Bild: Ingrid Walpert

Kapitel 5: Welche Nähe brauchen Kinder und Jugendliche?

Im fünften Kapitel seines Buches stellt Helmut Schütz klar, dass kein Generalverdacht gegen Männer und insbesondere Väter aufgebaut werden darf. Kinder und Jugendliche brauchen nämlich Nähe, Zuwendung und Wertschätzung ihrer sexuellen Identität, auch von ihren Vätern.

Zum Gesamt-Inhaltsverzeichnis des Buches „Missbrauchtes Vertrauen“

Pfarrer Helmut Schütz
Pfarrer Helmut Schütz (Foto: Franz Möller)

Inhalt dieses Kapitels

Kinder brauchen intensive körperlich-seelische Zuwendung

Die Rolle der Väter in der Säuglings- und Kinderpflege

Die Wertschätzung der sexuellen Identität der eigenen Kinder

Anmerkungen zu diesem Kapitel

Kinder brauchen intensive körperlich-seelische Zuwendung

Nach all diesem Reden über Missbrauch und Gewalt muss nun noch einmal ausdrücklich betont werden, wie wichtig es ist, dass man nicht aus lauter Angst, Kindern zu nahe zu treten, sie überhaupt keine Nähe mehr spüren lässt. „Zur emotionalen und sexuellen Entwicklung des Kindes sind gefühlsmäßige Berührungen und Zuwendungen nicht nur erlaubt, sondern dringend notwendig und wünschenswert“ (1). Ich lasse zu diesem Thema eine Mutter zu Wort kommen, die selbst in ihrer Kindheit Missbrauch erfahren hatte: „Allmählich begann ich einzusehen, dass Körperkontakt mit den eigenen Kindern etwas Normales sei, ebenso dass man miteinander schmust. Manchmal habe ich mich gefragt, ob meine achtjährige Tochter es sexuell auffasst. Nicht weil ich sie an gewissen Stellen berühre, aber ich frage mich, wie weit ich eigentlich gehen darf, wann sie nein sagen wird. Die Kinder suchen den Körperkontakt. Mir ist klar geworden, wieviel Körperkontakt bedeutet.“ Wenn die gleiche Frau von sich selbst sagt: „Ich kann es immer noch nicht ertragen, wenn Leute den Arm um mich legen. Ich glaube jetzt nicht mehr, dass sie es tun, weil sie sexuell etwas von mir wollen – aber jetzt breche ich in Weinkrämpfe aus, weil ich die Geborgenheit so sehr brauche. Es tut gut, über all dies zu sprechen, aber ich muss immer wieder weinen, so viele Gefühle steigen in mir auf“ – dann wird deutlich, dass nicht nur der sexuelle Missbrauch selbst Schaden in einem Kind anrichtet, sondern mindestens in ebenso großem Ausmaß die Verweigerung von echter liebevoller Zuwendung, die mit dem Missbrauch immer einhergeht (2). Wieviel ist auch für die Erziehung gewonnen, wenn Eltern in ihrer eigenen Kindheit Geborgenheit erfahren konnten und dann auch keine Probleme damit haben, sich ihren Kindern gefühl- und liebevoll zuzuwenden! Diese elterliche Zärtlichkeit hat sozusagen generationenübergreifende Langzeitwirkung: „Das Kind lernt auf diese Weise eheliche Zuwendung und die ‚Bemutterung‘ und ‚Bevaterung‘ seiner Kinder am Modell“ (3).

Die liebevolle körperlich-seelische Zuwendung zum Kind ist so wichtig, dass ein Kind sozusagen seelisch verhungern kann, auch wenn kein körperlicher sexueller Missbrauch passiert. Zum Beispiel dann, wenn – vielleicht sogar aus Angst vor Übergriffen – die zärtliche Zuwendung zum Kind ganz unterbleibt. „Das Fehlen jeden Körper- und Berührungs-Kontaktes ist ein ganz spezifisches Problem der westlichen Zivilisationen“, schreibt der amerikanische Autor James Ramey, und er erläutert, dass „eine der Folgen dieses Verhaltens (abzuwehren und zurückzuweichen, um jedes inzestuöse Engagement zu vermeiden) jene Hektik ist, mit der sich amerikanische Jugendliche in sexuelle Aktivitäten stürzen. Viele junge Mädchen haben erklärt, dass diese sexuellen Erlebnisse die einzigen sind, bei denen sie spüren, ‚wirklich geliebt zu werden‘“ (4). Auch Ernest Borneman stellt fest, „dass das Liebesbedürfnis des Kindes frustriert wird, wenn seine Eltern weder miteinander noch mit dem Kind zärtlich umgehen. Der frustrierte Zärtlichkeitsbedarf solcher Kinder entlädt sich dann oft in den eindeutigen sexuellen Angeboten“ (5). In diesem Punkt ist ihm zuzustimmen, wenngleich daraus natürlich nicht zu folgern ist, dass diese Angebote den wirklichen Wünschen der Kinder entsprechen. Die Eltern bleiben auch in diesem Fall für die Sexualisierung der Eltern-Kind-Beziehung verantwortlich.

