Bild: Helmut Schütz

Wunder gibt es auch in Alzey…

Die Alzeyer Antoniterstraße in der Höhe der Alten Post
Auf der Antoniterstraße in Alzey nachts unterwegs

„Wie können Sie es nur aushalten, als Seelsorger in der Nervenklinik zu arbeiten?“ So fragte man mich oft im Laufe der letzten zehn Jahre – mit dem Nachsatz: „Ich könnte all das Elend nicht mit ansehen.“

Ich bin froh, viele Patienten kennengelernt zu haben, in ihrem Leid, aber auch in ihrer neugewonnenen Hoffnung. Ich bewundere seelisch kranke Menschen, die ihr Schicksal annehmen und trotz allem eine Zufriedenheit ausstrahlen, von der wir „Gesunden“ uns eine Scheibe abschneiden könnten. Nein, in der psychiatrischen Klinik herrscht nicht nur Elend. Mitunter geschehen da sogar Wunder.

Eine Frau erleidet einen schweren Nervenzusammenbruch. Sie ist immer stark gewesen, hat für ihre Familie gesorgt und ihren „Mann“ im Beruf gestanden. Nun ist sie am Ende, fertig, ausgebrannt. Ihre Freunde erkennen sie nicht wieder. Ihre Selbstachtung ist auf den Wert Null gesunken.

Da liest sie in unserem Klinik-Bibelkreis mit uns die Geschichte von Petrus, der es Jesus nachtun möchte, als der einfach so auf dem Meer spazieren geht (Matthäusevangelium 14, 28-31). Petrus fühlt sich so stark – und dann bekommt er Angst vor Wind und Wellen, und er verliert den festen Boden unter den Füßen. Wie peinlich! Da geschieht das eigentliche Wunder in der Geschichte: Der stolze Petrus schreit um Hilfe – Jesus streckt ihm die Hand hin – und Petrus ergreift sie! Hilfe anzunehmen, das ist für jemanden, der gelernt hat, alles allein zu bewältigen, ein großes Wunder.

Mit der Zeit hört die Patientin auf, sich zu überfordern. Sie erlaubt es sich, Bedürfnisse zu haben. Auch ihr darf es einmal schlecht gehen. Und schließlich geht sie nach Hause – ein neuer Anfang. Nach Jahren treffe ich sie zufällig am Rande eines Festes. Ihr gehe es nicht immer gut, sagt sie, aber sie wisse jetzt, dass das keine Schande sei. Sie könne jetzt auch um Hilfe bitten.

Selbst beim 60. Winzerfest in Alzey kann man auf Wunder hoffen. Nein – schlicht überflüssig wäre es, aus Wasser Wein zu machen. Sollte sich nicht eher manchem, der Auto fahren muss oder ein Alkoholproblem hat, der Wein in seinem Glas in Wasser verwandeln? Er kann aber auch freiwillig auf andere Produkte der Winzerbranche umsteigen – etwa einen guten Traubensaft. Wunder gibt es auch in Alzey.

Betrachtung für die Rubrik „Auf ein Wort“ in der „Allgemeinen Zeitung“, Lokalteil Alzey, im September 1998 von Helmut Schütz. Er ist (noch bis morgen) Krankenhauspfarrer in Alzey und übernimmt ab Oktober eine Pfarrstelle in der Paulusgemeinde Gießen.

 

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