Gesellschaft“ – den Ausnahmezustand als Kairos (1926) verkündigte: … „Kairos“ als „Geschichte ist, so Entscheidung ist …, die konkret ist und doch in die Tiefe des Unbedingten reicht“. (Weimarer Republik, 1989, S. 139)

 

Fristcharakter der Zeit
Erst wo sie ihre eschatologische Finalität als Heilszeit – als befristeter Weg zum erlösenden Ende, als Frist zum Heil – verliert, kann die Weltzeit zu jener – wie Metz sagt – ziellos „offenen“ und „evolutionär entfristeten Zeit“ werden, die die moderne – physikalisch orientierte – Kosmologie geltend macht: Die Objektivierung und Entgrenzung der Weltzeit lebt von der Entfristung der Heilszeit, natürlich auch von der Entfristung ihrer modern säkularisierten Surrogate: etwa von der Selbstzerstörung der finalisierenden Geschichtsphilosophien, zu denen der Marxismus gehört. … Diese These von Johann Baptist Metz … scheint mir wahr zu sein, aber nicht die ganze Wahrheit. … Gerade die moderne Entdeckung der entfristeten, der „offenen“ Weltzeit bringt den Fristcharakter der Zeit nicht etwa zum Verschwinden, sondern – im Gegenteil – gerade sie radikalisiert zugleich diesen Fristcharakter, indem sie ihn nun ganz und gar auf jene Zeit verlagert und konzentriert, die für uns Menschen am unvermeidlichsten Frist ist: die endliche Lebenszeit unseres eigenen Lebens, das also, was Blumenberg als jene „Episode“ charakterisiert, die jeder von uns ist. (Zeit und Endlichkeit, 1991, S. 46)

 

Gute Werke der schönen Kunst
Je mehr der monotheistische Gott der Bibel zum transzendenten Gott wird, um so mehr wird die Welt profan. Sie wird religiös „entzaubert“ und kann nun gerade dadurch zum Platz für profane – etwa ästhetische – Faszination werden. Die religiös entweltlichte Schönheit muß in der Welt nun ästhetisch festgehalten werden. Weil die moderne Welt – durch experimentelle Wissenschaft und Technik – immer künstlicher wird, muß fortan auch das Schöne künstlich bewahrt werden: eben durch die ästhetische Kunst. Hinzu kommt der theologische Angriff auf die erlösende Kraft guter Werke. Darum retten sich die guten Werke ins Außertheologische: als gute Werke der schönen Kunst, als ästhetische Kunstwerke, so daß in gewisser Hinsicht gelten mag: das Ästhetische entwickelt sich spezifisch modern als die Fortsetzung der Werkgerechtigkeit unter Bedingungen ihrer reformatorischen Negation. (Repräsentation, 1993, S. 27f.)

 

Theodizee gelungen, Gott tot
Warum – wenn er doch keine übelfrei gute Welt schaffen konnte – hat Gott das Schaffen nicht bleibenlassen? Der transzendentale Idealismus – dessen Radikalform Fichtes frühe Wissenschaftslehre war – reüssierte m. E. vor allem auch deswegen, weil er die konsequenteste Antwort auf diese Frage war und damit die konsequenteste Theodizee: Gott ‚hat‘ das Schaffen bleibenlassen, denn nicht Gott hat die Welt geschaffen, sondern der Mensch, das Ich, wobei man eben sehen muß, was diese radikale Antwort ist: eine Theodizee, also angesichts der Übel in der Welt eine Entlastung Gottes. Fichtes These von der Weltschöpferschaft des Ich ist eine Gottesentlastungsthese: durch sie wird Gott die Schöpfermacht nicht geraubt, sondern erspart, und das geht nur, indem das Ich mit ihr belastet wird. … Theodizee durch Autonomie… mit dem Ergebnis: Theodizee gelungen, Gott tot. (Ehrenpromotion, 1994, S. 152)

 