Die Rolle der Väter in der Säuglings- und Kinderpflege

Umgekehrt hat es auch eine vorbeugende Wirkung gegen sexuelle Übergriffe vor allem durch Väter, wenn sie von Anfang an in stärkerem Maße in die Pflege und Versorgung des kleinen Kindes einbezogen sind. Brenda Bary und Ron Ohlson „ermutigen beide Eltern, sich aktiv an der Säuglingspflege zu beteiligen, am Windelwechsel, Baden und Füttern. Man hat herausgefunden, dass bei solcher Fürsorglichkeit die Eltern-Kind-Bindung verstärkt wird und Inzest zwischen Vätern und Töchtern und sogar zwischen Stiefvätern und Töchtern weniger häufig vorkommt… Eine gesunde Eltern-Kind-Bindung trägt dazu bei, dass gesunde Grenzen leichter aufrechterhalten werden“ (6).

Josephine Rijnaarts begründet überzeugend, dass in der im allgemeinen größeren „Distanz zwischen Vater und Kind… eine mögliche Erklärung für die asymmetrische Verletzung des Inzesttabus“ liegt, und sie klagt mit Recht: „Die Arbeitsteilung der Geschlechter ist noch längst nicht überwunden“ (7). Thijs Besems und Gerry van Vugt stellen diese Theorie als einzige Erklärung in Frage. „Wenn diese Theorie stimmen würde, dann fragen wir uns, was mit den Stiefmüttern ist“, und es „müsste durch den zunehmenden Rollentausch Hausväter und arbeitende Mütter, eine Häufigkeit von Mutter-Sohn-Inzest auftreten. Dies ist uns bis jetzt unbekannt“ (8). Rijnaarts bezieht sich aber meines Erachtens auf psychosoziale Prägungen, die über Jahrtausende hin wirksam gewesen sind, und sich nicht innerhalb weniger Jahre zum Verschwinden bringen lassen.

Es gibt aber auch Stimmen, die den Trend zur Kinderpflege durch junge Väter misstrauisch beäugen. So unterstellen der Paderborner Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt und die Psychagogin Christa Meves der wachsenden Zahl von kinderpflegenden jungen Vätern pauschal, sie seien einer größeren Gefahr ausgesetzt, zu Missbrauchern zu werden.

Erzbischof Degenhardt geht dabei von einer völlig undifferenzierten Einschätzung und Abwertung der männlichen Psyche aus. „Wenn junge Männer stärker mit der Pflege von Kleinkindern betraut sind und dabei nackte, entblößte Körper ständig sehen, sie berühren und saubermachen müssen, ist die Gefahr groß, dass sie Begierden nicht widerstehen können. Der viele Körperkontakt mit dem jungen Kind bei der Pflege würde ihnen sicher oft zum Verhängnis werden. Und deswegen stellen wir fest, dass auch diese Konsequenz, dass Väter Hausmänner werden, auch negative Aspekte haben kann“ (9). Sarkastisch könnte man daraufhin fordern, dass doch in Zukunft Männer auch nicht mehr in der Krankenpflege und im Arztberuf eingesetzt werden dürfen!

