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Berufung auf den radikalen Weg der Liebe

Nachdem Frank-Tilo Becher am 28. Oktober 2018 als Direktkandidat der SPD in den Hessischen Landtag gewählt und von seinen Pflichten im kirchlichen Dienst entbunden wurde, gab er in seiner Abschiedspredigt als Dekan des Evangelisches Dekanats Gießen eine spannende Antwort auf die Frage, ob er damit seiner Berufung zum Pfarrer untreu werde oder einer neuen Berufung folge.
Ein stilisiertes grünes Telefon mit Wählscheibe - als Symbol für die Berufung durch Gott
In seiner Abschiedpredigt als Dekan erinnert Frank-Tilo Becher an das grüne Telefon mit Wählscheibe, das bei seiner Einführungspredigt in der Pauluskirche auf der Kanzel stand (Bild: Clker-Free-Vector-ImagesPixabay)
Predigt anlässlich der Verabschiedung von Dekan Frank-Tilo Becher am 20. Januar 2019 in der evangelischen Petruskirche Gießen
Lesung zur Predigt aus dem Brief des Paulus an die Römer 12 (nach www.basisbibel.de):

9 Eure Liebe soll aufrichtig sein.
Verabscheut das Böse
und haltet am Guten fest.

10 Liebt einander von Herzen als Brüder und Schwestern.
Übertrefft euch gegenseitig an Wertschätzung.

11 Lasst nicht nach in eurem Eifer.
Seid mit Begeisterung dabei
und dient dem Herrn.

12 Freut euch, dass ihr Hoffnung habt.
Bleibt standhaft, wenn ihr leiden müsst.
Hört nicht auf zu beten.

13 Helft den Heiligen,
wenn sie in Not sind.
Macht euch die Gastfreundschaft zur Aufgabe.

14 Segnet auch die Menschen,
die euch verfolgen –
segnet sie
und verflucht sie nicht.

15 Freut euch mit den Fröhlichen.
Weint mit den Weinenden.

16 Seid alle miteinander auf Einigkeit aus.
Werdet nicht überheblich,
sondern lasst euch auf die Unbedeutenden ein.
Baut nicht auf eure eigene Klugheit.

17 Vergeltet Böses nicht mit Bösem.
Habt den anderen Menschen gegenüber
stets nur Gutes im Sinn.

18 Lebt mit allen Menschen in Frieden –
soweit das möglich ist
und es an euch liegt.

19 Nehmt nicht selbst Rache, meine Lieben.
Überlasst das vielmehr dem gerechten Zorn Gottes.
In der Heiligen Schrift steht ja:
»›Die Rache ist meine Sache,
ich werde Vergeltung üben‹ –
spricht der Herr.«

20 Im Gegenteil:
»Wenn dein Feind Hunger hat,
gib ihm zu essen.
Wenn er Durst hat,
gib ihm zu trinken.
Wenn du das tust,
ist es,
als ob du glühende Kohlen auf seinem Kopf anhäufst.«

21 Lass dich nicht vom Bösen besiegen,
sondern besiege das Böse durch das Gute!

Gott gebe uns Worte für unser Herz und ein Herz für sein Wort. Amen.
Berufung

Liebe Gemeinde,
in den letzten Monaten bin ich immer mal wieder gefragt worden, wie ich meine Berufung zum Pfarrer so einfach aufgeben könne? Ich habe ganz intuitiv geantwortet, dass ich keine Berufung aufgebe, sondern einer Berufung folge. Ich weiß mich da von Martin Luther unterstützt, der den weltlichen Beruf genauso zum Gottesdienst erklärt, wie den geistlichen. Er bezieht sich dazu auf Paulus, der im Korintherbrief die unterschiedlichen Berufungen nebeneinander stellt, mit denen Gott das Leben in der Gemeinschaft ordnet.

Allerdings taucht da auch der bekannte Satz auf (1. Korinther 7, 20):

Ein jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde.

Ich glaube, dieser Gedanke schwingt in den Anfragen an meine Entscheidung mit und wirft für mich die Frage auf, ob Gott nur in den Pfarrdienst hinein ruft, oder manchmal eben auch wieder heraus.

