Bild: Familie Treblin/Ebling

Umkehr zur Proexistenz

Das Vermächtnis Werner Schmauchs als Wegweisung heute

Treblin-Heinrich
Pfarrer Heinrich Treblin

In diesem Jahr wäre ein Mann 80 Jahre alt geworden, dessen Leben und Wirken man unter dem von ihm gefundenen Begriff der „Proexistenz“ zusammenfassen könnte. Die Rede ist von dem schlesischen Pastor der bekennenden Kirche und späteren Greifswalder Universitätsprofessor D. Werner Schmauch. Als Schüler des Neutestamentlers Ernst Lohmeyer (dessen Nachlass er betreut hat) und ebenso entscheidend geprägt durch Karl Barth und die „Barmer Theologische Erklärung“ (die er immer wieder ausgelegt hat) gab er nach 1933 die angestrebte Hochschullaufbahn dran, weil es ihm wichtiger erschien, die illegalen Theologiestudenten auszubilden. Mit dem Bruderrat blieb er im polnisch gewordenen Schlesien und versorgte unter schwierigsten Umständen als Dekan für Niederschlesien die verbliebenen Restgemeinden, denen er auch während und nach der Austreibung aus der Heimat brüderlich-seelsorgerlich nahe blieb. Erst 1950 war es ihm möglich, in der DDR als akademischer Lehrer tätig zu werden. Aber auch hier lehrte und forschte er nicht im Elfenbeinturm abstrakter Theologie, sondern bezog die menschliche und politische Situation seiner Hörer stets in die Auslegung der evangelischen Botschaft mit ein. Wie er ohne Rücksicht auf seine körperliche Schwachheit in der Nazizeit Gefängnishaft und nach 1945 Schikanen polnischer Behörden auf sich genommen hatte, so verzehrte er sich auch jetzt in diesem „prophetischen“ Dienst an den weithin verstört-ratlosen Menschen dieser Tage. Er scheute keine Reise auch über die Grenzen, wenn man ihn zu Predigten und Vorträgen rief, zeigte durch sein eigenes Beispiel, dass Gottes Wort geographische und ideologische Schranken überwindet. In Ost und West hat er ohne Berührungsängste mit Liberalen wie mit Marxisten gesprochen und besonders die Kirchen davor gewarnt, ihre eigene Existenz durch Anpassung an staatliche Mächte sichern zu wollen, statt als „eschatologische Jüngergemeinde Jesu“ im Blick auf das kommende Gottesreich ganz für alle Menschen da zu sein. Die Bindung an Christus allein gab ihm die Freiheit, seine theologische Existenz als Proexistenz für die Welt in Wort und Tat zu verstehen. In diesem Sinne war er auch als Vizepräsident der Prager Friedenskonferenz tätig, bis ihn 1964 ein früher Tod abrief.

In einem Augenblick, da die Christenheit in unserem Lande angesichts erneuter Polarisierung von „Rechten“ und „Linken“, Konservativen und Progressiven, Liberalen und Sozialisten zunehmend stärkerer Verunsicherung ausgesetzt ist, da längst überwundene konfessionelle Fronten zwischen reformiert und lutherisch sich wieder verhärten, da Evangelikale zu einem neuen Kirchenkampf aufrufen, könnte die Beschäftigung mit Werner Schmauch eine große Hilfe sein (die wichtigsten Schriften Werner Schmauchs sind unter dem Titel „Koexistenz? Proexistenz!“ erschienen bei H. Reich-Hamburg, jetzt Eulendorf-Verlag Hardebek. Hier zitiert als KoP). Hat er doch schon damals gezeigt, wie für den, der die biblische Botschaft ernstnimmt, Christusnachfolge und Weltverantwortung (um die beiden Schlagworte unserer Tage zu nennen) untrennbar zusammengehören. Für einen selbstgenügsamen Heilsegoismus, der die Welt sich selber (und den Mächten des Bösen) überlässt, bietet das Neue Testament ebensowenig eine Rechtfertigung wie für einen selbstherrlichen Weltverbesserungsaktivismus. sei es liberal-demokratischer, sei es sozialistischer Prägung, dem es auch nur um die Erhaltung und Sicherung der eigenen privaten oder kollektiven Existenz geht. Weil Gott in Jesus Christus die Welt geliebt und durch Hingabe seines Sohnes die Welt erlöst hat, kann es der Kirche als der Jüngergemeinde Jesu nicht darum gehen, das eigene Leben zu erhalten, sondern es zum Heil und Wohl der Welt in uneingeschränkter Liebe zu allen hinzugeben. Weder Weltflucht (zu der die Evangelikalen neigen) noch Anpassung an die Praktiken der Welt und ihre Versuche, auch mittels tötender Gewalt Leben und Frieden zu sichern (was Lutheraner und Reformierte mit ihrer Zweireichemoral dort, dem christokratischen Staatsverständnis hier praktizieren), sondern allein die Umkehr zu einem christusgemäßen Leben inmitten dieser Welt und in Aufgeschlossenheit für ihre Nöte und Sorgen vermag ihr wirklich zu helfen.