Die abwertende Beurteilung der männlichen Fähigkeit, Kinder zu pflegen, erwächst aus einer Ideologie der „Pflegeinstinkte“, die der Psychagogin Meves zufolge angeblich „zu den natürlichen Vorgaben des Schöpfers an die Mutter“ – und nur an die Mutter – gehören. Meves behauptet sogar, dass erst jetzt, 1994, Fälle auftauchen „- und in meiner 30jährigen Arbeit ist das gänzlich neu, – bei denen nicht nur – wie in trauriger Üblichkeit Kinder und junge Mädchen lieben Onkeln zugelaufen sind, weil sie sich ihnen zuwendeten und sie mit Zeit, Geschenken und Liebe verwöhnten, so dass sie (aus Liebe) schließlich alles mit sich machen ließen, was sie ihnen antrugen, auch nicht mehr allein jene Fälle von Vätern, denen ihre erblühenden Teenager-Töchter zur traurigen Versuchung wurden – nein, so unbegreiflich es ist: es werden immer öfter Fälle vorgetragen, bei denen vom Missbrauch der Väter, der Lebensgefährten, der Stiefväter und Onkel an sehr kleinen Kindern berichtet wird: von Säuglingen, von Kindern im Krabbelalter! Wie das? In jedem der Fälle, die mir bekannt wurden, war die Vaterfigur ein Mann, der die berufstätige Mutter in voll akzeptierter Bereitschaft bei der Pflege des Kindes vertrat. Der viele Körperkontakt mit dem Kind bei der Sauberkeitspflege wurde diesen Vätern zum Verhängnis… Die Zahl der Mütter, die ihre Kinder sexuell missbrauchen, ist minimal, woraus sich schließen lässt, dass sie sich hier einmal mehr als die berufenen Pflegerinnen kleiner Kinder erweisen. Das nackte, entblößte Kleinkind stellt für sie keine sexuelle Versuchung dar, sondern aktiviert ihre Pflegeinstinkte“ (10).

An dieser ideologisch verblendeten Einschätzung stimmt fast alles nicht!

  1. Aus der eigenen beraterischen Erfahrung weiß ich, dass schon lange Väter auch Säuglinge missbraucht haben. Dirk Bange weist allerdings mit Recht auf die Schwierigkeit hin, „Zugang zu Erfahrungen der frühen Kindheit“ zu finden, „zumal sexueller Missbrauch im Säuglings- und Kleinkindalter allein über Sprache kaum zu erinnern ist, da Kinder in diesem Alter noch keine Worte und Begriffe für das kennen, was ihnen da passiert“ (11).
  2. Der sog. Pflegeinstinkt ist nicht auf Frauen beschränkt, wie ich aus eigener Erfahrung als Vater sagen kann. „Bei der Übernahme von Pflege- und Fürsorgeaufgaben in den ersten Lebensjahren stellt sich die Frage, ob Männer grundsätzlich die Fähigkeit haben oder entwickeln können, eine vollwertige Betreuung ihres Kindes zu übernehmen, also auch eine enge Beziehung zum Kind eingehen zu können ähnlich der Mutter-Kind-Symbiose. Nach meinem Wissen gibt es offensichtlich keine Forschungsergebnisse, die auf eine angeborene Unfähigkeit zur Betreuung des Kleinkindes bei Männern hinweisen… Die Chancen des Vater-Seins können wir darin sehen, sich mit seinen tröstenden und beschützenden Eigenschaften, aber auch mit den verletzbarsten und damit zutiefst menschlichen Selbstanteilen zu beschäftigen… Vielleicht können wir ein klein wenig dazu beitragen, dass mehr Männer wirklich Vater sein können und das heißt vor allem lieben und schenken können“ (12).