Natur in Gott
Die Frage nach der Freiheit und dem Bösen – das Theodizeeproblem – ist schwierig für alle philosophischen Systeme. Lösen – meint Schelling – kann man dieses Problem nur, wenn man das ernst nimmt, was die bisherige Philosophie, insbesondere die neuere, nicht ernstgenommen hat: nämlich die Natur. … Man muß den Unterschied von „Grund“ und „Existenz“ beachten… Und man muß diesen Unterschied auch und gerade für Gott ansetzen durch die These: es gibt etwas in Gott selbst, das nicht Gott selbst ist, nämlich die „Natur in Gott“, die zugleich identisch mit Gott und – als „Grund“ in ihm – different von ihm, dem „Er selbst der Existierende“, ist. Dieser Grund in Gott ist – seinem Charakter nach in etwa „der Materie des Platon gleich“ – das Dunkle, Begierde, Wille, Sehnsucht in Gott: eben die Natur in Gott, aus der – durch Ein-Bildung des Verstandes in diese Natur – Gott als Geist, der er noch nicht ist, erst werden muß durch „stufenweise geschehende Entfaltung“. Diese stufenweise Entfaltung Gottes – seine Offenbarung – auf der Strecke seines Noch-nicht – wo er nicht mehr gar nicht Er selbst und noch nicht ganz Er selbst ist – ist die Kreatur einschließlich ihrer höchsten Möglichkeit, des Menschen. Indem Kreatur und Mensch mit der „Natur in Gott“ teilweise identisch sind, kann sie – durch Eigenwillen – widersetzlich sein gegen Gott: im Menschen also „böse“. Durch teilweise Identität mit Gottes Geist – also durch das, was im Verstande vorgebildet ist – kann die Kreatur, zuhöchst der Mensch, Gott offenbaren: im Menschen also „gut“ sein. So – meint Schelling – ist das Böse und das Gute möglich: solange bei dieser creatio e natura in Deum Gott durch die Natur in Gott bei seiner Gottwerdung gehemmt ist, der Mensch diese Gottwerdung Gottes widerspenstig („böse“) aufhalten oder zuträglich („gut“) befördern kann, ist – meint Schelling – Gutes und Böses möglich. Schluß der Passage. (Gott, 1995, S. 56f.)

 