Gottes Reich als Horizont menschlichen Handelns

In Anknüpfung an die Einsichten Werner Schmauchs sei nun versucht, die Bedeutung der Proexistenz als Schlüssel für eine ganzheitliche Bezeugung der biblischen Botschaft in dieser Welt aufzuzeigen. Die Auseinanderreißung von Glauben und politischem Handeln, die für die gegenwärtige kirchlich-theologische Auseinandersetzung charakteristisch ist, hat nicht zuletzt darin ihre Ursache, dass beide Gesprächspartner meinen, der andere vernachlässige eine wesentliche Dimension christlicher Existenz, entweder den „Frieden mit Gott“ oder den „Frieden auf Erden“. In der Tat führt ja auch der Eindruck eines solchen Defizits beim andern oft genug dazu, nun selber eine Seite der Botschaft einseitig überzubetonen und der anderen zu wenig oder gar keine Beachtung zu schenken. Liest man etwa die jüngste Literatur zur „Theologie der Befreiung“ mit den gegenseitigen Vorwürfen, hier werde die „Tagesordnung der Welt“ an die Stelle der Botschaft vorn Reiche Gottes gesetzt oder dort gehe ein selbstgerechter Klerikalismus unbarmherzig an den Nöten einer unmenschlich unterdrückten Weit vorüber oder beteilige sich sogar selber an solcher Unterdrückung, wird schlagartig klar, was wir meinen. Beispiele ähnlichen gegenseitigen Missverstehens aus Misstrauen und beideseitig-trutziger Versteifung liefert die Kirchengeschichte in Fülle – bis hin zu der Kontroverse zwischen Barth und Bultmann, deren Widersinn zuerst ein Mann wie Dietrich Bonhoeffer durchschaute. Ähnlich wie er hat Werner Schmauch der komplexen, vielschichtig-vielseitigen Wirklichkeit der durch Christus gewährten neuen Existenz standgehalten, ohne in einen supranaturalen Objektivismus oder einen weltimmanenten Subjektivismus zu verfallen.

Ähnlich wie Bonhoeffer hat Schmauch begriffen, dass das mit dem Anbruch des Gottesreiches uns angebotene Heil nur dann eine Wirklichkeit unseres Lebens wird, wenn es von uns nicht bloß betrachtet, passiv-untätig genossen und konsumiert wird, sondern mitten in den konkreten Verhältnissen, in denen wir leben, etwas verändert, zunächst uns selber, unser Verhalten zu anderen und dadurch auch deren Verhalten, sei es, dass sie sich durch uns zu einem neuen Leben einladen lassen, sei es, dass sie sich dagegen wehren. Gottes Reich will nicht als ferne, zukünftig-jenseitige Utopie quietistisch ersehnt, sondern als für uns schon hier und jetzt verbindliche Herrschaft Gottes anerkannt und angenommen werden. Gottes Wille soll an uns und durch uns geschehen auf Erden wie im Himmel. Gottes Liebe zur Welt, die sein Sohn Jesus Christus in seiner eigenen Liebe zu allen Menschen – als des Vaters Ebenbild – widergespiegelt und weitergegeben hat, findet darin ihr Ziel, dass Sünder wieder dankbar-gehorsame Söhne Gottes werden, die Gottes Wort nicht nur hören, sondern „tun“.

