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Ostern im Lockdown

Wird durch Ostern das jüdische Passahfest gar nicht himmelhoch überboten? Auch Juden glauben an Auferstehung. Ist Ostern das Fest der weltweiten Befreiung durch den Messias Jesus, die am „Tag eins“ der neuen Schöpfung bescheiden damit beginnt, dass er seine Jünger dazu auffordert, seinen „heiligen Geist“, die Inspiration der Heiligung, anzunehmen, um durch die Solidarität der agapē die Weltordnung zu überwinden?

Ein Kreuz aus zwei Holzstücken, auf denen ein Herz aus Stein liegt, von dem Strahlen ausgehen.
Wird es Ostern, wenn Menschen die Inspiration zur weltverändernden Solidarität annehmen, die Jesus ihnen durch seinen Tod am Kreuz übergibt? (Bild: congerdesignPixabay)

Das zweite Osterfest in Folge steht für viele Christen im Zeichen des Lockdown. Auch wenn im Jahr 2021 deutsche Kirchen Präsenzgottesdienste anbieten dürfen und einige Gemeinden das auch tun, werde ich wie viele andere lieber zu Hause bleiben.

Aber ich bin dankbar, dass wir uns mit Hilfe des Internet gedanklich und geistlich in Verbindung setzen können. Ganz persönlich freue ich mich darüber, dass genau an Karfreitag, am 2. April 2021, meine Homepage https://bibelwelt.de bereits seit 20 Jahren besteht.

Ostern im Lockdown – zu diesem Thema fällt mir auf, dass schon in der Bibel von einem Lockdown an Ostern die Rede ist, und zwar im Johannesevangelium, mit dem ich mich seit August sehr intensiv beschäftige.

Da heißt es im Kapitel 20, Vers 19a, in der Übersetzung von Ton Veerkamp:

Es war spät geworden,
an jenem Tag eins der Schabbatwoche,
und dort, wo die Schüler waren,
waren die Türen aus Furcht vor den Judäern verschlossen.

Was sagen uns diese Verse?

1. Ostern fängt nicht schon am Ostermorgen an

Was hat Johannes vom Ostertag bisher erzählt? Petrus und der Schüler, mit dem Jesus befreundet war (wir nennen ihn Johannes, weil der Schreiber des Johannesevangeliums später mit dem Jünger Johannes aus den anderen Evangelien gleichgesetzt wurde; im Evangelium selbst nennt er sich nirgends so), erreichen zwar das Grab Jesu in einem regelrechten Wettlauf, nachdem sie von Maria Magdalena informiert worden sind, dass es leer ist. Aber was hier passiert, verstehen sie nicht, weil sie es nicht von den biblischen Schriften her begreifen. (Johannes 20,1-10)

Dann begegnet Jesus der Jüngerin Maria aus Magdala. Sie erkennt ihn erst, als er sie mit Namen anspricht, und er teilt ihr mit: „Ich bin noch nicht aufgestiegen zum Vater.“ Aber wann wird denn sein Aufstehen aus dem Grab, sein Aufsteigen zum Vater, beendet sein? Das sagt er nicht. Er fügt nur hinzu: „Ich steige zum Vater auf.“ Das soll sie den Jüngern sagen, und sie tut es. (Johannes 20,11-18)

Nun ist es bereits spät geworden. Was machen die Jünger? Feiern sie fröhliche Ostern, freuen sie sich über die Auferstehung Jesu? Nein, sie sitzen im Lockdown. Hinter verschlossenen Türen. Sie haben Angst.

2. Lockdown „aus Furcht vor den Juden“?

Warum dieser Lockdown? Johannes sagt: „aus Furcht vor den Judäern“. In allen gängigen Übersetzungen steht: „vor den Juden“. Das ist merkwürdig, denn die Jünger sind doch auch Juden. Und ziemlich sicher besteht auch die Gemeinde des Johannes, als er sein Evangelium gegen Ende des 1. Jahrhunderts schreibt, immer noch vor allem aus jüdischen Menschen. Warum also diese Furcht von Juden vor Juden?