Allmachtsgrenze: vor – neben – in Gott
Ich möchte zum Zwecke seiner Interpretation diesen Lösungsansatz einordnen in eine – grob schematische – Sequenz der philosophischen Lösungsversuche der Theodizee, die alle – das ist meine Grundthese – (angesichts der am klarsten in De ira Dei von Laktanz in seinem Epikurreferat aufgelisteten Theodizeeschwierigkeiten bei der Frage „si Deus, unde malum?“) darin bestehen, daß sie Gottes Allmacht entmächtigen, d. h. einschränken, und darum alle eine Allmachtsgrenze Gottes benennen. …
Da ist
a) der antike Ansatz. Die Allmachtsgrenze ist vor Gott. Die Übel, die Leiden, das Böse werden veruneigentlicht: sie gehören nicht zur eigentlichen Wirklichkeit. Es gibt die Übel, das Leiden, das Böse: doch Gott ist gut; denn: er konnte nicht anders, als die Übel, das Leiden, das Böse zuzulassen; er hat nämlich … nicht aus Nichts geschaffen, sondern aus Materie: daß die Materie vorgegeben ist, ist – als Grenze seiner Allmacht – das Alibi Gottes. Ohne Gott wäre nur das Chaos; durch Gott kommt es zur bestmöglichen Ordnung, die die Übel (das Böse) mindert. Dadurch ist Gott gerechtfertigt: seine Leistung ist, „to make the best of it“. – Da ist:
b) der christliche Ansatz. Die Allmachtsgrenze ist neben Gott. Die Übel, die Leiden, das Böse werden moralisiert: sie kommen – durch menschliche Schuld und als Strafe – von der Sünde. Es gibt die Übel, die Leiden, das Böse: doch Gott ist gut; denn: er konnte nicht anders, als die Übel, die Leiden, das Böse zuzulassen. Seiner Erlösung – vgl. Markion – und seiner Schöpfung – vgl. Augustinus – tritt nämlich ein Gegengott entgegen: der böse Schöpfergott oder der – wie Gott sein wollende – frei sündigende Mensch. Gegengott und menschliche Freiheit sind – als Funktionsnachfolger der antiken Materie – die Allmachtsgrenze Gottes: das Alibi Gottes. Zugleich beantwortet Gott die sündenbedingte Korruption der Schöpfung mit der Erlösung durch Christus. Dadurch ist Gott gerechtfertigt: seine Leistung ist, „to make the best of it“. – Da ist:
c) der neuzeitliche ausdrückliche Theodizeeansatz. Die Allmachtsgrenze ist in Gott. Die Übel, die Leiden, das Böse werden instrumentalisiert: sie – die modern nicht mehr veruneigentlicht und nicht mehr umfassend moralisiert werden können, denn es gibt neben dem „malum morale“ (darauf nicht rückführbar) das „malum physicum“ (das Leiden) und das „malum metaphysicum“ (die Endlichkeit) – werden Mittel zum Zweck der bestmöglichen Schöpfung (Leibniz) und der „Gottheit Gottes“ (Schelling). Es gibt die Übel, die Leiden, das Böse: doch Gott ist gut; denn: er konnte nicht anders, als die Übel, das Leiden, das Böse zuzulassen, und zwar wegen einer Allmachtsgrenze in Gott selber. Die Vernunft des göttlichen Verantwortungsschöpfers muß – durch eine grenznutzenbewußte Optimierungskalkulation – beim Schaffen die Sachzwänge der Kompossibilitäten respektieren (Leibniz). Und in Schellings Freiheitsschrift ist es so: Gott selbst („Existenz“) hat es mit dem „Grund“ in Gott, der Natur in Gott so schwer, daß durch dieses Schwerhaben Gott die Möglichkeit des Bösen eröffnen muß. Anders und quasi psychoanalytisch gesagt: Gottes Ich hat es mit Gottes Es („Grund in Gott“) so schwer, daß er die korrumpierbare Welt und den Menschen mit seiner Freiheit zum Bösen und Guten braucht, um mit sich selber fertig, d. h. Gott zu werden. Das Alibi Gottes ist jetzt die Grenze seiner Allmacht in ihm selber: seine Vernunft oder sein Es. Dadurch ist Gott gerechtfertigt: seine Leistung ist, „to make the best of it“. (Gott, 1995, S. 57ff.)

 

Atheismus
Dabei hängt am Gelingen dieser Schelling-Form der Theodizee nicht wenig; denn sie ist die – vielleicht einzig aussichtsreiche – Möglichkeit, den dominierenden Trend der Theodizee in der Neuzeit zu vermeiden: die Theodizee durch den Atheismus einer extrem autonomistischen Position. … Gottes Allmacht wird so sehr eingeschränkt, daß der Ohnmachtsgrenzfall seiner Nichtexistenz eintritt; denn, wie Stendhal sagte: „Die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt.“ … Dahin wollte der spätere Schelling gerade nicht: darum hat er in der Freiheitsschrift seinen Versuch unternommen einer Theodizee durch Annahme einer „Natur in Gott“, die wir hier interpretieren. (Gott, 1995, S. 59)

 

Philosoph als religiöser Schriftsteller
[E]in Philosoph, der nicht … irgendwie „religiöser Schriftsteller“ ist, [verzichtet] auf philosophische Fragen…, auf die ein Philosoph nicht verzichten sollte. (Schriftsteller 1, 1995, S. 128)

 

Grausame Botschaft
Søren Kierkegaards „indirekte Mitteilung“ [um über Gott zu schreiben] wurde nötig quasi aus ökologischen Gründen: um die Menschen vor einem Gott zugleich zu schützen, der die Welt – als der ganz Andere zu ihr – durch ihre Zerstörung erlöst, so daß – schrieb Kierkegaard 1849 in einer Notiz, die ich für eine Schlüsselstelle halte – die christliche „Botschaft […], menschlich gesprochen, gewesen ist, und jederzeit bleibt Grausamkeit“. (Schriftsteller 1, 1995, S. 129)

 