In diesem Sinne ist das Evangelium eine „handlungsorientierte“ Botschaft und realisiert sich in dem neuen, von Gottes Geist gewirkten Verhalten der Jüngergemeinde untereinander und gegenüber der Umwelt. Darin ist ein quietistischer Heilsegoismus ebenso ausgeschlossen wie eine gesetzliche Werkgerechtigkeit, bemerkt Schmauch. Hier geht es um die „gehorsame Anerkennung der Heilsbotschaft des Freudenboten, so gewiss sich in ihm die Metanoia auf die Königsherrschaft der Himmel hin vollzieht“ (KoP S. 58). Wohl steht die Vollendung des Reiches Gottes noch aus, aber ebenso gilt: „Das Königreich der Himmel ist genaht, bindet an Ihn, diese Bindung aber ist wirklich und wirksam im Tun seiner Lehre.“

Das neue Leben als Proexistenz

Die in der Anerkennung der in Jesus Christus nahegekommenen Gottesherrschaft sich ereignende Umkehr, Neuschöpfung, Wiedergeburt und Auferweckung aus dem Tod der Sünde hat die konkrete Gestalt der Proexistenz. Das neugeschenkte Leben ist „Leben für andere“, weil der Vater selbst sich in seinem Sohn und Ebenbild Jesus als „Gott für uns“ offenbart, der Sohn als Zeuge und Werkzeug dieser Proexistenz sein Leben für uns dahingegeben und dadurch uns aus unserem sündigen gottlos-lieblosen Egoismus zu einem „Leben für andere“ befreit hat. Die Verfehlung unserer ursprünglichen Bestimmung, als Gottes Söhne für die Weit dazusein, wird durch den „Erstgeborenen unter allen Brüdern“ in der neuen (erneuerten) Schöpfung aufgehoben, wir werden „gleichgestaltet dem Bild seines Sohnes“ (Röm. 8, 29), wieder zu Menschen, wie sie der Schöpfer gewollt hat, „nach seinem Bilde geschaffen“. Schmauch weist in seiner Auslegung der Bergpredigt ausdrücklich auf die „Verankerung des Gebotes (der Feindesliebe) in Gottes eigenem Tun“ hin. „Die grenzenlose Güte des Vaters gegenüber seinen Geschöpfen, seinen Kindern, macht jeden anderen, auch den Feind, zum Bruder. Brüder hat man nicht auf Grund irgendwelcher Vorgegebenheiten. Brüder empfängt man in der Anerkennung der Lehre Jesu, dass der Vater seine Sonne aufgehen lässt über die Bösen und über die Guten“ (KoP S. 58f.). Nicht ein allgemeines „Prinzip der Mitmenschlichkeit“, sondern die in Jesu Hinwendung zur gottlos-lieblosen Welt uns widerfahrene Annahme des Sünders durch Gott, die einzigartige „Mitmenschlichkeit Gottes“, ist es, die nun auch das Handeln der Jüngergemeinde in der Welt prägen will.

Via crucis – Prüfstein der Proexistenz

Solange das Reich Gottes nicht vollendet, d. h. die Herrschaft Gottes und damit die Geltung des Liebeswillens Gottes nicht von allen Menschen anerkannt und der alte Äon der Sünde nicht gänzlich überwunden ist, leben die Jünger Jesu, die ja nicht mehr „von der (Art der) Welt“ sind, sondern zum Reich Gottes gehören, in der Welt in einem ständigen Konflikt: Einerseits sind sie täglich von der Versuchung bedroht, selber rückfällig zu werden, und sind, sofern sie dieser Versuchung erliegen, immer wieder auf Gottes vergebende und erneuernde Gnade angewiesen; andrerseits werden sie von der Welt als Fremdkörper gehasst und verfolgt. Mit der Welt bekennen sie sich schuldig am Kreuzestode Jesu, als die Kinder des Reiches hingegen dürfen sie auf der via crucis mit Christus leiden und durch solches Zeugnis der leidensbereiten Liebe andere zu gleicher Proexistenz einladen.

