Bild: Helmut Schütz

An Weihnachten auf der Flucht

William, Amir, Grit und andere von der Flüchtlingshilfe des Diakonischen Werks Gießen haben im Konfi-Unterricht versucht, uns deutlich zu machen: Wie fühlen sich Flüchtlinge? Warum gehen sie überhaupt auf die Flucht? Mit welchen Problemen müssen sie sich herumschlagen? Wie werden sie begrüßt, mit Handschlag oder Polizeigriff? Dann wurde spielerisch eingeübt, wie Menschen, die sich nicht kennen, Vertrauen zueinander aufbauen können.

Direkt zur PredigtKonfi-Gottesdienst am 4. Sonntag im Advent, den 20. Dezember 2015, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Im Namen des Kirchenvorstandes begrüße ich am 4. Sonntag im Advent alle herzlich im Gottesdienst der Pauluskirche, besonders die Konfirmandinnen und Konfirmanden der Thomas- und Paulusgemeinde, die diesen Gottesdienst mitgestalten.

Unter anderem werden sie uns in der Predigt etwas davon zeigen, was sie in den letzten Wochen im Unterricht von William Henderson und anderen Mitarbeitenden der Flüchtlingshilfe in Gießen gelernt haben. Warum sehen Menschen sich gezwungen, auf die Flucht zu gehen? Wie geht es vielen Flüchtlingen unterwegs oder bei der Ankunft in fremden Ländern? Was brauchen sie zum Überleben und für ein gutes Leben in einer neuen Heimat?

Aber was hat das alles mit dem Advent zu tun? Advent heißt Ankunft. Als Jesus ankam in Bethlehem, als er in einem Stall zur Welt kam, da waren auch seine Eltern unterwegs, und zwar genau in der Gegend zwischen Syrien und Palästina, wo die Menschen damals vom römischen Kaiser wegen einer Steuerschätzung kreuz und quer durch das Land herumgeschickt wurden.

Und kaum kam Jesus an in der Welt, mussten seine Eltern schon wieder mit ihm auf die Flucht gehen, weil das Kind bedroht war von dem grausam regierenden König seines Landes. Gleich werden wir hören, was der Evangelist Matthäus davon zu erzählen weiß.

Doch zuvor singen wir das Lied 32:

1. Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein, das hab ich auserkoren, sein Eigen will ich sein, eia, eia, sein Eigen will ich sein.

2. In seine Lieb versenken will ich mich ganz hinab; mein Herz will ich ihm schenken und alles, was ich hab, eia, eia, und alles, was ich hab.

3. O Kindelein, von Herzen will ich dich lieben sehr in Freuden und in Schmerzen, je länger mehr und mehr, eia, eia, je länger mehr und mehr.

4. Dazu dein Gnad mir gebe, bitt ich aus Herzensgrund, dass dir allein ich lebe, jetzt und zu aller Stund, eia, eia, jetzt und zu aller Stund.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Was hat denn damals Matthäus in seinem Evangelium von der Geburt Jesu erzählt, die wir in einigen Tagen an Weihnachten wie alle Jahre wieder feiern werden? Hören wir unseren Konfirmandinnen und Konfirmanden zu, wenn sie die Worte aus dem Evangelium des Matthäus 2 vortragen (Elberfelder Bibel revidierte Fassung 1993 © 1994 R. Brockhaus Verlag, Wuppertal):

Als aber Jesus zu Bethlehem in Judäa geboren war,

in den Tagen des Königs Herodes,

siehe, da kamen [Magier] vom Morgenland nach Jerusalem, die sprachen:

Wo ist der König der Juden, der geboren worden ist?

Denn wir haben seinen Stern im Morgenland gesehen

und sind gekommen, ihm zu huldigen.

Wer kam da an von weit her aus dem Land, wo morgens die Sonne aufgeht, aus dem Osten, vielleicht aus der Gegend des heutigen Irak oder Iran?

Diese Männer sind Gäste, Besucher, die Bibel nennt sie Magier, wir übersetzen meist Weise oder nennen sie die Heiligen Drei Könige wegen ihrer drei kostbaren Geschenke. Magier waren sie, Astrologen, sternkundige Menschen, die sich vom Stand der Sterne Auskunft über den Willen Gottes erhofften.

Als ihr Konfis diese Geschichte im Unterricht gelesen habt, da habt ihr eine Frage gestellt: Was heißt denn „huldigen“? Das Wort „Huld“ heißt eigentlich „Liebe“ auf vornehm. Wenn ich einem König huldige, dann sage ich: Du bist jetzt mein König, mein Chef, ich tue alles für dich, von dir lasse ich mir etwas sagen. Für Matthäus ist Jesus von Geburt an ein König, weil er Gottes Sohn ist. Er hat uns so viel zu sagen wie Gott selbst. „Huldigen“ kann auch heißen „anbeten“.