  3. Umgekehrt kann dieser „Instinkt“ nicht allgemein wirksam sein, da er offenbar manche Frauen nicht daran hindert, ihr Kind – auch schon das Baby, wie ich in mehreren Fällen erfuhr – in übelster Weise zu missbrauchen. Von zwei Frauen hörte ich, dass sie schon früh von ihrer Mutter missbraucht wurden. Eine durch ihren Vater missbrauchte Frau erinnerte sich im Laufe ihrer Therapie, dass dieser Vater seinerseits in der Pubertät von seiner Mutter missbraucht worden war. Thijs Besems und Gerry van Vugt wissen aus ihrer psychotherapeutischen Praxis, „dass auch Mutter-Sohn-Inzest stattfindet.“ Dass dies schon jahrhundertelang ein Thema sei, erschließen sie aus dem Märchen „Hänsel und Gretel“: Die Hexe, „eine erwachsene Frau, will jeden Tag Hänsels Finger fühlen, um festzustellen, ob er dicker wird. Wenn er dick genug ist, will sie ihn ganz fressen, was ja direkt auf einen Koitus hinweist. Völlig unverständlich und unerklärt in dieser Geschichte bleibt nämlich, warum die Hexe nur Hänsel täglich fühlen will und nicht Gretel fressen will“ (13). Dass bisher „die meisten Forscher… keinen einzigen Fall von Mutter-Sohn-Inzest gefunden“ haben, mag daran liegen, dass es für einen kleinen Jungen noch schwieriger als für ein Mädchen im Falle von Vater-Tochter-Inzest ist, „zwischen liebevoller Versorgung und Befriedigung der eigenen Bedürfnisse durch die Mutter“ zu unterscheiden. Insbesondere braucht die Mutter den Sohn nicht eindringlich darauf aufmerksam zu machen, dass ihre Berührungen ein Geheimnis gegenüber dem Vater bleiben müssen. „Die Gesellschaft und auch der Vater akzeptieren die völlige körperliche Versorgung durch die Mutter ohne Fragezeichen bis weit in die Pubertät. Deshalb gibt sie dem Geschehen auch nicht den Anschein, etwas Besonderes zu sein und so kann der Junge nicht bemerken, wann die Grenze seiner Intimität überschritten wird und die Mutter ihre eigenen Bedürfnisse erfüllt“ (14). Auch Helmut Kentler weist auf das Forschungsdefizit an diesem Punkt hin: „So gut wie gar nicht ist bisher untersucht worden, ob auch Jungen Opfer sexuellen Missbrauchs werden und ob bei ihnen nicht auch Frauen (womöglich sogar die eigenen Mütter) als Täterinnen in Frage kommen“ (15).
  4. Ob es unter den sog. „neuen Vätern“ überdurchschnittlich viele Missbraucher gibt, müsste empirisch überprüft werden; wenn ja, dann liegt es nicht am mangelnden Pflegeinstinkt, sondern daran, dass Jungen in allen bisherigen Gesellschaften einschließlich unserer bislang kaum daraufhin erzogen wurden, Verantwortung für Haus, Familie und Kinder zu übernehmen (noch immer spielen Jungen im Kindergarten in der Bauecke, nicht in der Puppenecke), und daran, dass die Minderheit der nichtberufstätigen Hausmänner unter erheblichem Druck steht, abgewertet zu sein, nirgends richtig dazuzugehören und Erfolg haben zu müssen (jedenfalls ist das mein Eindruck aufgrund persönlicher Erfahrungen mit einigen Hausmännern, die ich kenne). Und schließlich mag es in Einzelfällen pädophile Täter geben, die bewusst oder unbewusst planend die Hausmannrolle suchen, um im Ausleben ihres Triebes schon im Blick auf ganz kleine Kinder möglichst unentdeckt zu bleiben. Unter den bei Günther Deegener von Tätern genannten „Strategien der sexuellen Missbraucher bei der Auswahl und Überredung / Gefügigmachung der Opfer sowie der Aufrechterhaltung des sexuellen Missbrauchs“ (16) kommt dies zwar explizit nicht vor, es ist aber dennoch sehr gut denkbar. Das bestätigt jedoch indirekt, dass es keineswegs die Säuglingspflege durch Männer ist, die einen Mann erst dazu bringt, ein Missbraucher zu werden.