Liebe Gemeinden,
mitten in solchen Gedanken anlässlich meiner Beurlaubung und heutigen Verabschiedung aus dem Pfarrdienst wurde mir bewusst, wie mich auf überraschende Weise das Thema meiner Ordination neu erreicht. Im Juli 1994 hatte ich in der Pauluskirche zu diesem Anlass über die Berufung des Propheten Jeremia zu predigen. Auf der Kanzel stand dieses grüne Telefon mit Wählscheibe. Ich habe von den Fußballern erzählt, die 1994 auf ihre Berufung in die Nationalmannschaft für die WM gewartet haben. Das ging damals noch mit einem Anruf des Bundestrainers. Und ich habe vom Propheten Jeremia erzählt, der wenig begeistert auf seine Berufung durch Gott reagiert hat und sich mit dem Satz (Jeremia 1, 6)

6 Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.

dagegen zur Wehr gesetzt hat. Und ich habe von meinen gemischten Gefühlen zu „Berufungen“ erzählt. Wie mich die so ganz selbstsicher Berufenen im Leben eher erschrecken. Und gleichzeitig konnte ich berichten, wie faszinierend es mir auch erscheint, einer inneren Stimme folgen zu können, die mit einem „das muss ich jetzt tun“ aus der Beliebigkeit in eine Leidenschaftlichkeit führt. Und wie nah mir dieses Schwanken zwischen „Warten auf die Berufung“ und „Sträuben gegen die Berufung“ ist.

Und jetzt frage ich mich, wo heute meine intuitive und so selbstverständlich klingende Rede herkommt, meine Entscheidung für die Politik würde einer neuen Berufung folgen – und ob mir die Zögerlichkeit des jungen Theologen 1994 nicht doch viel sympathischer ist.

Zuspruch und Gottvertrauen

Jeremia bekommt von Gott zu hören (Jeremia 1, 7-8):

7 Du sollst gehen, wohin ich dich sende…

8 Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten…

Da ist also das berühmte Paar – der Anspruch und der Zuspruch. Und ob ich dem Zuspruch mein Vertrauen gebe, entscheidet darüber, ob mir der Anspruch zu groß erscheint, oder ob ich ihn tragen kann und will.

Ich hatte eine wunderbare Zeit als Gemeindepfarrer und Dekan hier in Gießen, auf die ich so dankbar zurück blicken kann, weil es eine Zeit war, in der mein Gottvertrauen wachsen konnte. Je länger je mehr ist in mir das tiefe Vertrauen gewachsen, dass wir hier miteinander gut unterwegs sind, weil Gott uns miteinander unterwegs sein lässt und mit uns unterwegs ist. Mein Tun ist nur vor diesem Hintergrund bedeutsam und wirksam gewesen. Gerade im Amt des Dekans habe ich bei allen Gestaltungsmöglichkeiten – und die sind fantastisch groß – bei allen Gestaltungsmöglichkeiten gleichzeitig erfahren, wie bescheiden wir darauf blicken sollten, was uns aus eigener Kraft genauso gelingen kann, wie wir es uns vorstellen. Vielleicht deshalb habe ich mit dem Wahlslogan auf meinen Plakaten „Zukunft jetzt machen“ auch gehadert – wissend, dass der Raum für philosophische oder theologische Tiefe auch auf DIN A0 sehr begrenzt ist.

Gott Platz zu lassen, heilsam und friedensstiftend zu wirken – mitten hinein in das , was uns gelingt und misslingt, das hat mir in den vergangenen Jahren jedenfalls geholfen, in schwierigen Zeiten mit schwerwiegenden Entscheidungen abends ins Bett zu gehen, und mich darin auszuruhen, dass Gott am nächsten Morgen die Sonne aufgehen lässt. Ich bin davon überzeugt, dass alleine das Vertrauen auf das Versprechen Gottes, wie es Jeremia gegeben wird, uns in den Gemeinden, in den Einrichtungen, in den Diensten hat mutig werden lassen, unseren jeweiligen Berufungen nachzugehen.

8 Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten…

So konnte ich, so konnten wir tun, was wir glaubten tun zu müssen. Und das ist die Quelle jener Leidenschaft, mit der wir im Leben für uns und für andere sinnvoll – im wahrsten Sinne des Wortes – sinnvoll tätig werden können.

Das so zu erkennen, dazu musste ich vielleicht doch erst 55 Jahre alt werden und die Erfahrungen aus einem Gemeindedienst und dem Amt des Dekans sammeln. Und das, liebe Gemeinde, ist der tiefste Grund für meinen fröhlichen und dankbaren Blick zurück.