Johannes und seine Gemeinde glauben fest daran, dass nur das Vertrauen auf den Messias Jesus die neue Weltzeit herbeibringt, in der endlich Freiheit, Recht und Frieden herrschen und das Römische Reich mit all seiner Bedrückung und seinen falschen Göttern überwunden ist. Wir sollten diese Leute um Johannes noch nicht „Christen“ nennen, sondern lieber „jüdische Messianisten“, weil sie sich noch nicht als andere Religion vom Judentum abgrenzen. Gerade deswegen sorgen sie in ihren Synagogen für eine Menge Diskussionen und wohl auch Aufruhr. Denn die Mehrheit der inzwischen von Rabbinen geführten Juden (diese führende Schicht geht auf die Pharisäer zurück, die nach der Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels im Jahr 70 als einzig einflussreiche jüdische Partei übrig geblieben sind) wollen von messianischen Abenteuern nichts wissen, die das römische Regime herausfordern. Sie haben, und zwar durchaus mit Recht, die Befürchtung, der Status des Judentums als „erlaubte Religion“, religio licita, könnte durch diese Unruhestifter in Frage gestellt werden. So nehmen Konflikte in ihrer Schärfe zu, hier und da schließt man Messianisten aus der Synagoge aus. Das wiederum entzieht den Jesus-Anhängern, die sich selbst als Juden verstehen, nicht nur ihre religiöse und kulturelle Heimat, sondern auch den Schutz vor Übergriffen aus der nichtjüdischen Bevölkerung.

All diese Erfahrungen schreibt Johannes in die Situation der Jünger hinein, die er am Abend des ersten Ostertages hinter verschlossenen Türen sitzen sieht, „aus Furcht vor den Juden“. So ist es damals auch schon, will er sagen. Schon damals hält man Jesus für einen gefährlichen Unruhestifter, so sagen jedenfalls die führenden Priester der Provinz Judäa: „Wenn man Jesus gewähren lässt, nehmen die Römer uns den Tempel und den Rest an Freiheit, den wir noch haben!“ (Johannes 11,48) Letzten Endes, so Johannes, setzen die Priester den Kaiser an die Stelle Gottes, wenn sie zu Pilatus sagen: „Wir haben keinen König als den Kaiser!“ (19,15) Sie sind es auch, die den Statthalter des Kaisers dazu bringen, Jesus zu kreuzigen. Vor dieser judäischen Führung haben die Jünger Angst und vor Juden, die sie als Jesus-Anhänger denunzieren könnten.

3. Gelingt es Jesus, den Lockdown zu überwinden?

Trotz verschlossener Türen erfahren die Jünger die Nähe Jesu (Johannes 20,19b-22):

Da kam Jesus, stellte sich in die Mitte,
und sagt ihnen: „Friede mit euch!“
Als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und die Seite.
Die Schüler freuten sich, als sie den HERRN sahen.
Noch einmal sagte Jesus ihnen: „Friede mit euch!
Wie der VATER mich gesandt hat, so schicke ich euch.“
Als er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagt ihnen:
„Nehmt an Inspiration der Heiligung.“

Jesus unternimmt eine ganze Menge, um die Furcht seiner Jünger zu überwinden.

Erstens sagt Jesus seinen Jüngern Frieden zu. Und indem er das tut, zeigt er ihnen die Wunden, die ihm römische Soldaten geschlagen haben. Sein Friede ist stärker als die Gewalt Roms. Müsste er nicht auch stärker als die Furcht vor den Juden sein?

Die Jünger sehen Jesus und freuen sich. Aber sagen tun sie nichts.

Zweitens wiederholt Jesus seinen Friedenswunsch. Dieses Mal verbindet er ihn mit einer Aussendung. So wie der Vater, der befreiende Gott Israels, ihn in die Welt gesandt hat, so schickt Jesus jetzt auch seine Jünger in die Welt.

Von einer Reaktion der Jünger ist mit keinem Wort die Rede.

Drittens haucht Jesus seine Jünger an, so wie Gott es tut, als er adam, den Menschen, erschafft. Er will sie zu neuem Leben erwecken, aus ihrer lähmenden Erstarrung befreien. Zugleich sagt er ihnen: „Nehmt an Inspiration der Heiligung.“

Und wieder reagieren die Jünger nicht, außer dass sie dem Thomas, der bei ihrer Begegnung mit Jesus gefehlt hat, erzählen: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Aber nicht einmal, dass sie sich darüber gefreut haben, finden sie einer Erwähnung wert.