Man hat in der Kirche das Kreuz zumeist lediglich als Zeichen der Versöhnung des Menschen mit Gott durch das Opfer seines Sohnes gedeutet, ohne auf die daraus folgende Befreiung des Menschen zur Kreuzesnachfolge einzugehen. Bestenfalls sah man im geduldigen Leiden und Sterben Jesu ein Vorbild für das eigene christliche Ausharren in „Kreuz und Leid“. Die wahre Bedeutung des Kreuzestodes Jesu kam hier überhaupt nicht in Sicht: dass Jesus in der Liebe auch und gerade zu seinen Feinden auf alle Selbstbehauptung verzichtete und so den Sieg der Proexistenz über alle Selbstliebe der Welt dokumentierte, zuerst auf Golgatha in seiner Person, sodann zu Ostern und Pfingsten in der Bevollmächtigung der Jüngergemeinde, ihm auf dem Wege der leidensbereiten Liebe nachzufolgen!

So hat man auch nie begriffen, dass Christusnachfolge eine durch und durch „politische“ Angelegenheit ist. Ans Kreuz geschlagen wurde Jesus ja nicht nur aus „religiösen“ Gründen, weil er eine andere Gottesvorstellung hatte als die für „Religion“ zuständigen Hohenpriester und Schriftgelehrten. Zum Zusammenstoß zwischen Jesus und den vereinigten Juden und Heiden kam es, weil Jesu Proexistenz mit den Unterdrückten und Unterprivilegierten seiner Zeit, seine Solidarität mit den kultisch Unreinen und politisch Unzuverlässigen von den um Erhaltung ihrer Macht besorgten Herrschenden in Synagoge und Staat als Bedrohung empfunden wurde. Dass Jesus zu einer neuen „politischen“ Verhaltensweise, als sie in der Welt als normal galt, aufrief, nämlich durch Liebe zu den Feinden den Geist der Feindschaft zu überwinden anstatt durch tötende Gewalt und Vergeltung die Spirale von Hass und Gewalt zu verewigen, missverstanden die Machthaber als politischen Aufruhr. Aber auch von den Unterdrückten ward er nicht akzeptiert, weil sie – die Zeloten – nur von der gleichen Methode der Gewalt (diesmal „von unten“) wie ihre Unterdrücker effektive Hilfe erhofften. Die friedenstiftende, sanftmütige Gewalt der Liebe, der nach der Bewährungsprobe des Kreuzes dort und dann, wo Gott es schenkt, und dereinst weltweit der Sieg verheißen ist, bleibt in den Augen der Welt ein Ärgernis und eine Torheit. Sie ist, wo sie geschieht, nie „menschlich sittliche Leistung“, sondern stets „ein Wunder des kommenden Himmelreiches“ (KoP S. 63) und kann darum von der Welt nicht gesetzlich eingefordert werden. Proexistenz als Zeugnis des neuen Lebens mit Christus ist stets Werk des Heiligen Geistes.

Die eschatologische Jüngergemeinde

Wo aber geschieht dieses „Wunder“, dass Menschen entgegen der Norm menschlicher Gesellschaft, das eigene Leben zu sichern, ihr Leben für andere aufopfern? Wer sind die Träger der Verheißung, als „Salz der Erde“ der Welt den Weg aus dem Unheil zum Heil, aus Unfrieden zum Frieden weisen zu dürfen? Ist es die „Kirche“, die sich der Gesellschaft als Institution zur Befriedigung der „religiösen“ Bedürfnisse empfiehlt, wie es der „Staat“ seinerseits als sein Privileg ansieht, die „politische“ Ordnung aufrechtzuerhalten?

Es gehört zu den wichtigsten Einsichten Werner Schmauchs, die ihm in Drangsal und Anfechtung des Kirchenkampfes der Hitlerzeit erwachsen sind und die sich dann in den ihrer bisherigen Privilegien beraubten Kirchen in Osteuropa und in der DDR bewährt haben, dass eine solche Kirche, die den Schutz des Staates zur Sicherung ihrer eigenen Existenz begehrt, ihre Freiheit, diesem das ärgerliche Wort vom Kreuz auszurichten, preisgegeben und ihre Salzkraft verloren hat. Zugleich erfuhr er, wie überall, wo sich „eine bekennende Gemeinde, klein an Zahl, diffamiert, ohne öffentliche Anerkennung, geschweige denn mit staatlicher Unterstützung, ohne Lebensraum, ohnmächtig und doch so wirkend, dass auch ein Hitler darüber nicht zur Ruhe gekommen ist“, sammelte, das Zeugnis dieser Kirche gehört wurde (KoP S. 34).