Mein Fazit: Es geht hier nicht um einen biologisch ein für allemal festgelegten Instinkt, sondern um ein von der patriarchalischen Gesellschaft seit Urzeiten fortgepflanztes, aber nicht unveränderbares Rollenmuster: „Wenn es etwas Universelles gibt, etwas, das durch die ganze Geschichte hindurch in allen Kulturen in gleicher Form geregelt wurde und wird, so ist es nicht das Inzesttabu (wie die Kulturanthropologen behaupten), sondern die Tatsache, dass Frauen die primäre Verantwortung für Erziehung und Versorgung der Kinder tragen“ (17).

Interessant ist, dass auch im Lager entgegengesetzter ideologischer Prägung, nämlich der feministisch orientierten Emanzipationsbestrebung, die zweifelnde Frage laut wird: „Sind Kinder in den Händen von Müttern und Erzieherinnen nicht besser aufgehoben und vor allem sicherer“ als in den Händen von „Männern, die diese patriarchale Gesellschaft tragen und repräsentieren“? Aber die „Forderung nach gleicher Beteiligung von Männern an Beziehungsarbeit“ wird ihr zufolge nur „dann völlig abwegig, …wenn wir davon ausgehen, dass sich in der sexuellen Gewalt das eigentliche Wesen der Geschlechterbeziehung ausdrückt. Für Frauen, die vorrangig oder ausschließlich im Gewaltbereich arbeiten, ist eine solche Sicht naheliegend, begegnet ihnen doch überall und ständig diese Gewalt. Ich halte allerdings diese Auffassung nicht nur für falsch, sondern auch für verführerisch., für traditionell und letztlich für selbstschädigend,“ denn, so begründet sie, „eine puritanische Ethik, in der der Frau Unwissenheit und Tugendhaftigkeit zugeordnet wird, dem Mann aber Macht und Leidenschaft, … macht die Männer für alles verantwortlich und delegiert an sie mit der Schuld auch die Macht. Sie werden dann zu den einzigen, die die Beziehung bestimmen und ihre Bedürfnisse ausleben. Damit verfestigt dieses Bild die Vorstellung von der selbstlosen Frau, die kein eigenes Begehren kennt.“ Rommelspacher beschreibt demgegenüber noch andere Bilder „von der Geschlechterbeziehung“ als das der Gewalt, „andere Bilder von Sexualität, von heterosexuellere Beziehung und elterlicher Verantwortung. Und diese Vorstellungen von Beziehungen gehen aus von gegenseitiger Achtung und Anerkennung, von der Möglichkeit ganzheitlicher Begegnung und gegenseitiger Liebe.“ Demgegenüber gilt es, darauf zu beharren, dass eine wirkliche Emanzipation der Frauen ebenso auch eine Emanzipation der Männer von ihren traditionellen Rollenbildfestschreibungen miterfordert, sonst entsteht eine rein egozentrische Gesellschaft, in der „keine Kinder vorgesehen“ sind, „keine Alten und Schwachen, kein Beziehungsbedürfnis, kein Wunsch nach Gegenseitigkeit und Mitmenschlichkeit.“ Eine Art der Emanzipation, die nur gesellschaftliche Befreiung und nicht auch Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft im Blick hat, hat daher letzten Endes doch schädliche Folgen. „Die ökonomische Selbständigkeit der Frauen setzt die Männer aus ihrer Verantwortung frei.“ Darin besteht nach Rommelspacher der „Januskopf der Emanzipation“ (18).

Die Wertschätzung der sexuellen Identität der eigenen Kinder

Nach Grethe Bruun gehört zum Entwicklungsprozess der Kinder, da sie in der Tat „sexuelle Wesen“ sind, auch „der Ausdruck und das ‚Halten‘ ihrer Sexualität“ (19). Das bedeutet: „Zur gesunden Beziehung zwischen Kindern und Eltern gehören Küsse, Umarmungen, Kitzelspiele, Kuscheln im Bett usw. Das ist wertvoller Austausch. Die elterliche Versorgung und Liebe wird zur Grundlage für die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes. Die Grenze zwischen Spiel und sexuellem Missbrauch darf dabei nicht überschritten werden. Die liebevolle Umarmung durch das kleine Kind, sein Experimentieren mit Küssen und Lecken müssen mit Wärme und nicht mit sexuellen Reaktionen und Forderungen beantwortet werden. Das kleine Mädchen möchte in den Augen ihres Vaters fröhlich gespiegelt werden und braucht es, dass er sein sexuelles Wesen ‚halten‘ (engl. contain) kann, ohne jemals auch nur an Missbrauch zu denken“ (20).

Vielen Eltern, besonders Vätern gegenüber ihren Töchtern, fällt es schwer, auf ihre Kinder auch in der Entwicklung ihres sexuellen Reifens und Fühlens angemessen zu reagieren. Ich kannte eine Patientin, deren Vater mit dem Beginn ihrer Pubertät plötzlich aufhörte, mit ihr zu schmusen und sie in den Arm zu nehmen, wodurch sie sich sehr verletzt fühlte und was sie sich nicht erklären konnte. Es ist leicht zu verstehen, dass sie später in vielen wahllosen Beziehungen zu Männern Liebe und Bestätigung gesucht hat, allerdings stattdessen immer nur enttäuscht oder vergewaltigt wurde (21).

In dieser Phase brauchen Jugendliche Klarheit über ihre eigenen sexuellen Gefühle, dass sie normal und gut sind, auch wenn sie sie nicht in die Tat umsetzen können. Dazu finde ich bei Rita und Blair Justice einen lesenswerten Abschnitt: „In jeder Phase der psychosexuellen Entwicklung des Kindes muss sie lernen, dass es zum Menschen dazugehört, sexuelle Gefühle zu haben, auch gegenüber ihrem Vater. Gefühle sind nicht richtig oder falsch, sie sind einfach da, um angenommen und verstanden zu werden. Gefühle in die Tat umzusetzen, ist etwas völlig anderes. Den Unterschied zwischen Gefühlen und Handlungen zu begreifen, ist eine der Hauptaufgaben des Kindes, und dazu braucht es beständige Unterstützung durch die Eltern“ (22).