Berufung muss eine Richtung haben

Aber die Zögerlichkeit des 31-Jährigen, die Skepsis gegenüber zu großer Selbstgewissheit und Selbstverliebtheit in die eigene Berufung, die ist mir auch geblieben und mit Blick auf die Vielen, die glauben, sie seien jetzt berufen, das eigentliche Volk zu verkörpern, eher noch wichtiger geworden.

Und deshalb ist mir für uns alle heute die Botschaft so bedeutsam, die wir in der Lesung aus dem Römerbrief (Römer 12) gehört haben. Denn Paulus erklärt der Gemeinde hier, welche Richtung die Berufung einschlägt, in die Gott ruft. Nicht alles was mir in den Sinn kommt, kann ich zu meiner Berufung erklären. Der, der beruft, ist die Liebe und ruft in die Liebe. Und wem das jetzt sofort schon wieder viel zu lieb klingt, der oder die wird sich gleich wundern, wie knallhart die Konsequenzen dieser Berufung sind.

Familienliebe

9 Eure Liebe soll aufrichtig sein.
Verabscheut das Böse
und haltet am Guten fest.

10 Liebt einander von Herzen als Brüder und Schwestern.
Übertrefft euch gegenseitig an Wertschätzung.

Das ist das Konzept der Philadelphia, wörtlich übersetzt der Bruderliebe, wir sagen Geschwisterlichkeit, mit der ein Clan, eine große Familie sozial zusammengehalten wird. Es ist das Konzept, mit dem die römische Gemeinde mit ihren juden- und heidenchristlichen Wurzeln zusammengehalten wird. Es ist nicht liebevolle Freundschaft mit denen, die ich mir handverlesen als beste Freunde und Freundinnen aussuche, geleitet von größter möglicher Übereinstimmung in den Interessen und im Lebensstil – nein, es ist die Liebe, die es braucht, damit die, die gemeinsam unterwegs sind, es lernen, loyal und solidarisch zu sein, selbst dort, wo die Sympathie füreinander nicht gerade überfließt. So soll sich die Liebe, in die wir berufen sind, in der Gemeinde in Rom konkretisieren – und ich behaupte, in jeder Gemeinde heute und auch in einer politischen Partei. Philadelphia ist „innerfamiliäre“ Solidarität, die sich auch durch Abgrenzung nach außen stabilisiert. Wir hier – aufrichtig zueinander, ohne uns Böses zu tun und mit Wertschätzung – und die anderen dort.

Fremdenliebe

Aber hier bleibt es nicht stehen, mit dem, wozu uns Gott berufen hat. Diese interne Philadelphia erfährt ihre Entgrenzung hin zur Philoxenia, das griechische Wort für die Gastfreundschaft.

13 Macht euch die Gastfreundschaft zur Aufgabe

– schreibt Paulus. Und hier ist mehr als Unterkunft und Verpflegung gemeint. Das Fremde ist nicht zu hassen und zu fürchten, sondern zu lieben, wert zu schätzen, zu nutzen und zu fördern – also das Gegenteil von Xenophobie, jener Furcht vor dem fremdem Gast, die unsere Zeit mehr und mehr zu bestimmen scheint. Damit wird das „Wir hier“ und „Ihr dort“ radikal überschritten.

Feindesliebe

Und als wäre es damit nicht schon kompliziert genug geworden, wird als dritte Erweiterung, als dritter Kreis der Liebe, die Aufforderung ausgesprochen, die zu segnen, die uns verfolgen und die Feinde zu lieben:

14 Segnet auch die Menschen,
die euch verfolgen –
segnet sie
und verflucht sie nicht.

Hier wird dem widersprochen, was uns die Natur als vernünftig nahe zu legen scheint. Und spätestens an dieser Stelle wird uns allen auch schmerzlich bewusst, dass unsere Liebe Stückwerk und unvollkommen bleiben muss – und das fängt nicht erst bei der Feindesliebe an. Manchmal wird es übersteigen, was uns persönlich möglich scheint. Die Machbarkeit von Liebe hat ihre Grenzen. Ihren Anspruch gibt sie deshalb aber nicht auf.

Familienliebe – Fremdenliebe – Feindesliebe – auf diesen Weg sind wir gerufen. Dazu sind wir alle berufen. Diese Liebe ist nicht nur Gefühl und Gesinnung, sondern meint verantwortliche Tat. Auch das wird in Paulus Ausführungen sehr deutlich: Die Liebe ruft uns in eine leidenschaftliche Praxis. Ein Satz aus diesem Predigttext gefällt mir bei Luther besser, als in der Übersetzung der Basisbibel, die wir gehört haben.

