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„Und der Tote fing an zu reden…“

Kann der harte Satz „Weine nicht!“ Jesu auch eine Reaktion sein auf ein Selbstmitleid einer Mutter, die ihrem Sohn selbst, ohne es bewusst zu wollen, keinen Raum zum Leben gelassen hat? Jesus gibt ihr den Sohn zurück als einen, der in eigener Sache reden, sein eigenes Leben leben darf.

Ein Bild in einer alten Bibel: Jesus erweckt den Jüngling zu Nain vom Tode
Jesus gibt einer Witwe ihren Sohn zurück (Bild: DetmoldPixabay)

#predigtGottesdienst am 16. Sonntag nach Trinitatis, 15. September 2013, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Ich begrüße alle herzlich in der Pauluskirche mit dem Wort zur kommenden Woche aus 2. Timotheus 1, 10:

Christus Jesus [hat] dem Tode die Macht genommen … und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.

Im Mittelpunkt dieses Gottesdienstes steht eine unglaubliche Geschichte, die von Jesus erzählt wird: wie er den Sohn einer Witwe, der gestorben war, wieder zum Leben erweckt. Kann uns diese Geschichte trösten? Oder ist sie für uns eher ärgerlich, weil unserer Erfahrung nach so etwas unmöglich ist?

In der Predigt wird Herr Pfarrer Schütz drei Deutungsmöglichkeiten dieser Wundergeschichte durchspielen, und wir alle können überlegen, ob die eine oder andere Sichtweise für uns hilfreich ist.

Lied 326, 1+4+5:

1. Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte, dem Gott, der alle Wunder tut, dem Gott, der mein Gemüte mit seinem reichen Trost erfüllt, dem Gott, der allen Jammer stillt. Gebt unserm Gott die Ehre!

4. Ich rief zum Herrn in meiner Not: »Ach Gott, vernimm mein Schreien!« Da half mein Helfer mir vom Tod und ließ mir Trost gedeihen. Drum dank, ach Gott, drum dank ich dir; ach danket, danket Gott mit mir! Gebt unserm Gott die Ehre!

5. Der Herr ist noch und nimmer nicht von seinem Volk geschieden; er bleibet ihre Zuversicht, ihr Segen, Heil und Frieden. Mit Mutterhänden leitet er die Seinen stetig hin und her. Gebt unserm Gott die Ehre!

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten mit Worten des Psalms 68:

2 Gott steht auf; so werden seine Feinde zerstreut, und die ihn hassen, fliehen vor ihm.

3 Wie Rauch verweht, so verwehen sie; wie Wachs zerschmilzt vor dem Feuer, so kommen die Gottlosen um vor Gott.

4 Die Gerechten aber freuen sich und sind fröhlich vor Gott und freuen sich von Herzen.

5 Singet Gott, lobsinget seinem Namen! … Freuet euch vor ihm!

6 Ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen ist Gott in seiner heiligen Wohnung,

7 ein Gott, der die Einsamen nach Hause bringt, der die Gefangenen herausführt, dass es ihnen wohlgehe; aber diejenigen, die sich gegen Gottes Liebe auflehnen, lässt er bleiben in dürrem Lande.

20 Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.

21 Wir haben einen Gott, der da hilft, und den HERRN, der vom Tode errettet.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Du errettest vom Tod, großer Gott. Du stehst auf gegen Todesmächte, in denen sich Menschen verfangen und sowohl fremdes als auch ihr eigenes Leben zerstören: Todesmächte wie Vorurteile und Rassismus, Hass und Gleichgültigkeit, Eigensucht und Heuchelei.

Gott, befreie uns von der tödlichen Macht der Sünde, die uns abtrennt von deiner Liebe, vom Vertrauen zu dir!

Du errettest vom Tod, großer Gott, aber nicht jeden bewahrst du vor dem Sterben. Menschen sind hier im Gottesdienst, die um Angehörige trauern, die 60, 62, 66 Jahre alt waren. Andere werden viel älter; Gott, wir begreifen oft deine Wege nicht. Und wenn wir hören, wie Jesus oder Propheten oder Apostel Tote erweckt haben, dann wird eher unser Zweifel geweckt: Kann das wirklich wahr sein? Wie soll uns das helfen, wenn einzelne Menschen solche Taten vollbringen konnten?

Gott, nimm uns ernst in unseren Zweifeln und hilf uns, dass wir dich ernst nehmen und lernen, dir zu vertrauen!

Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Die Bibel lügt nicht. In einer wunderbaren Sprache voller Bilder verkündet sie, welche Wunder an uns geschehen. Berge der Schuld trägt Gott ab. Herzen, so hart wie Fels, lässt er zerfließen in Trauer und Mitgefühl. Tränen, die ganze Seen füllen, werden getrocknet, bevor die Seele darin ertrinkt. Und so unglaublich es klingt: Nichts kann der Tod ausrichten gegen ein einziges Wort Gottes, denn: Mächtig ist zwar der Tod, doch Gottes Liebe ist allmächtig.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Gott, der Wahrheit und der Wunder! Hilf uns, die Sprache der Bibel zu verstehen, in denen sie die Wunder erzählt, die du tust. Rühre uns an mit deiner Liebe, so dass auch in unserem Leben Wunder geschehen. Das erbitten wir von dir im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören den Text zur Predigt aus dem Evangelium nach Lukas 7, 11-17:

11 Und es begab sich danach, dass [Jesus] in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge.

12 Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr.

13 Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: Weine nicht!

14 Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf!

15 Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und Jesus gab ihn seiner Mutter.

16 Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht.

17 Und diese Kunde von ihm erscholl in ganz Judäa und im ganzen umliegenden Land.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Halleluja! „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis
Lied 382: Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde!

Die Geschichte, die wir gehört haben, fand ich immer unglaublich. Ich glaube an die Auferstehung der Toten, daran, dass wir im Tode nicht verlorengehen, dass wir im Sterben hinübergehen in eine andere Art von Leben, geborgen in Gottes Liebe, im Frieden des Himmels. Aber was uns da von dem jungen Mann erzählt wird, der auf der Totenbahre auferweckt wird, das ist etwas anderes. Er lebt ja hier auf dieser Erde, in dieser uns vertrauten Welt, einfach weiter. Jesus vollbringt also ein Wunder, das sich auch heute so mancher von Herzen wünschen würde, dass sein geliebter Angehöriger doch noch vor dem Sterben bewahrt werden könnte oder nach seinem Tod einfach wieder zur Tür hereinkäme. Aber wir wissen: eine solche Hoffnung ist unrealistisch. Wir können es nicht ungeschehen machen, wenn der Tod uns einen geliebten Menschen genommen hat.

Ich gebe also offen zu: Ich habe große Schwierigkeiten mit dem heutigen Predigttext. Aber wo liegt das Problem? Liegt das Problem einfach bei mir? Ist mein Glaube nicht groß genug? Habe ich zu wenige Schubladen in meinem Kopf, so dass Dinge, die über meinen Verstand gehen, nirgends hineinpassen? Oder liegt das Problem darin begründet, dass unsere biblische Geschichte vielleicht ganz anders ausgelegt werden will, als ich das eben getan habe? Geht es gar nicht um die Erfüllung unrealistischer Wünsche? Soll die Geschichte gar kein historischer Tatsachenbericht über eine Sensation aus dem Leben Jesu sein, die heute in megagroßen Buchstaben auf der Titelseite der Bildzeitung stehen könnte?

Ich möchte in drei Anläufen versuchen, die Geschichte vom Jüngling zu Nain auszulegen. Vorher und zwischen den Auslegungsversuchen singen wir das Lied 572, denn es geht darum, dass Gottes Wort uns Licht und Halt und Trost gibt, es geht nicht einfach um platte Tatsachenwahrheit:

Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht

Es gibt Bibelausleger, die unsere Geschichte gar nicht problematisch finden. Einen Toten wiederbeleben, der schon im Sarg liegt, dessen Tod zweifelsfrei festgestellt wurde? Jesus kann das! Er ist schließlich Gottes Sohn, er hat teil an Gottes Allmacht. Einer dieser Bibelausleger ist Fritz Rienecker, der in der Wuppertaler Studienbibel außerdem großen Wert darauf legt, dass Jesus mehr kann als die Propheten Elia und Elisa. Auch von denen wird im Alten Testament erzählt, dass sie Tote erweckt haben. Die müssen aber Gott um die Totenerweckung bitten; Jesus jedoch spricht einfach in Gottes Vollmacht: „Steh auf!“ So würde also diese Geschichte beweisen, dass Jesus tatsächlich Gottes Sohn ist.

Viele Menschen haben die Geschichte wirklich so verstanden und tun das noch heute.

Gegen diese Deutung spricht aber erstens, dass Jesus selber gemeint hat, für den Glauben könne es keine Beweise geben.

Zweitens wollte Jesus kein Halbgott sein wie der griechische Herkules, kein Supermann mit übernatürlichen Zauberkräften; als wahrer Mensch in der Menschlichkeit seiner Liebe war er zugleich der Sohn Gottes, indem er die Liebe Gottes auf der Erde vollkommen verkörperte.