Diese Erfahrung hat ihn gelehrt, neu auf das zu achten, was das Neue Testament über die ecclesia sagt. Sie hat ihn davor bewahrt, hinfort so pauschal, undifferenziert und unqualifiziert das Wort „Kirche“ zu gebrauchen. wie es leider allgemein in unseren Kirchen üblich ist. So oft er von Kirche sprach, erläuterte er genau, was er damit meinte oder sprach überhaupt nur von der „Jüngergemeinde“, der „eschatologisehen Gemeinde Jesu“, von der „bekennenden“, „mündigen“, sich für das Heil und den Frieden der Welt verantwortlich wissenden „lebendigen Gemeinde des lebendigen Herrn“. Anders als die dem religiösen Egoismus und ihrer eigenen Existenz dienende „Scheinkirche“ kann sie „als einzige Größe in der Welt es sich leisten, um ihres Auftrages willen sich ständig und überall selbst zu opfern, ohne darum fürchten zu müssen, dass ihre Existenz dadurch gefährdet wird … Zum Wesen der Kirche gehört ihre totale Ungesichertheit … sie lebt zugleich in einer durch nichts zu zerstörenden Gewissheit durch den, der bei ihr ist alle Tage bis an der Welt Ende“ (KoP S. 33).

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Kirche nicht eine statische Größe, eine dauernd vorhandene Institution oder Organisation mit getauften oder eingeschriebenen Mitgliedern und Funktionären sein kann. Die Jüngergemeinde wird vielmehr je und je von ihrem Herrn, dem sie im Zeugnis lebendiger Christen begegnet, zu lebendigem Glauben erweckt und zum Dienst an der Welt ausgesandt. Der Glaubende erkennt sie an den Zeichen lebendigen Gottesdienstes in Wortverkündigung, Sakramentsgemeinschaft. christusgemäßem Zusammenleben in Glauben, Hoffen und leidensbereiter Liebe, wie es Paulus beschrieben hat. Diese Zeichen und Merkmale lebendiger Kirche sind in den Amtskirchen zu rein formalen kultischen Handlungen verkümmert, an denen die Welt mehr und mehr gleichgültig vorübergeht.

Kann man die vorhandenen Kirchengebilde dennoch als „Kirche“ bezeichnen und in welchem Sinne konnte man es tun? Luther hat sich in der Schrift über den unfreien Willen einmal dazu geäußert: er unterscheidet die Kirche, zu der nach dem „Maßstab der Liebe“ alle (getauften) Menschen gehören, auch die Nichtglaubenden, und die eigentliche Kirche, zu der nach dem „Maßstab des Glaubens“ nur die wenigen zu zählen sind, die tatsächlich lebendigen Glauben haben. Ich verstehe dies so, dass die vorhandenen Kirchen als solche lediglich ein Stück „Welt“ sind (zuständig für den religiösen Sektor), zugleich aber, wie die ganze Welt, der ja Gottes Liebe und Zuwendung gilt, Missionsfeld und „potentielle“ Kirche, der die Umkehr noch bevorsteht. Wo und wann Gott es wirkt, entsteht in ihrer Mitte zugleich immer wieder lebendige Jüngergemeinde, dazu berufen, durch ihren Zeugendienst daran mitzuwirken, dass aus der Schein- und Welt-Kirche (Volks-, Amts-, Freikirche) soweit es Gott will, wirkliche, „praktizierende“ Kirche werde.

Weil Gottes Liebe allen Menschen gilt, darum kann es in der Kirche auch keine Exkommunikation, keine Aufkündigung der Bruderschaft geben. Christusgemäße „Kirchenzucht“ wird in nie aufhörendem gemeinsamen Ringen um das rechte Verständnis der Heilsbotschaft, in ständigem Dialog unter dem Wort versuchen, den anders Glaubenden und Lehrenden zu dem einen Herrn zu „ziehen“ und auch sich durch ihn zu Christus hin ziehen zu lassen. Wir alle sind ja nur „punktuell“ und „fragmentarisch“ rechte Christen und bedürfen wegen mannigfacher Glaubens- und Liebesdefizite der Zurechtweisung durch die Brüder.