Mir fällt auf: Ich habe mich immer so sehr auf den Zweifel des Thomas konzentriert, dass mir die Null-Reaktion der anderen Schüler gar nicht aufgefallen ist. Sie freuen sich zwar: Schön, dich noch einmal zu sehen! Aber aussenden lassen sie sich nicht. Sie brechen nicht auf. Hinter verschlossenen Türen bleiben sie sitzen, in ihrer Furcht.

4. Das Bekenntnis des Zweiflers im zweiten Lockdown

Auch acht Tage später ist der Lockdown in der Runde der Jünger Jesu immer noch nicht vorbei. Wieder sind sie versammelt hinter verschlossenen Türen (20,26-28):

Und nach acht Tagen waren seine Schüler wieder drinnen,
auch Thomas war bei ihnen.
Jeschua kam – die Türen waren verschlossen –,
stellte sich in die Mitte und sagte:
„Friede mit euch!“
Dann sagte er zu Thomas:
„Nimm deinen Finger hierhin, sieh meine Hände,
nimm deine Hand und stecke sie in meine Seite,
werde nicht zum Treulosen, sondern zum Getreuen.“
Thomas antwortete, er sagte zu ihm:
„Mein HERR und mein GOTT!“

Zum dritten Mal spricht Jesus den Friedensgruß.

Den Thomas lässt er seine Wunden nicht nur sehen, sondern auch befühlen. Er darf, er muss be-greifen, was eine Welt, erfüllt von Hass und Gewalt, dem Menschen antut, der vom befreienden Gott gesandt worden ist, um agapē, Liebe, Solidarität, in die Welt zu bringen.

Ausgerechnet der Zweifler Thomas spricht nun das Bekenntnis aus: „Mein Herr und mein Gott!“
Er sagt nicht: „Nun glaube ich endlich, dass du wirklich auferstanden bist“, was wir am meisten mit Ostern verbinden.

Er macht auch nicht Jesus zu einem zweiten Gott neben dem Gott Israels. Sondern er bekennt: Nicht der römische Kaiser, der sich „HERR und GOTT“, dominus ac deus, nennen lässt, heißt mit Recht so, sondern in diesem gekreuzigten Jesus verkörpert sich der einzige HERR und GOTT, den es gibt, der befreiende NAME des Gottes Israels. Die agapē, die Liebe, Solidarität, die hier sichtbar und fühlbar wird, ist stärker als alle menschliche Gewalt, als jeder Hass.

Trotzdem verharren die Jünger noch immer hinter verschlossenen Türen. Sie lassen sich nicht aussenden. Im Schluss-Kapitel des Johannesevangeliums, etwa später angehängt, erfahren wir sogar, dass sie wieder ihrem früheren Beruf nachgehen, als Fischer in Galiläa, weit weg von Jerusalem.

5. Ostern als Auferstehungsfest oder als „Tag eins“ einer neuen Schöpfung?

Aber was ist eigentlich die Osterbotschaft des Johannesevangeliums? Freude kommt für einen Augenblick auf, wenn die Jünger Jesus sehen. Aber nirgends betont Johannes das, was uns Christen als das Wichtigste an Ostern erscheint: Dass Jesus wirklich von den Toten auferstanden ist.

Meint Johannes mit Ostern vielleicht etwas ganz anderes?

Nirgends in den Evangelien gibt es ja das Wort Ostern. Es gibt nur das jüdische Passahfest. Aber wir Christen denken oft: Durch Jesus Christus wird das jüdische Passah himmelhoch überboten. Juden feiern Passah als Fest der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Wir Christen feiern Ostern als Siegesfest über den Tod.