Und drittens kann Jesus in anderen Situationen durchaus zu Gott beten. Als er den Lazarus vom Tode erweckt, spricht er zum Vater im Himmel (Johannes 11, 42):

Ich weiß, dass du mich allezeit hörst.

Er versteht sich also nicht als einen göttlichen Übermenschen, sondern als einen ganz normalen Menschen, der im ständigen Gebetskontakt mit Gott steht. Das macht ihn zum Sohn Gottes, nicht irgendwelche übernatürlichen Kräfte, die ihn von uns anderen Menschen unterscheiden.

Und von dieser schlichten Menschlichkeit Jesu ist nun auch in unserer Erzählung etwas zu spüren. Er kommt in die Nähe der Stadt Nain. Dieser Name heißt nicht nur „die Liebliche“, sie liegt auch wirklich in einer schönen Landschaft zwischen dem Berg Tabor und dem Hermongebirge. Doch ganz im Gegensatz zu dieser Lieblichkeit sieht Jesus einen Totenzug aus der Stadt kommen, und dieser Anblick erschüttert ihn: der Verstorbene ist nämlich ein junger Mann, mitten aus seinem blühenden Leben gerissen, und seine Mutter hatte nur diesen einzigen Sohn gehabt, und da sie zudem noch Witwe ist, steht sie nun ganz allein, ohne jede Versorgung, im Leben da. Als Jesus sie sieht, „jammert es ihn“, wie Luther übersetzt. Andere Übersetzer schreiben: Er wurde innerlich bewegt, er hatte Mitleid, er erbarmte sich. Im Urtext steht ein Wort, das man nicht 1:1 ins Deutsche übertragen kann; es bezeichnet eine Bewegung in den Eingeweiden, also vielleicht das, was wir ein tief empfundenes Bauchgefühl nennen könnten. Jesus bekommt regelrecht Bauchkrämpfe, als er das Elend der unversorgten Witwe sieht, die ihren einzigen Sohn verloren hat. Halten wir das Bild dieses mitfühlenden Jesus fest, dann begreifen wir mehr von ihm als dem Gottessohn, als wenn wir seine Zauberkräfte beweisen müssten.

Lied 572: Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht

Aber nun geht die Erzählung weiter, und Jesus sagt zu der weinenden Mutter: „Weine nicht!“ Verschiedene Ausleger der Bibel hören dieses Wort jeweils ganz anders. Fritz Rienecker hört es als „sanftes und zartes, ein starkes und verheißendes, ein sehr einfaches Herzenswort“, das „die stärkste Kraft des göttlichen Trostes“ enthüllt. Aber Helmut Gollwitzer sagt in seiner Einführung zum Lukasevangelium unter dem Titel „Die Freude Gottes“, dass Jesus die Frau regelrecht anherrscht: „Weine nicht!“ Gollwitzer meint: „Dieses Wort soll ihr nicht tröstend das Leid mildern“, vielmehr mutet Jesus ihr zu, dass sie aufhört, den Tod als Herrscher über sich und die ganze Welt anzuerkennen, sondern sich stattdessen auf die Macht Gottes und seines Sohnes besinnt.

Wer von beiden hat nun Recht? Wenn einer mir sagt: „Weine nicht!“, aber ich kann nach allem, was ich weiß, nicht erwarten, dass ein verstorbener Mensch wieder ins Leben zurückkehrt, dann ist eine solche Aufforderung nicht sehr tröstlich. Sie kann höchstens dazu führen, dass ich mich zusammenreiße, weil der andere vielleicht meine Trauer und meine Tränen nicht aushält. Wieder merke ich, dass eine Aufforderung in diesem Sinne nicht zu der Menschlichkeit Jesu passt, wie sie uns zum Beispiel in seiner eigenen Leidensgeschichte vor Augen gestellt wird. Im Garten Gethsemane weint Jesus selber aus Angst vor den bevorstehenden Folterqualen und seinem Tod am Kreuz. Jesus kann also nicht gemeint haben, die Witwe solle sich gefälligst zusammenreißen.