Kirche für die Welt

Wie sieht nun der Dienst der Kirche an der Welt konkret aus? Halten wir zunächst fest, dass die „Welt“ sowohl die staatlich geordnete Gesellschaft als auch die Kirche als „religiöse“ Institution oder Organisation, sofern sie nicht lebendige praktizierende Jüngergemeinde ist, umfasst. In dieser religiös-politischen Welt lebt die Gemeinde Jesu als eine Gruppe, der durch Gott „frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarern Dienst an seinen Geschöpfen“ widerfahren ist (Barmen III). Sie vermag daher jeder Art von menschlicher Selbstbehauptung gegenüber Gott (religiös) und den Menschen (politisch) zu widerstehen. So ist sie frei zu positiver Hilfe für die Weit und vermag der in Sünde gefangenen und durch Sünde zerstörten Welt zu zeigen, wie auch sie wieder ihren Schöpfer, dem sie ja trotz ihrer Blindheit, ihre Existenz verdankt, ehren und so „Gottes Welt“ werden kann.

Der Dienst der Jüngergemeinde an der Welt besteht also darin, ihr die Augen für ihre Geschöpflichkeit zu öffnen und sie anzuleiten, Gottes Gaben recht zu gebrauchen, so dass sie nicht mehr „den Geschöpfen Anbetung und Verehrung statt dem Schöpfer“ darbringt (1. Gebot des Dekalogs) und nicht mehr „in verworfenern Sinn tue, was sich nicht geziemt, erfüllt von Ungerechtigkeit, Habsucht, Bosheit, Neid, Mord usw.“ (2. Tafel des Dekalogs) wie Paulus Röm. 1, 18ff. die Sündenverlorenheit beschreibt.

Wie verhält sich nun dieser Dienst der Gemeinde an der Welt zu den mannigfachen Versuchen der Welt, sich selber von ihren Schäden und Leiden zu befreien? Die zahlreichen Bemühungen um eine bessere, gerechtere soziale Ordnung, um einen „Rechtsstaat“, um mehr Freiheit für jedermann, um Frieden zwischen den Völkern sind ja nicht zu übersehen, ja, zum Teil wurden sie sogar außerhalb der Kirche, zum Teil gegen ihren Widerstand durchgesetzt. Verständlich, dass die Mensehen, auch in der Kirche, dazu aufriefen, die Kirche solle sich diesen Selbsthilfemaßnahmen der Welt anschließen, sie legitimieren und selbst übernehmen. Gegenwärtig bietet die Auseinandersetzung um die „Theologie der Befreiung“ dafür ein Beispiel. Dabei fällt auf, dass in den Kirchen je nach parteipolitischer Gebundenheit oder Option gegensätzliche Standpunkte eingenommen werden. Die einen plädieren für eine Lösung nach dem „geltenden Recht“, auch wo es dazu dient, eine Diktatur aufrechtzuerhalten, die anderen unterstützen eine revolutionäre Änderung. Keine Seite sieht das Heil mit dem Neuen Testament darin, Unterdrückern wie Unterdrückten die Abkehr von Gewalt und die Hinkehr zu leidensbereiter brüderlicher Liebe zu empfehlen. Die auch von Jesus geübte Parteinahme für die Unterdrückten bedeutet ja nicht Parteinahme für deren Methoden, Jesus unterstützte nicht die Zeloten in ihrem bewaffneten Kampf. Er trat aber auch nicht auf die Seite der Herrschenden, erregte vielmehr deren Zorn, indem er für das Recht der Unterdrückten eintrat und bereit war, in Solidarität mit ihnen selber Verfolgung zu erleiden.