Umgekehrt müssen sich die Heranwachsenden auch über die Gefühle und die Wertschätzung der Erwachsenen ihnen gegenüber im Klaren sein können. Bei Rolf Katterfeldt fand ich einen interessanten Hinweis auf die Einstellung von Carl Gustav Jung zu dieser Frage: „C. G. Jung (1958) weist darauf hin, dass Kinder durchaus erotische Wesen sind, die für eine gesunde Entwicklung auch merken müssen, wie erotisch sie auf ihre Eltern in ihrer aufkeimenden Sexualität wirken.“ Katterfeldt selbst merkt dazu an: „Es wird aber nicht leicht sein, eine Grenze zu ziehen zwischen unbelasteter erotischer Anziehung, in welcher Kinder ihren eigenen Raum schützen und mit der Zeit erweitern können und einer subtil übergriffigen und damit verwirrenden Atmosphäre“ (23). Aber muss das Erwachsenen unbedingt immer schwerfallen? Und warum werden in subtiler Weise die Kinder und nicht die Eltern verantwortlich dafür gemacht, sich selbst zu schützen?

Marianne Krüll scheint die erotische Ausstrahlung junger Mädchen in ihrer Wirkung auf männliche Familienangehörige nur in negativer Weise betrachten zu können: „Ich stelle mir vor, dass Väter, Brüder, Onkel, auch Großväter gar nicht anders können, als hin und wieder über ihre wohlgestalteten Töchter, Schwestern, Nichten, Enkelinnen als Sexualobjekte zu fantasieren“, und diese Bilder der Frau „als Sexualobjekt“ wirken einengend auf Frauen: „Sie zwingen uns, unseren Körper mit den Augen der Männer zu sehen, unsere eigene Sexualität nur noch unter dem Aspekt der Verfügbarkeit für den Mann zu erleben“ (24).

Aber es gibt auch väterliche und mütterliche Blicke auf die heranwachsenden Töchter in der Pubertät, die das Mädchen nicht zum Sexualobjekt machen, sondern in denen sich die Tochter sozusagen als eigenes Subjekt, als in ihrer Eigenart und Selbstverantwortlichkeit anerkannt und geliebt erkennen kann.

In diesem Sinne möchten die Transaktionsanalytiker Brenda Bary und Ron Ohlson Väter dazu ermutigen, ihre Tochter wertschätzend wahrzunehmen: „Der Vater braucht Ermutigung, um die hervortretende Schönheit, Weiblichkeit und Sexualität seiner Tochter zu würdigen und dabei weder ihre Grenzen zu überschreiten noch sich zu stark zurückzuziehen. Der Vater braucht selber Klarheit darüber und kann auch seiner Tochter nonverbal signalisieren, dass sie für ihn sexuell und körperlich attraktiv ist und dass er gleichzeitig sein Verhalten steuern kann, so dass er mit ihr unter keinen Umständen sexuell aktiv werden wird. Außerdem muss er klar zum Ausdruck bringen, dass er die Verantwortung für die Beziehung zur Tochter trägt, so dass sie sich sicher und beschützt fühlen kann. Er wird das in der Weise tun, indem er in allen Bereichen deutlich macht, dass er Gefühle hat, sich aber von diesen Gefühlen nicht zu impulsiven Handlungen hinreißen lässt. Wenn das gesichert ist, kann der Vater seiner Tochter Komplimente über ihr Aussehen oder über ihre Gedanken und Gefühle machen, ohne die Furcht, sexuelle Impulse auszuleben, und ohne die Notwendigkeit, sich wegen der zutagetretenden Wünsche der Tochter, in ihrer Sexualität gewürdigt zu werden, zurückzuziehen“ (25).

„Außerdem ist es gut“, so Bary und Ohlson, „wenn Vater und Mutter auch mit ihren Gefühlen zueinander offen umgehen und auf allen Ebenen klarstellen, dass sexuelle Befriedigung und Erfüllung und sexuelle Ausdrucksformen im Vater-Mutter-System ihren Platz haben und im Vater-Tochter-System nicht zur Verfügung stehen. Schließlich soll die Mutter auf die eigenen Schutzbedürfnisse und Rivalitätsgefühle achtgeben, so dass sie in wirksamer Weise das Wachstum und die Entwicklung ihrer Tochter fördern und würdigen kann“ (26).

Und was brauchen Söhne? Auch sie brauchen Wertschätzung in ihrer heranreifenden Männlichkeit. Eine Mutter, die Zurückhaltung oder Angst empfindet gegenüber dem Mann-Sein ihres Sohnes, erschwert ihm möglicherweise den Zugang zu seiner männlichen Potenz oder unterstützt unbewusst eine Haltung, die Männlichkeit mit Draufgängertum und Rücksichtslosigkeit gleichsetzt. Ein Junge braucht die Anerkennung, dass seine Männlichkeit gut ist, gerade indem er sie nicht gegen das Weibliche oder gegen die Frauen verteidigen, beweisen oder durchsetzen muss. Und es ist gut, wenn ein Vater dem Jungen vorlebt, dass es sich durchaus mit dem Mann-Sein verträgt, Gefühle zu zeigen, Nähe auch nicht-sexueller Art zu brauchen und zu geben und nicht immer im äußeren Sinne stark sein zu müssen.