Aber was hat er dann gemeint? Dem Anliegen von Helmut Gollwitzer stimme ich zu: Jesus bekämpft den Glauben an die Allmacht des Todes. Er will der Frau helfen, auf die Liebe Gottes auch angesichts des Todes vertrauen zu können. Und so sagt er ihr das Wort „Weine nicht!“, das in der Bibel außerdem nur noch an einer einzigen Stelle vorkommt, nämlich in der Offenbarung des Johannes (Offenbarung 5, 5). Dort ist davon die Rede, dass Jesus schlussendlich alle Todesmächte überwinden wird und dass alle geweinten Tränen einmal abgewischt werden (Offenbarung 21, 4). Aber sie dürfen geweint werden, das gehört zu unserer und auch zu Jesu Menschlichkeit dazu, so lange die Todesmächte uns in dieser Welt noch bedrängen und so lange es uns im Herzen unsagbar weh tut, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren. So enthält die Erzählung vom wiedererweckten Sohn der Witwe von Nain vielleicht dieselbe Vision von der zukünftigen Welt Gottes und von seinem Himmelreich, wie sie uns in der Offenbarung vor Augen gestellt wird.

Jesus kann die Frau auffordern, nicht zu weinen, weil er ihr ihren Sohn lebendig zurückgeben kann. Wenn das eine Zukunftsvision ist, sagt uns diese Geschichte, dass die Toten, die wir loslassen müssen, nicht einfach im Abgrund des Todes versinken: sie bleiben im ewigen Leben Gottes aufbewahrt. So lange der Schmerz des Abschieds unser Herz beschwert, fließen unsere Tränen, wieder und wieder. Aber Jesus sagt uns: „Du musst nicht im Meer deiner Tränen versinken, du kannst, wenn du genug geweint hast, dir die Tränen auch wieder abwischen lassen, denn der Tod ist nicht der allmächtige Herr über die Welt und die Menschen, sondern Gott allein. Er begleitet dich durch deine Trauer hindurch und weiß neue Wege für dich, die du gehen kannst.“

Lied 572: Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht

Ich habe von der mitfühlenden Menschlichkeit Jesu gesprochen und von der Vision einer Zukunft oder eines Himmels, in der der Tod überwunden ist und unsere Tränen abgewischt werden. Aber der eigentliche Kern der Erzählung bleibt immer noch unbefriedigend erklärt.

Denn die Geschichte geht ja so weiter, dass Jesus die Bahre berührt, auf der der junge Tote liegt, und als die Sargträger sofort stehen bleiben, spricht Jesus sein Machtwort: „Junger Mann, ich sage dir, stehe auf!“ Daraufhin richtet er sich auf und fängt an zu reden, und Jesus gibt ihn seiner Mutter. Ein Toter lebt wieder!

Ich finde, in diesen Sätzen steckt mehr als nur eine sensationelle Totenerweckung. Da wird zwischen den Zeilen auch eine Beziehungsgeschichte erzählt. Die Geschichte einer Frau, die ihren Mann verloren hat und damit ihre Stütze und ihren Sinn im Leben. Und ihr einziger Sohn war ihre Alterssicherung und vielleicht auch ein Ersatz für den verlorenen Partner. Es gibt solche Familienkonstellationen, in denen das Leid einer Mutter übergreift auf das gesamte Schicksal des Sohnes: ein eigenes Leben hat er nicht mehr, weil die Mutter ihn zu ihrem eigenen Überleben notwendig zu brauchen scheint. Sie umklammert ihn, lässt ihm keine Luft zum Atmen, zum Aussprechen seiner eigenen Wünsche und Lebensziele. Er verstummt, will ja seiner Mutter nicht weh tun, aber damit schneidet er sich irgendwann den eigenen Lebensfaden ab. Man kann früh sterben oder mitten im Leben schon tot sein, wenn man nicht die Erlaubnis spürt, das eigene Leben führen zu können, weil da eine Mutter ist, deren Bedürfnisse wichtiger zu sein scheinen als der Sohn mit dem, was er braucht.

Kann das harte „Weine nicht!“, das Jesus ausspricht, auch eine Reaktion sein auf ein Selbstmitleid einer Mutter, die ihrem Sohn selbst, ohne es bewusst zu wollen, keinen Raum zum Leben gelassen hat? Mir fällt auf: sobald Jesus dem Sohn die Erlaubnis gegeben hat, aufzustehen, fängt er gleich an zu reden. Er richtet sich auf und redet. Ist das nur eine nebensächliche Bemerkung? In knappen biblischen Texten ist kaum ein Wort überflüssig. Der junge Mann wagt es durch Jesu Ermutigung, sich auf die eigenen Füße zu stellen und in eigener Sache zu reden. Als einen in dieser Weise neuen Menschen gibt Jesus ihn seiner Mutter zurück. Natürlich soll er sie nicht im Stich lassen, soll er ihr zur Seite stehen. Aber er muss nicht sein Leben für sie aufopfern. Er kann als Sohn besser für sie da sein, wenn er sein eigenes Leben leben darf.