Gott als Nein zur Welt
So wie Kierkegaard – meine ich – muß ein Philosoph schreiben, der – mit höchster Sensibilität für den Umstand, daß eine Philosophie einen Menschen beschädigen kann und darum durch stilistische Maßnahmen entsorgt werden muß – Gott als Nein zur Welt erfahren hat. Es ist ein philosophischer Verschonungs- und Ersparungsstil, den Kierkegaard schreibt: Für seine Philosophie ist Stil eine ökologische Maßnahme. (Schriftsteller 1, 1995, S. 130)

 

Gott sagt Ja zur Welt
[B]ei Josef Pieper – meine ich – ist Gott gerade nicht die Negation der Welt, sondern ganz im Gegenteil der, der Ja sagt zur Welt, indem er sie geschaffen hat, und weiter Ja sagt zur Welt, indem er sie erlöst. Die Welt – dies denkt und schreibt er ohne den Versuch, ihre vorhandenen Schrecklichkeiten wegzuretouchieren – die Welt ist grundsätzlich gut und wahr und schön, weil sie Gottes Welt ist…(Schriftsteller 1, 1995, S. 130)

 

Zustimmung zur Welt
Zweifellos – obwohl doch das Positive zu schreiben schwerer ist als das Negative zu schreiben – hat Josef Pieper z. B.über die Hoffnung vergleichbar schön geschrieben wie Kierkegaard über die Verzweiflung, die „Krankheit zum Tode“. Aber Kierkegaard hat eben den Gott, auf den er philosophisch aufmerksam machen wollte, durch Stil versteckt: Er bezweifelte seine Aushaltbarkeit. Josef Pieper hingegen schreibt philosophisch über den Gott, der ja sagt zur Welt und selber jene Zustimmung zur Welt ist, die Piepers Philosophie denkend nachvollzieht. Die Menschen haben Anspruch darauf, von dieser Zustimmung zur Welt philosophisch zu erfahren. Darum muß der Philosoph Josef Pieper zugleich Schriftsteller werden, um diese Menschen als Leser zu erreichen: argumentierend, meditierend, nachdenklich, mit bedächtiger und gelassener Heiterkeit und Erkenntnisfreude. (Schriftsteller 1, 1995, S. 131f.)

 

Reichtum der katholischen Tradition
[M]ir selber [war] früher Søren Kierkegaard näher … als Josef Pieper: Joachim Ritter hat es damals – mit gutem Grund – für nötig gehalten, mich vor Kierkegaard zu „retten“. Heute – seit ich erfahren habe, daß wir Menschen nicht so gut gestellt sind, um uns den Luxus der großen Verzweiflung wirklich leisten zu können – fühle ich mich Josef Pieper näher als Søren Kierkegaard, obwohl – die Zeit und den Ort seines Lebensstarts hat man sich ja nicht ausgesucht – ich nicht aus jenem Reichtum der Tradition leben kann, mit der Josef Pieper als Vorgabe auch der Philosophie rechnet. … wer … zu wenig Traditionen hat, ist arm dran: Philosophisch reicht es bei ihm vielleicht nicht so recht zu einer Position, sondern allenfalls zu Pointen. (Schriftsteller 1, 1995, S. 133)

 

Wirklichkeitseinheitsthese
Man liegt sicher nicht völlig falsch, wenn man die ausdrückliche These von der Einheit der Wirklichkeit mit dem Monotheismus zusammenbringt: weil Gott der eine einzige Gott ist, ist auch die Wirklichkeit – seine Schöpfung – die eine einzige Wirklichkeit. Die Wirklichkeitseinheitsthese ist eine religiöse These. Dieses religiöse Motiv – meine ich – steckt auch noch in der modernen Tendenz zur Einheitswissenschaft, zum Monismus: sie vollstreckt den Monotheismus oder kompensiert seinen Zerfall oder tut irgendwie beides. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 125)

 