„Viele Frauen haben in den letzten zehn, zwanzig Jahren sehr entscheidende und große Schritte aus dem Rollen-Leben heraus und hin zu mehr Mensch-Sein gemacht. Männer hinken dabei oft noch nach und kommen dabei in ein Dilemma: Einerseits sollen sie die alte Härte zugunsten von mehr Weichheit und mehr Menschlichkeit aufgeben – aber wo bleibt dann ihre eigenständige Identität als Mann? Gibt es zum Macho noch eine andere Alternative als den Softie? Gibt es eine Verbindung von männlicher Stärke und Kraft (im positiven Sinn) und von Weichheit und Gefühlsintensität? Und wenn es sie gibt, wie kommt ‚Mann‘ dorthin?“ In seinem Buch „Männer unter Druck“ versucht der österreichische Transaktionsanalytiker Klaus Sejkora, der wie Thomas Weil beziehungsorientiert und tiefenpsychologisch arbeitet, „einige Ideen und Ansätze zur Lösung dieser Fragen aufzuzeigen“ (27).

Beide Elternteile, Mutter und Vater, tragen eine große Verantwortung für ihre Kinder, Töchter wie Söhne, nicht nur, indem sie sich ganz selbstverständlich der Ausnutzung der Kinder für egoistische Interessen enthalten, sondern indem sie ihnen das Kostbarste schenken, was Menschen schenken können: liebevolle Nähe, die es den Kindern erlaubt, erwachsen zu werden als denkende, fühlende und Verantwortung tragende Menschen.

Anmerkungen

(1) Hans Joachim Schneider, Das verkannte Delikt. Sexueller Missbrauch an Kindern, S. 957. In: Universitas, 49. Jahrgang, Heft 10, 1994, S. 951-966.

(2) Nini Leick, Inzestopfer erzählen…, S. 48, wo sie die Erfahrungen von Lise, 30 Jahre alt, zitiert. In: Lone Backe, Nini Leick, Joav Merrick und Niels Michelsen (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern in Familien, Köln 1986, S. 39-51.

(3) Hans Joachim Schneider, Das verkannte Delikt. Sexueller Missbrauch an Kindern, S. 957. In: Universitas, 49. Jahrgang, Heft 10, 1994, S. 951-966.

(4) Zitiert nach Benjamin DeMott, Inzest. Der Angriff auf das letzte Tabu. In: Psychologie heute, Jahrgang 7, Heft 10, 1980, S. 16.

(5) Ernest Borneman, Kindersexualität, Kindesmissbrauch, Kinderprostitution, Pädophilie. Ein Beitrag zur Klärung der Begriffe, S. 122. In: Christian König, Gestörte Sexualentwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Begutachtung, Straffälligkeit, Therapie, München 1989, S. 120-128.

(6) Brenda Bary and Ron Ohlson, Counter-Incest: The Father-Daughter-Dilemma, S. 276f., in: Transactional Analysis Journal, Volume 15, No. 4, 1985, S. 275-277, „encourage both parents to participate actively in early infant care-taking behaviors such as diaper-changing, bathing, and feeding. This care-taking has been shown to increase parent-child bonding and to decrease the incidence of incest between fathers and daughters, and even between step-fathers and daughters… Healthy bonding may make healthy boundaries easier to maintain.“ Sie beziehen sich dabei auf eine Untersuchung von Parker & Parker in Psychology Today, March 1985, p. 10.

(7) Josephine Rijnaarts, Lots Töchter. Über den Vater-Tochter-Inzest, Düsseldorf 1988, S. 267 und 273.

(8) Thijs Besems und Gerry van Vugt, Wo Worte nicht reichen. Therapie mit Inzestbetroffenen, München 1990, S. 251.

(9) Zitiert im Artikel „Jetzt ist niemand sicher“ von Gisela Friedrichsen und Gerhard Mauz zum Krieg um den sexuellen Missbrauch, S. 109. In: Der Spiegel, Heft 25, 1994, S. 94-109.

(10) Christa Meves, Die Ideologisierung des sexuellen Missbrauchs von Kindern, S. 329f. In: Katholische Bildung, 95. Jahrgang, Heft 7/8, 1994, S. 330.