So war ja auch schon der heute vielfach bemühte „Exodus“ Israels aus Ägypten kein gewaltsamer Sklavenaufstand, sondern die Frucht der Einsicht des Mose, dass nicht das Totschlagen der Zwingherren, sondern das gewaltfreie Eintreten für die geschundenen Hebräer vor dem mächtigen Pharao im Vertrauen auf Jahwe allein die Befreiung seines Volkes bewirken könne. So schlug Jesus dem Petrus das Schwert aus der Hand und befreite Menschen durch sein Leiden und Sterben am Kreuz vom Geist der Selbstbehauptung und Feindschaft. So mahnte Paulus, um Christi willen in Ketten, den Sklavenhalter Philemon, seinen entlaufenen Sklaven Onesimus nunmehr als einen lieben Bruder aufzunehmen. Auch ganze „Strukturen“ der Gewalt und Ungerechtigkeit können, wann Gott will, durch Selbsthingabe einzelner geändert werden. Hat nicht der Tod Martin Luther Kings oder die Ermordung des Bischofs Romero in aller Welt mehr Gewissen und Sensibilität für die Unterdrückten in Nord- und Südamerika erweckt als die Aufstände der Schwarzen Panther und der Guerilleros! Keinesfalls ist es christlich, aus der sicheren Position westlicher Wohlstandsbürger von oben herab die christlichen Basisgemeinden in Lateinamerika oder schwarze Christen in Südafrika zu verdammen, wenn gequälte verzweifelte Menschen in ihren Reihen sich einmal dazu hinreißen lassen, die unmenschliche Gewalt ihrer „christlichen“ Unterdrücker mit gleichen Mitteln zu beantworten. Wo bleiben in den Reihen der Kritiker der „Theologie der Befreiung“ die Christen, die ihre ganze Existenz dafür einsetzen, um dem „armen Lazarus“ vor unserer Tür mit Wort und Tat beizustehen?

Werner Schmauch ist unter vollem Einsatz seiner Person und seines Prestiges niemals müde geworden, solche Proexistenz, solchen „prophetischen“ Dienst an der gottlos-lieblos-ratlosen Welt und Kirche unserer Zeit zu üben.

 

Dazu druckte das Deutsche Pfarrerblatt 7/1985 auf Seite 319 folgenden Text zur Bergpredigt Jesu von Werner Schmauch aus „Reich Gottes und menschliche Existenz nach der Bergpredigt“, Vortrag in Wuppertal 1957, in „Theolog. Existenz heute“ Heft 64, ab:

Kirche für die Welt

Die Bergpredigt ist nicht ethisches Gesetz unter einer höchsten Norm, sondern Botschaft des eschatologischen Freudenboten Jesu von Nazareth.

Man kann nicht mit ihr die Welt regieren, aber er regiert mit ihr, indem er durch sie Menschen in seine Nachfolge und damit in die Hinwendung (Metanoia) auf die kommende Gottesherrschaft ruft.

Im Gehorsam gegenüber diesem Ruf werden Menschen aus der selbstherrlichen Existenz befreit zur Proexistenz für den Anderen, für Erde und Welt.

Diese Existenz ist kein Status, sondern als konkrete Annahme des Evangeliums eschatologisches Ereignis.

Auch die Jüngergemeinde existiert nur im Vollzug dieses Gehorsams, in der Proexistenz, in der Überwindung der Welt durch Hingabe an sie. Ungehorsam bei Christen und Nichtchristen ist Zeichen der alten Welt, nicht aber Grund, die Botschaft zu begrenzen oder Lebensbereiche von ihr auszunehmen.

Die Botschaft des Herrn der Bergpredigt kennt nicht den Gegensatz von geistlich und weltlich, sondern trifft den Menschen ungeteilt.

Die Forderungen der Bergpredigt als konkrete Weisungen des eschatologischen Herrn sind weder abzuschwächen, noch in ihrer Verbindlichkeit anzuzweifeln, noch umzudeuten. Sie sind aber auch nicht ein Kodex, der das Verhalten nach allen Seiten kasuistisch regelt. Sie sind vielmehr Zeichen der eschatologischen Existenz, die unter dem Evangelium vom nahen Gottesreich möglich und wirklich wird.

Ihre Erfüllbarkeit ist das eschatologische Wunder und damit der Diskussion entzogen. Alles Versagen schließt nicht von dem Himmelreich aus, sondern weist an den Vater Jesu Christi, der die Schulden vergibt, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern.

So aber ist die Bergpredigt in Zuspruch und Anspruch nichts anderes als das Evangelium vom kommenden Reich in seiner Konkretisierung auf das menschliche Dasein vor dem Ende der Welt.

Werner Schmauch (1905-1964)

Quelle: Deutsches Pfarrerblatt, Heft 7, Juli 1985, S. 316-319

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