Fortschritt
Dabei gilt der Weg von der Religion zur Wissenschaft und der Weg vom Monotheismus zum Monismus als Fortschritt. Besonders eindrucksvoll hat diese Fortschrittsthese Auguste Comte formuliert … in seinem Dreistadiengesetz, das er zuerst 1822 aufgestellt hat … Am finstern Anfang war statt Wissenschaft nur Religion; in der dämmrigen Mitte war statt Wissenschaft nur Metaphysik; am hellen Ende ist schließlich das, was sein soll: Wissenschaft und nur mehr Wissenschaft. Erst regierte die Illusion: Gott, die Schöpfung, die Theologie; dann regierte die Spekulation: der Begriff, das System, die Metaphysik; schließlich regiert das Experiment: die Tatsachen, die positiven Wissenschaften und das „voir pour prévoir pour prévenir“. Erst herrschen – illusionär – die Mythen; dann herrschen – revolutionär – die Abstraktionen; schließlich herrscht – positiv – nur noch die Wirklichkeit, und zwar deswegen, weil jetzt die Wirklichkeitswissenschaften triumphieren. … So kann man auch sagen: einst – im theologischen Stadium – waren die Menschen Kinder, die alles – vor allem das Illusionäre – glaubten; dann – im metaphysischen Stadium – wurden die Menschen revoltierende Pubertäre, die nichts mehr glaubten; schließlich – im positiven Stadium – wurden die Menschen Erwachsene, die durch die positiven Wissenschaften und ihren „esprit positif“ wirklichkeitsfähig geworden sind. Die Menschen: erst waren sie babies; dann wurden sie teen-ager; jetzt sind sie man-ager: Manager. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 125f.)

 

„Wir brauchen viele Götter“
Spiegel: Wo bleibt bei Ihrem Ausgleich zwischen Tradition und Moderne die Religion?
Marquard: Die alte Frage: Wenn es Gott gibt, woher kommt dann das Böse? Sie ist noch nicht beantwortet. Meine Frau ist eine protestantische Pfarrerstochter. Ich bin ein halb gekippter Heide. Da ist es lebensgeschichtlich, nach einer so langen Ehe, einleuchtend, dass ich durchaus mit ihr sonntags in die Kirche gehe. Trotz oder auch wegen der ständig fortschreitenden Aufklärung hat die Religion Bestand und Recht…
Spiegel: … als eine von vielen Geschichten. Sie haben sich selbst einen Polytheisten genannt, Sie huldigen vielen Göttern.
Marquard: Vielleicht ist die christliche Religion ja auch im Grunde polytheistisch. Denken Sie an die Trinität oder an die vielen verschiedenen Konfessionen. Wir brauchen viele Götter, viele Mythen – Geschichten, 2003, die gegen Uniformierung Widerstand leisten. Dafür brauchen wir Kirchen, aber auch gute Romane, Museen, Bibliotheken. Und die Philosophie. (Götter, 2003, S. 154)

 

Lissabon
Vor 250 Jahren, genauer am 1. November 1755, bebte die Erde in Lissabon. Es starben 30000 Menschen, einige zählen sogar 60000 Tote. Ende des Jahres 1755 schrieb Voltaire unter dem Eindruck dieses Erdbebens sein „Poème sur le désastre de Lisbonne“ [mit] jener optimismuskritischen Überlegung, die der Untertitel des Gedichts verspricht: „Prüfung des Axioms Alles ist gut.“ (Optimismus, 2005, S. 93)

 

Jesuitischer „optimisme“
Den Ausdruck „optimisme“ haben 1737 im Journal de Trévaux französische Jesuiten leibnizkritisch geprägt. (Optimismus, 2005, S. 94)

 

Optimismus
Der Optimismus ist eine Gegenposition gegen die Gnosis. .. Gnosis ist die Positivierung der Weltfremdheit durch Negativierung der Welt und ihres Schöpfers. … Adolf von Harnack … hat gezeigt, daß die christliche Kirche gegen diese Häresie entstanden ist, und Hans Blumenberg hat, ihn überbietend, zu zeigen versucht, daß die mitteralterliche Philosophie die erste Überwindung dieser Gnosis ist und daß – nach ihrem Scheitern durch die nominalistische Ausrufung eines der Welt verborgenen und souveränen Willkürgottes – die neuzeitliche Philosophie die zweite Überwindung dieser gnostischen Häresie ist, die die Welt negiert und den Schöpfergott als böse erfährt. Diese neuzeitliche Philosophie führt – gegen die gnostische Weltnegation – zur Weltbewahrung und muß das durch Positivierung der Welt und Positivierung ihres Schöpfers zeigen. Das eben zwingt philosophisch zum Optimismus. (Optimismus, 2005, S. 94f.)