11 Seid brennend im Geist.

Hier höre ich dieses leidenschaftliche „ich muss“, in das uns die Berufung lockt. Sie macht unseren Geist brennend für den Weg, den Paulus als Weg der Liebe beschreibt. Und das ist auch nötig. Denn hier werden in letzter Konsequenz von der Basis her die Fragen von Krieg oder Frieden, von Gerechtigkeit und Solidarität oder Entzweiung und Ungerechtigkeit aufgeworfen.

Die Praxis der Liebe

Und weil es um Fragen mit solcher Tragweite geht, will ich zum Ende noch zwei kurze Blicke aus meiner Praxis auf die Praxis werfen.

Ich glaube, wir sollten darauf achten, dass wir wahre Liebe nicht mit einer Harmonie verwechseln, die eigentlich Verschmelzung meint. Manchmal strecken wir uns in der Kirche danach, als wollten wir das Heil nun endlich selbst machen, nachdem Gott sich schon so lange hat bitten lassen. Aber wahre Liebe braucht ein Gegenüber. Dafür ist es gut, Konturen und Positionen zu schärfen.
Manchmal hilft es auch, den Streit nicht zu vermeiden. „Was nicht ausgetragen wird, wird nachgetragen“ sagt eine Weisheit. Je besser uns eine aufrichtige Liebe in der Glaubensfamilie gelingt, umso mehr Spielräume haben wir, uns aufeinander einzulassen – auch organisatorisch in Kooperationen oder Fusionen, wo es nötig ist.

Am Ende kommt es vielleicht darauf an, ob man „zusammenwachsen“ in einem oder in zwei Worten schreibt. Zusammenwachsen kann eine Verschmelzung bedeuten, bei der das Wachsen auf der Strecke bleibt. Zusammen, also gemeinsam wachsen, wie zwei mit klugem Abstand gepflanzte Bäume, wäre jedenfalls auch ein interessantes Bild, die unterschiedlichen Glaubens- und Kirchentraditionen, unsere Gemeindegeschichten und letztlich auch Religionsbegegnungen zu denken. So fördert die Liebe die Kunst, sich auseinander zu setzen, ohne auseinander zu gehen.

Der zweite Blick zeigt mir, dass der Perfektionismus der Feind wahrer Liebe ist. Korrektheit, sei es eine religiöse oder politische, verrennt sich auf andere Weise in ein Heilsversprechen, das bisher niemand einlösen konnte. Wahlprogramme, die fugen-, makel- und lückenlos daher kommen, gleichen einer glatten Wand, hart, kalt und abweisend wie ethischer Rigorismus, gebaut aus ideologischem Beton. Aber die Liebe will doch an sich herankommen lassen! Dazu hilft es, dem Schicksal anderer Raum zu geben. Das verlangt, sich aufeinander einzulassen. Ob es gelingt, zeigt sich daran, ob wir, wie Paulus schreibt, in der Lage sind, mit den Fröhlichen uns zu freuen und mit den Weinenden zu weinen (Römer 12, 15). Verordnen kann man sich das nicht. Hier ist die Kunst gefordert, eine Schwäche zu behalten, für die Schwäche der anderen.

Ein jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde

Ein jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde. (1. Korinther 7, 20)

Liebe Gemeinde,
am Ende stellt es sich mir doch noch einmal anders dar. Es ist gar keine neue Berufung, die mich ereilt hat. Ich höre den gleichen Ruf, auf dem Weg der Liebe unterwegs zu sein – einer Liebe, die radikal ist und zu der eine Praxis gehört.

Mit brennendem Herzen und leidenschaftlicher Praxis wollte ich unterwegs sein und habe in Euch eine wunderbare Weggemeinschaft gefunden. Mit brennendem Herzen und leidenschaftlicher Praxis möchte ich meinen Weg weitergehen, und habe Viele gefunden, mit denen ich das politische gestalten will.

Dahinter steht die Berufung, die wir alle haben – die Berufung in eine Liebe, die Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit schafft. Und deshalb gilt uns allen auch der Zuspruch, der an Jeremia ging (Jeremia 1, 8):

8 Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten.

Und der Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unserer Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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