Ist das nicht aber ein Denkfehler? Glauben nicht auch Juden an den Sieg Gottes über den Tod? Bezeugen nicht schon die Propheten Jesaja (26,19), Ezechiel (37) und Daniel (12,2) die Auferstehung des toten Israel und der Gerechten am Ende der Tage? Ist Jesus nicht mit den pharisäischen Schriftgelehrten über den Auferstehungsglauben einig (Lukas 20,39)? Ist nicht der Glaube an die Auferstehung eine Gemeinsamkeit, die wir selbstverständlich mit den Juden teilen? Wenn wir an den lebendigen Gott der Treue und Liebe glauben, ob als Juden oder Christen, müssen wir keine Angst vor dem Tod haben, weil wir in ihm geborgen und getragen bleiben, auch im Tod.

Wenn das aber so ist, was ist dann das Außergewöhnliche, das Neue, das Johannes am Tag eins der Schabbatwoche erwartet? Warum benutzt er überhaupt diesen ungewöhnlichen Ausdruck Tag eins? Er müsste doch nicht mia, „eins“, schreiben, sondern könnte auch protē, am „ersten“ Tag der Woche sagen. Hier muss man allen gängigen Bibelübersetzungen ankreiden, dass sie schlicht falsch übersetzen. Dadurch machen sie unsichtbar, dass Johannes hier an den Anfang der Schöpfungsgeschichte erinnert. Denn auch dort, Genesis 5,1, steht hēmera mia, „Tag eins“, für den ersten vollendeten Tag der Schöpfung. Hier fängt also eine neue Schöpfung an!

6. Ostern als ein neues Passah, ein weltweites Befreiungsfest des Messias Jesus?

Schöpfung ist aber in den Schriften der Juden gleichbedeutend mit Befreiung. Die Schöpfung ist erst vollendet, wenn überall auf der Erde Schalom herrscht, Freiheit, Recht, Frieden. Nach Johannes beginnt also mit dem Aufsteigen Jesu zum Vater am „Tag eins“ der neuen Schöpfung ein neues Passah der Befreiung von der herrschenden Weltordnung. Das alte Passahfest der Juden ist damit nicht überholt. Es geht immer noch um Befreiung aus jeglicher Sklaverei. Aber wenn menschenunwürdige Verhältnisse, Unrecht, Krieg weltweit herrschen (und so wurde es spätestens im Hellenismus und im Römischen Reich, und daran hat sich bis in die Zeit unseres liberalen Kapitalismus nichts geändert), dann kann man nicht mehr aus der Unterdrückung fliehen und woanders ein Land aufbauen, wo nur die Torah des Friedens herrscht. Diese Illusion werfen die Jesus-Anhänger von Paulus bis Johannes den rabbinischen Juden vor: Ihr wollt immer noch die Trennung Israels von den Völkern. Ihr wollt in einer Nische der herrschenden Weltordnung überleben.

Wie sehr weltweite Strukturen des Unrechts und des Egoismus auch eine weltweite Pandemie, wie wir sie seit einem Jahr erleben, durchdringen und verschärfen, wird überdeutlich, wenn wir nur überlegen, wen ein Lockdown am härtesten trifft, welche Bevölkerungsschichten überdurchschnittlich von Ansteckung bedroht sind, welche Länder sich bei der Verteilung der Impfdosen hinten anstellen müssen und wer mit dem Elend der Pandemie profitable Geschäfte macht.

Aber wie stellt sich Johannes das vor: Ostern als ein weltweites Befreiungsfest?

Johannes weiß, dass messianische Bewegungen des militärischen Aufstands gegen die herrschende Weltordnung zum Scheitern verurteilt sind. Er hat den Aufstand der Zeloten gegen Rom im Judäischen Krieg erlebt, den die Römer brutal niedergeschlagen haben bis hin zum Untergang des jüdischen Tempels. Darum ist sein Evangelium voller Kritik an jedem Anschein, Jesus könnte ein Messias nach Art dieser Zeloten sein. So viele messianische Titel er auch für Jesus verwendet – König Israels, Befreier, Menschensohn, Sohn Gottes – nirgends spricht er vom Davidssohn, nicht einmal vom Geburtsort Bethlehem, stattdessen erinnert er an das Lamm Gottes (Jesaja 53,7), das zur Schlachtbank geführt wird.