 

Nachoptimistische Positivierung der metaphysischen Übel
Die Theodizee von Leibniz ist eine juristisch zu nehmende Verteidigungsschrift in einem Anklageprozeß: sie verteidigt den angeklagten Gott gegen den Ankläger Mensch. Dabei ist wichtig, daß später auch die Geschichtsphilosophie solch eine Prozeßphilosophie sein wird. … Das Erdbeben von Lissabon hat den Glauben an die Zentralbedeutung der moralischen Übel erschüttert: die physischen Übel gelten fortan nicht mehr durchweg als Strafen Gottes, und die metaphysischen Übel – Endlichkeit und Vergänglichkeit – werden nachoptimistisch positiviert. (Optimismus, 2005, S. 95f.)

 

Verantwortungsschöpfer
In seiner Theodizee gibt Leibniz jene Antwort…: Gott ist gut und gerecht nicht wie ein weltfremder Gesinnungsschöpfer mit einem gegenüber Folgen rücksichtslosen Alles-oder-nichts-Prinzip, sondern er ist gut und gerecht wie ein weltkluger Verantwortungsschöpfer, der – auf Kompossibilitäten achtend bei den vielen möglichen Welten und dabei wie ein Politiker auch „Kröten schlucken muß“, um Sinnvolles durchzusetzen… Schöpfung ist die Kunst des Bestmöglichen. (Optimismus, 2005, S. 96)

 

Wissenschaftsfortschritt
Kants Philosophie entlastet Gott – sozusagen halb – durch eine vorsichtige – für mich sehr sympathische – Geschichtsphilosophie des Wissenschaftsfortschritts. (Optimismus, 2005, S. 103)

 

Menschliche Freiheit zum Bösen
Christliche Metaphysik: Hier sind die Übel und das Leiden nicht unwesentlich, sondern wesentlich, denn selbst Gott leidet. Es wird die Allmacht Gottes verkündet, und gerade das führt zum Freiheitsproblem. Mit der Allmacht Gottes entfällt jenes Alibi des „Demiurgen“, das antik die Materie bildete. Denn der allmächtige Gott hat nach dem aus der Bibel herkommenden christlichen Verständnis die Welt nicht aus der Materie, sondern aus dem Nichts – durch creatio ex nihilo – geschaffen. … Die entscheidende Philosophie ist hier die Philosophie des Augustinus: … Durch die menschliche Freiheit zum Bösen (die zugleich zur Strafe wird) bleibt der allmächtige Gott der gute Gott. … So ist das Freiheitsproblem gar nicht ‚klein‘, sondern es wird zum ‚ganz und gar großen‘ weltverbindlichen Problem des Alibis Gottes. Darum wird im metaphysischen Rahmen des Theodizeeproblems in der Folge – auch schon in der Gnaden- und Prädestinationslehre des späteren Augustinus – zur entscheidenden Frage: Kann der Mensch dem allmächtigen Gott gegenüber frei genug sein, um als Alibi Gottes für das Übel, die Leiden, das Böse verantwortlich zu sein? (Freiheit, 2006, S. 114)

 

