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Navid Kermani: „Gott ist schön“

Nach meiner Studienzeit zum Thema des Teilens von Geschichten aus Bibel und Koran gehe ich in einer Andacht für den Kirchenvorstand auf Gedanken von Navid Kermani zur Gegenwart Gottes ein. Was Jesus für die Christen ist, sei für die Muslime der Koran.

Die Sure Al-Ankabut im Koran - Navid Kermani vergleicht die Bedeutung des Korans im Islam mit der Bedeutung Jesu im Christentum
Die Sure Al-Ankabut im Koran (Bild: Josef FendtPixabay)

Andacht zur Sitzung des Kirchenvorstands der evangelischen Paulusgemeinde Gießen am 15. November 2011
Lied 563: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind

Liebe KV-Mitglieder,

gestern schrieb ich noch am Schlussbericht für meine Studienzeit, heute fing der Dienst wieder voll an, mit einem Beerdigungsgespräch, mit Telefonaten und Bittstellern, mit Update-Meetings und jetzt dieser Kirchenvorstands-Sitzung.

Was wir gesungen haben, war die Zusage Jesu, dass er mitten unter uns sein will, wenn wir uns in seinem Namen versammeln. Ich habe über diese Zusage etwas an ungewöhnlicher Stelle gelesen, nämlich in dem Buch des islamischen Denkers Navid Kermani „Gott ist schön“.

Da schreibt er auf Seite 215:

Wo sich im Christentum zwei oder drei in Seinem Namen versammeln und Er mitten unter ihnen ist, wird im Islam der Koran rezitiert, damit die sakina, die göttliche Gegenwart, sich herabsenkt und Engel sich dazugesellen.

Auf den Seiten 222-223 erläutert er das islamische Konzept der Offenbarung des Korans näher:

Mit dem quasi sakramentlichen Charakter der Koranrezitation hängt auch der überragende Stellenwert zusammen, dem das Memorieren des Koran in traditionell-muslimischen Gesellschaften zukommt. Über Jahrhunderte hinweg war es unverbrüchlicher Teil jeder Schulausbildung in der islamischen Welt, sie mit dem Auswendiglernen von Koranversen zu beginnen. Mehr noch als das Hören entspricht das meditative Nachsprechen (dikr) und im Idealfall das vollständige, auswendige Beherrschen (hifz) der herabgesandten Verse dem Aufnehmen Seiner Rede und damit, will man die Parallele zum Sakrament ziehen, einem Einverleiben Gottes. Es ist daher nicht Ausdruck überkommener Lehrmethoden, wie es mitunter dargestellt wird, sondern Konsequenz des muslimischen Offenbarungskonzeptes, wenn der Unterricht in den katātib, den Koranschulen von Kuala Lumpur bis Duisburg, in erster Linie mit dem Memorieren des Koran bestritten wird. Genauso wie zum christlichen Lebensweg die Taufe gehört und im Mittelpunkt der religiösen Unterweisung im Kommunions- und Konfirmandenunterricht die Einweisung in die Sakramente steht, findet keine genuin muslimische Erziehung statt, ohne daß nicht einige Suren auswendig gelernt würden; gewöhnlich kennt jeder Schüler zumindest das guz ‛ammā, das mit dem Wort «wonach» am Anfang der 78. Sure beginnende letzte Dreißigstel des Koran. Schon aufgrund der Pflicht zur salāt hat jeder muslimische Fromme oder Halbfromme ohnehin den Koran zumindest in Teilen präsent.

Weiter vergleicht Kermani auf den Seiten 223-224 die Person Jesu im Christentum mit dem Koran im Islam:

Die Schrift wurde und wird auch im Christentum rezitiert – auswendig gelernt wurde und wird sie kaum, wenigstens nicht der vollständige Text. Das ist nicht allein darauf zurückzuführen, daß die Bibel sich weniger zum Memorieren eignet als der Koran; vor allem hängt es mit der unterschiedlichen Funktion und Bedeutung zusammen, die der Schrift innerhalb der jeweiligen Glaubenswelt zukommt. Ist in einem betont christlichen Umfeld die Person Jesu Christi allgegenwärtig, zuvörderst durch das Kreuz, das an Wänden, Kirchtürmen, Grabmälern, Eingängen, Berggipfeln angebracht, am Hals getragen, das von Künstlern geschnitzt, gemalt, modelliert wird, sind es in einem muslimischen Kontext die Worte des Koran, die der Gläubige im Herzen bewahrt und über deren Segen der Prophetengenossen Abū Hurayra sagt:

Das Haus, in welchem der Koran vorgetragen wird, bringt Glück und Reichtum seinen Bewohner, es wird von Engeln bevölkert und von Teufeln gemieden.

Oder wie der Prophet selbst zitiert wird:

Das Haus, in welchem ein Muslim ist, der den Koran vorträgt, leuchtet den Himmelsbewohnern, wie der funkelnde Stem im Himmel dem Erdenvolk leuchtet.

Als Buch, Talisman, Kalligraphie, Rezitation oder Zitat wird die Offenbarung im Alltag eines traditionellen muslimischen Lebens zu dem, was Kenneth Cragg «eine Art Lebensbegleitung nennt, im musikalischen Sinne des Wortes – eines Themas, durch das der Gläubige ausdrucksfähig ist, wie der Sänger eines Liedes» nennt. Der Koran ist es, der klanglich und visuell auf die Sinne wirkt, den man mit sich trägt, der in seiner Gesamtheit beurteilt, gelobt, bewundert, verteidigt, gerühmt, verehrt und vor allem memoriert wird. «Meiner Gemeinschaft wurden nicht weniger als drei Dinge gegeben», ist dies in einem Hadith komprimiert: «Die Schönheit (al-gamāl), die schöne Stimme und das Gedächtnis.»

Interessant finde ich, wie Kermani auf Seite 225 die zentralen Riten beider Religionen, das Heilige Abendmahl und die Rezitation des Korans, aufeinander bezieht:

„Die Riten beider Religionen, Heilige Messe ebenso wie das Hören, Sprechen und Memorieren des Koran, erinnern nicht bloß das Initialereignis der eigenen Heilsgeschichte; vielmehr handelt es sich um mimetische Akte, in denen der Gläubige die Offenbarungssituation nacherlebt.“

Abschließend sei auf einen Koranvers verwiesen, Sure 24, 35, in dem beispielhaft zum Ausdruck kommt, wie Gott sich den Menschen als das Licht offenbart:

Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis Seines Lichts ist wie eine Nische, worin sich eine Lampe befindet. Die Lampe ist in einem Glas. Das Glas ist gleichsam ein glitzernder Stern – angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder vom Osten noch vom Westen, dessen Oel beinah leuchten würde, auch wenn das Feuer es nicht berührte. Licht über Licht. Gott leitet zu Seinem Licht, wen Er will. Und Gott prägt Gleichnisse für die Menschen, denn Gott kennt alle Dinge.

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