Lied 572: Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht

Zum Schluss erzählt die Geschichte, wie die Anwesenden auf Jesu Tat reagieren – der ganze Volkshaufen und die Trauergesellschaft, die nun niemanden mehr zu betrauern hat. Furcht ergreift sie alle, ein heiliger Respekt vor Gott und vor Jesus. Sie preisen Gott und nennen Jesus sowohl einen großen Propheten als auch einen, der von Gott kommt: In diesem Menschen „hat Gott sein Volk besucht“. Das erzählen sie auch weiter, und später ist diese Erzählung auch von Lukas in sein Evangelium aufgenommen worden.

Jetzt sind Sie dran, jetzt seid ihr dran: Ist das eine Geschichte, die Ihren, euren Glauben wecken und stärken kann?

Ist es ein Trost, dass Jesus diesen einen jungen Mann seiner verzweifelten Mutter zurückgeben kann, der dann später doch sterben muss wie jeder andere?

Ist es ein Trost, dass Jesus in seiner mitfühlenden Menschlichkeit uns allen nahe ist, auch in unserer Trauer?

Ist es ein Trost, dass wir weinen dürfen in der Hoffnung, dass unsere Tränen einmal abgewischt werden und dass alle Toten im Frieden Gottes gut aufgehoben sind?

Ist es ein Trost, dass wir für verzweifelte Menschen als Söhne und Töchter oder gute Freunde da sein können und zugleich die Erlaubnis haben, unser eigenes Leben zu leben?

Jesus ist uns nahe als der Sohn des Gottes, der unser Leben will und allen Todesmächten widersteht. Er spricht auch zu uns: „Steh auf und lebe dein Leben in der Verantwortung vor Gott, der es dir schenkt!“ Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 638: Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt

Lasst uns beten.

Gott, wir bitten dich durch Jesus Christus: erwecke uns vom Tod hier mitten im Leben und später, wenn wir sterben müssen. Erwecke uns vom Tod der Verzweiflung und schenke uns neue Hoffnung. Erwecke uns aus dem Tod des Nicht-geliebt-Seins und des Nicht-lieben-Könnens und schenke uns Liebe. Erwecke uns vom Tod des Unglaubens und lass in uns den Samen des Glaubens wachsen. Schenke uns Menschen, durch die wir es neu lernen, uns anzuvertrauen.

Gott, wir denken an die Todesmächte des Krieges und des Rassismus: Führe die Verhandlungen über Syriens Giftgas zu einem Erfolg, hilf, dass diejenigen Kräfte dort gestärkt werden, die die Gewalt beenden und Frieden aufbauen wollen. Lass die Flüchtlinge aus Syrien, die nach Deutschland kommen, hier auch Sicherheit und herzliche Aufnahme finden. Und hilf uns weiterhin denjenigen zu widerstehen, die mit rassistischen Parolen das friedliche Miteinander in unserem Land, in unserer Stadt bedrohen.

Heute beten wir besonders für drei Verstorbene.

Wir haben Frau …, 60 Jahre, deinen Händen anvertraut, auf dass sie deine Güte sehe im Lande der Lebendigen, denn du bist ein Gott der Lebenden und nicht der Toten.

Wir haben Herrn …, 62 Jahre, im Vertrauen darauf bestattet, dass Glaube, Hoffnung und Liebe bleiben werden, von denen die Liebe die größte Gnadengabe ist.

Und für Frau …, 66 Jahre, die … in ihrer Heimatstadt … in Turkmenistan bestattet wurde, halten wir gleich um 12 Uhr hier in der Kirche eine Trauerfeier mit ihren Angehörigen, die hier in Gießen leben. Sie wird unter dem Wort stehen: „Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch. Wir haben einen Gott, der da hilft, und den HERRN, der vom Tode errettet.“

Du, starker, lebendiger Gott, schenke all diesen Verstorbenen deinen ewigen Frieden im Himmel, wo es keinen Tod mehr gibt und wo alle Tränen abgewischt werden. Begleite ihre Angehörigen und Freunde in ihrer Trauer und schenke ihnen deinen Trost, neuen Mut und ein Leben im Frieden.

In der Stille bringen wir vor dich, was wir persönlich auf dem Herzen tragen:

Gebetsstille und Vater unser
Lied 209: Ich möcht‘, dass einer mit mir geht
Abkündigungen

Geht mit Gottes Segen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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