Eschatologische Weltnegation
Gnosis und Nominalismus: Augustinus und das weitere christlich-metaphysische Freiheitsproblem hat gegen eine Versuchung Stellung bezogen, die für das frühe Christentum nahelag: die Lehre vom bösen Schöpfergott. Gott, der Schöpfer, braucht kein Alibi, schon gar nicht die Freiheit zum Bösen. Denn Gott, der Schöpfer, ist böse: er hat eine böse Welt geschaffen, und nur ein souveräner fremder – ganz anderer – Erlösergott kann gegen die böse Welt und ihren bösen Schöpfergott an, indem er die vorhandene Welt und ihren bösen Schöpfer negiert. Mit der alten Welt muß Schluß gemacht werden: eine neue Welt muß geschaffen werden, und ihr neuer Schöpfer muß als Erlösergott auftreten und „alles neu“ machen. Adolf von Harnack hat in seinem Buch Marcion (1921, 2. Auflage 1924) auf diese These und ihren Verfechter – nämlich Markion, der um 160 starb, und sein schließlich als Häresie tabuisiertes Hauptwerk Antithesis, von dem die Unterscheidung zwischen „Altem Testament“ und „Neuem Testament“ sich erhalten hat – hingewiesen, und Hans Blumenberg hat inzwischen an seine These erinnert. Der gute Erlösergott erlöst von der bösen Welt und ihrem bösen Schöpfer: das ist die Lehre, die eine Art Weltrevolution befürwortet, eine eschatologische Weltnegation. Es bedarf keiner Freiheit, sondern nur – alibifrei – der Allmacht des kommenden Erlösergottes, die das Böse – die alte Welt und den alten Gott – zunichte macht. Diese Lehre liegt historisch vor Augustinus: gegen sie ist – nach Harnack – die katholische Kirche entstanden, und gleichermaßen die christliche Metaphysik. So sehr steckte diese Tradition im Christentum, daß sie – schon beginnend mit der Gnadenlehre des späteren Augustinus – als christliche Häresie und schließlich als christliche Reformation überdauert hat bis hin ins Spätmittelalter zur „nominalistischen“ Position, die schließlich Wilhelm von Ockham vertrat. Die Welt ist – tendenziell – so böse, daß ihre Strukturen – also die Universalien – negiert werden müssen, um die Souveränität – die potentia absoluta – des Erlösergottes geltend zu machen, die – nicht kraft menschlicher Freiheit – durch die Freiheit des erlösenden Gottes sola gratia, durch das Geschenk seines Glaubens gewährt wird. Das führt – ich lasse Calvin und Zwingli beiseite – zur Rechtfertigungslehre von Martin Luther, der – als junger Erfurter Student – der nominalismusnahen Philosophie von Gabriel Biel nicht entgehen konnte. So bestimmte Luther – gegen die konziliante Freiheitslehre protestierend, die Erasmus von Rotterdam in De libero arbitrio (1524) anbot – in seiner hinreißenden Schrift De servo arbitrio von 1525 eine Negation der menschlichen Freiheit, die nicht nur die Fachphilosophen, sondern in der Regel auch die reformatorischen Theologen weitgehend zu ignorieren pflegen. So läuft von der frühen christlichen Häresie der Gnosis bis zur späten reformatorischen Theologie ein Traditionsstrang, der die Welt – trotz allem – als so böse erfährt, daß er nur noch dem „ganz anderen“ Erlösergott mit seiner potentia absoluta die Erlösung zutraut. (Freiheit, 2006, S. 114ff.)

 

Schlaf oder Auferstehung?
Was kommt eigentlich, diese Frage muß gestellt werden, nachdem die Zukunft schwindet? Was kommt nach dem Verlust der Zukunft, die der Tod ist? Die Auferstehungsmythologie des Christentums – dem ich sonst anhänge – spricht allenthalben von Auferweckung und Erwachen. Ich aber schlafe gern. Meine Weltabwehr absolviere ich nicht durch philosophische Kritik, sondern durch Schlafen. Meine Leidenschaft – abgesehen vom Verfassen solcher Texte (denn streng genommen habe ich im Leben ja nichts anderes gelernt) – meine Leidenschaft ist das Schlafen in all seinen Formen: als Mitternachtsschlaf, als möglichst früher Abendschlaf, als lang dauernder Morgenschlaf, und vor allem und ausgedehnt als Mittagsschlaf. Ich hoffe und vertraue auf einen Gott, der mich nach meinem Tode nicht auferweckt, sondern schlafen läßt. (Meine Frau ist für etwas mehr Auferstehung, und meistens setzt sie sich ja durch.) (Zukunftsverminderung, 2006, S. 6)

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