(11) Dirk Bange, Die dunkle Seite der Kindheit. Sexueller Missbrauch an Mädchen und Jungen. Ausmaß, Hintergründe, Folgen; Köln 1992, S. 111.

(12) Wolfram Kölling, Zur Rolle und Bedeutung des Vaters im Wandel der Familie, S. 190ff. In: Jugendwohl, 72. Jahrgang, Heft 4, 1991, S. 186-192.

(13) Thijs Besems und Gerry van Vugt, Wo Worte nicht reichen. Therapie mit Inzestbetroffenen, München 1990, S. 251.

(14) Ebenda, S. 254.

(15) Helmut Kentler, Täterinnen und Täter beim sexuellen Missbrauch von Jungen, S. 143. In: Katharina Rutschky und Reinhart Wolff, Handbuch Sexueller Missbrauch, Hamburg 1994, S. 143-156.

(16) Günther Deegener, Sexueller Missbrauch: die Täter, Weinheim 1995. – Klaus-Jürgen Bruder und Sigrid Richter-Unger, Monster oder liebe Eltern? Sexueller Missbrauch in der Familie, Berlin 1995, 136ff.

(17) Josephine Rijnaarts, Lots Töchter. Über den Vater-Tochter-Inzest, Düsseldorf 1988, S. 266.

(18) Birgit Rommelspacher, Der sex. Missbrauch als Realität u. Metapher, S. 25-27. In: Klaus Holzkamp u. a. (Hg.), Sexueller Missbrauch: Widersprüche eines öffentlichen Skandals, Forum Kritische Psychologie, Hamburg 1994, S. 21-32.

(19) Grethe Bruun, Sexueller Missbrauch in der Kindheit. Einzeltherapie und das Innere Kind im erwachsenen Klienten, S. 23, wo sie den Begriff des „Haltens“ auf Thore Langfeldt zurückführt. In: Energie & Charakter, Band 9, Berlin 1994, S. 21-26.

(20) Ebenda, S. 23f.

(21) Vgl. dazu das Kapitel „Inzestoide Familie“ und „Counter-Incest“ in dieser Abhandlung.

(22) Blair Justice and Rita Justice, The Abusing Family, New York 1976, S. 213: „In every stage of the child‘s psychosexual development, she needs to learn that having sexual feelings, including sexual feelings toward her father, is part of being human. Feelings are not right or wrong, they are just there, to be accepted and understood. Acting on feelings is a separate matter. Learning the difference between feelings and actions is one of the child‘s chief tasks and requires persistent guidance from parents“.

(23) Rolf Katterfeldt, Inzest: Eine traumatische Beziehung, S. 279. In: Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik, 38. Jahrgang, Heft 5, 1993, S. 280.

(24) Marianne Krüll, Feministisches Denken als Kritik am Sexismus in der Familientherapie und in der Gesellschaft, S. 91. In: Almuth Massing und Inge Weber (Hg.), Lust und Leid. Sexualität im Alltag und alltägliche Sexualität, Berlin / Heidelberg / New York 1987, S. 79-102. Vgl. dazu auch die Auffassung von Christiane Olivier, Jokastes Kinder. Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter. Aus dem Französischen von Siegfried Reinke, 6. Auflage, München 1991, S. 62.

(25) Brenda Bary and Ron Ohlson, Counter-Incest: The Father-Daughter-Dilemma, S. 276f., in: Transactional Analysis Journal, Volume 15, No. 4, 1985, S. 276: „Father needs encouragement to validate his daughter‘s emerging beauty, feminity, and sexuality without invading her boundaries or withdrawing too intensely. Father needs to be clear himself and to give nonverbal clues to his daughter that she is sexually and physically attractive to him and that he is in charge of his behavior so that under no circumstances will he become sexually active with her. In addition, he must communicate clearly that he will be in charge of that process so she can feel safe and protected. He will do this by showing in all areas that he has feelings, but that he is not run by them and does not engage in scary, impulsive acting out. Being assured of this, father may compliment his daughter on how she looks as well as how she thinks and feels without fear of acting upon sexual impulses or needing to withdraw because of his daughter‘s emerging desire for sexual validation.“

(26) Ebenda: „In addition, father and mother must be openly affectionate with one another, making it clear on both social and psychological levels that sexual satisfaction, gratification, and expression are taking place in the father-mother system and are not available in the father-daughter system. Finally, mother must take care of both her own inner needs for security and her competition so she can effectively affirm and validate her daughter‘s own growth and development.“

(27) Klaus Sejkora, Männer unter Druck. Wege aus typisch männlichen Lebenskonflikten, Salzburg 1989, S. 8.

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.