Das heißt – um Ostern als Befreiungsfest im Sinne des Johannes zu begreifen, müssen wir zum Karfreitag zurückkehren. Jetzt wird vielleicht auch klar, warum ich diese Gedanken zum Oster-Lockdown schon zum Karfreitag veröffentliche.

7. Die „Inspiration der Heiligung“ wird übergeben – wird sie auch angenommen?

Begleiten wir also Johannes am Karfreitag. Er selbst sieht sich ja als Zeuge beim Kreuz Jesu stehen, und er hört die Worte, die Jesus im Augenblick seines Todes spricht (Johannes 19,30):

„Das Ziel ist erreicht.“
Er neigte seinen Kopf,
er übergab die Inspiration.

Das ist dem Johannes wichtig. Jesus übergibt den Geist, hebräisch ruach, griechisch pneuma. Damit ist biblisch gemeint: ein Atem des Lebens, ein frischer Wind, der Veränderung bringt. Ist hier nur gemeint, dass Jesus den Atem des Lebens Gott zurückgibt? So steht es in manchen deutschen Bibeln: „Er gab den Geist auf.“ Und Luther übersetzt freier: „Er verschied.“ Aber wörtlich steht da: „Er übergab den Geist, die Inspiration“. Genau dieses Wort benutzt Jesus am Abend von „Tag eins“ (20,22):

„Nehmt an Inspiration der Heiligung.“

Was er am Kreuz übergeben hat, das soll am „Tag eins“ empfangen, angenommen werden, eine Inspiration, die „heilig“ macht. Und „heilig“ sind nach 3. Mose 20,7-8 diejenigen, die den Willen Gottes tun:

Heiligt euch und werdet zu Heiligen,
denn ICH BIN ES, der NAME, euer Gott.
Ihr sollt meine Gesetze wahren, sie tun,
ICH BIN ES, der NAME, der euch heilig macht.

Jesus hat das nicht rückgängig gemacht, er fasst es zusammen in seinem Gebot der agapē. Er will zur Liebe inspirieren, zur Solidarität, zum Füreinandereinstehen. Wir können es auch christlich-dogmatisch ausdrücken: Gott selbst, sein Geist will uns erfüllen, in Bewegung versetzen. Inspirationspartikel von Gott wollen uns durchfluten, um lähmende Furcht, tödlichen Hass, resignierende Gleichgültigkeit zu überwinden.

Insofern gehören Karfreitag und Ostern bei Johannes als ein und dasselbe Ereignis zusammen: Übergabe und Empfang der Inspiration. Ostern als neues Passah der Befreiung beginnt dort zu geschehen, wo die Inspiration der Treue des Gottes Israels, die Jesus am Kreuz übergibt, angenommen und weitergegeben wird.

Das bedeutet aber auch: Nach Johannes ist die Auferstehung Jesu, das Aufsteigen des Messias zum Vater, kein inzwischen vergangenes Ereignis. Auch uns lässt Jesus durch Maria Magdalena ausrichten: „Ich bin noch nicht aufgestiegen zum Vater, aber ich steige auf“ (20,17), und das geschieht dort, wo ihr euch dazu inspirieren lasst, agapē, Liebe, Solidarität in die Tat umzusetzen.

8. Ein Kirchenführer, der sich gürten lässt zum Sklavendienst der Solidarität

Aber wo steht im Johannesevangelium ausdrücklich, dass die Jünger Jesu die Inspiration der Heiligung, der agapē, tatsächlich annehmen? Wo lassen sie sich aussenden?

Erst im Schluss-Kapitel ist davon die Rede. Noch ein drittes Mal muss Jesus sich den Jüngern öffentlich zeigen. Sie mühen sich ab in ihrem früheren Beruf als Fischer, sogar erfolglos in dieser Nacht. Erst als sie auf Jesus hören, machen sie einen überreichen Fang, der den Hunger der Völker stillen könnte. (Johannes 21,1-14)

Im Schluss-Kapitel heißt es dann auch, dass Petrus als Anführer und Vorbild der Gemeinde sich nicht mehr selbst gürtet zum Kampf für den Messias mit dem Schwert in der Hand (18,10); dieser Einsatz ist ja damit zu Ende gegangen, dass er Jesus aus Selbstschutz verleugnen muss (18,18.25.27). „Ein anderer wird dich gürten“, sagt Jesus (21,18). Von Jesus selbst lässt Petrus sich mit dem Dienst der solidarischen agapē beauftragen, so wie Jesus sich gürtet, als er seinen Jüngern wie ein Sklave die Füße wäscht (13,1-17).

Das steht aber erst im Schluss-Kapitel des Johannesevangeliums. Im Anhang. Als ob jede neue Generation von Menschen, die auf Jesus hören wollen, ihren eigenen Ausweg aus der Furcht finden müssten, ihren eigenen Mut zur Solidarität.

9. Vom urchristlichen Leben im Lockdown der Katakomben

An Ostern selbst herrscht im Johannesevangelium der Lockdown. Zwei Mal.

Und erst jetzt, im Zeichen des Lockdowns unserer Tage, der corona-bedingt häufiger notwendig wäre, als er tatsächlich angeordnet wird, wird mir klar, warum es für die Jünger so schwer ist, den Raum hinter den verschlossenen Türen zu verlassen. Sie befinden sich ja tatsächlich in einer Situation der Verfolgung, die noch lange andauern wird. Auf tragische Weise läuft ihre Furcht vor den rabbinischen Juden darauf hinaus, dass aus jüdischen Messianisten schon bald mehrheitlich Heidenchristen werden, die sich mehr und mehr vom Judentum abgrenzen – bis hin zum pauschalen Vorwurf, sie alle seien Christusmörder.

Zunächst aber leben diese Christen noch Jahrhunderte lang selbst als immer wieder Verfolgte im Untergrund des Römischen Reiches. Diese Situation im Lockdown der Katakomben und in einem Leben unter der Weltordnung, aber nicht abhängig von der Weltordnung, trägt ihnen den Ruf ein, nicht nur agapē, Liebe, Solidarität, zu predigen, sondern auch zu leben. Ton Veerkamp sagt in seinem Buch Die Welt anders, S. 384, dass diese christliche Gemeinde offenbar ein Ort war,

an dem man Halt und Unterstützung fand. Zwar blieben Sklaven Sklaven, Frauen Frauen, Reiche reich, Arme arm, aber niemals elend, vielmehr bereiteten sich alle auf ein ewiges Leben vor, in dem alle unterschiedslos gleich sein würden. Und diese Erwartung wirkte sich in einer gewissen gegenseitigen Hochachtung aus.

So gesehen müssen Zeiten des Lockdowns nicht Zeiten der Hoffnungslosigkeit sein. So wie es damals sinnvoll war, dass sich Christen in den Katakomben vor Verfolgungen geschützt haben, ist es heute sinnvoll, Kontakte extrem zu beschränken, um die Entwicklung der Pandemie einzudämmen.

Und wenn wir traurig sind, dass an Ostern keine gemeinsame Feier mit vielen Menschen in der Kirche möglich ist, auch keine große Familienfeier mit allen Kindern, Enkeln, mit Verwandten und Freunden, dann dürfen wir uns erinnern: Lockdown an Ostern gab es schon am „Tag eins“ des Osterfestes überhaupt! Und dieser Lockdown hat nicht verhindert, dass Inspirationspartikel des Gottes der Befreiung und Solidarität dann doch Menschen wie Petrus in Bewegung setzen.

10. Lasst euch inspirieren von der Barmherzigkeit Gottes!

Sehr langer Rede sehr kurzer Sinn:

Ostern, wie der Evangelist Johannes es versteht, ist kein Fest der Überbietung anderer Religionen, sondern ein Fest der Überwindung von tödlichen Mächten.

In diesem Sinne wünsche ich den Christinnen und Christen unter euch und Ihnen einen gesegneten Karfreitag und frohe Ostern als Fest der agapē Jesu, der Befreiung, der Liebe, der Solidarität!

Und euch und Ihnen allen möchte ich sagen: Lasst euch inspirieren von der Barmherzigkeit Gottes, wie ihr sie versteht, ob nun von Jesus oder von Mose oder auch von Muhammad her!

Ihr und euer Pfarrer Helmut Schütz

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