Kommt, lasst uns Gott anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Der Stern hatte die Magier wie ein Navigationsgerät nach Israel geführt, doch so ganz präzise war dieses „Navi“ zunächst nicht, wir kennen das ja, und so fragten sie in der Hauptstadt Jerusalem im Königspalast nach dem Königskind. War ja logisch: Königskind – Königspalast. Aber dort regierte damals König Herodes der Große, ein durchaus bedeutender, aber ausgesprochen grausamer Herrscher in Israel unter der Oberherrschaft des römischen Kaisers; er hatte so viel Angst um seine Macht, dass er sogar eine seiner Frauen und eigene Söhne hinrichten ließ. Was erzählt Matthäus von ihm, nachdem die Magier ihn nach dem neugeborenen König der Juden fragen?

Als aber der König Herodes es hörte, wurde er bestürzt und ganz Jerusalem mit ihm;

und er versammelte alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes

und erkundigte sich bei ihnen, wo der Christus geboren werden solle.

Sie aber sagten ihm: Zu Bethlehem in Judäa;

denn so steht durch den Propheten geschrieben:

„Und du, Bethlehem, Land Juda, bist keineswegs die geringste unter den Fürsten Judas;

denn aus dir wird ein Führer hervorkommen, der mein Volk Israel hüten wird.“

Dann berief Herodes die [Magier] heimlich und erforschte genau von ihnen die Zeit der Erscheinung des Sternes;

und er sandte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht genau nach dem Kind!

Wenn ihr es aber gefunden habt, so berichtet es mir, damit auch ich komme und ihm huldige.

Herodes nutzt die Bibel, um das Navigationsgerät der Magier präziser einzustellen. Die Propheten Israels haben vorausgesehen, der Gute Hirte Israels, ein Friedenskönig, auf den die Menschen ihre Hoffnung setzten, werde in Bethlehem geboren werden, in einer kleinen Stadt gar nicht weit von Jerusalem. Aber wo dort genau, das weiß Herodes nicht. Um das zu erfahren, will der König die Magier als seine Spione nutzen, ohne dass sie es wissen. Schon damals gab es Menschen, die Heilige Schriften für ihre Interessen ausnutzen wollten, ohne sich wirklich vom Glauben an den Gott des Friedens und der Liebe leiten zu lassen.

Gott, Vater des Kindes, das zur Welt kommt in Bethlehem, schenke uns das Vertrauen auf deine Liebe, die allein den Frieden bringt.

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Weiter hören wir, was der Evangelist Matthäus von der Reise der Magier zu erzählen weiß:

Sie aber zogen hin, als sie den König gehört hatten.

Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her,

bis er kam und oben über der Stelle stand, wo das Kind war.

Als sie aber den Stern sahen, freuten sie sich mit sehr großer Freude.

Und als sie in das Haus gekommen waren, sahen sie das Kind mit Maria, seiner Mutter,

und sie fielen nieder und huldigten ihm;

und sie öffneten ihre Schätze und opferten ihm Gaben: Gold und Weihrauch und Myrrhe.

Der Stern als Navi funktioniert wieder. Die Magier finden den genauen Ort, wo Jesus zur Welt gekommen ist. Nach ihrer weiten Reise ist Jesus inzwischen sicher schon etwas älter, er ist in einem Haus anzutreffen, von einem Stall weiß der Evangelist Matthäus nichts. Aber entscheidend ist: Die fremden Männer, die so reich sind wie Könige mit ihren kostbaren Geschenken, mit denen man etwas kaufen kann, die gut riechen und Schmerzen lindern, sie fallen vor einem Kleinkind nieder und huldigen ihm.

Was hat das zu bedeuten? Ich denke: Wie schön ist es, wenn reiche und mächtige Menschen dieser Welt, – Könige und Kanzlerinnen und Präsidenten – sich anrühren lassen von einem neugeborenen Kind, vom Leid der Flüchtlingskinder, von dem Gedanken, dass es mehr geben muss als nur persönliche Macht und Profit. Die Magier damals erkennen im Jesuskind ein Gegenbild zur Herrschermacht des Kaisers Augustus oder des Königs Herodes. Darum huldigen sie ihm.

Auch wir wollen das tun. Wir tun es sowieso jeden Sonntag, indem wir an dieser Stelle das Lied der Engel auf dem Hirtenfeld von Bethlehem anstimmen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“ Achten wir einmal auf die Worte der Liturgie, in der von Gottes Ehre und vom Frieden auf Erden die Rede ist.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an euch hat, nun ist groß Fried ohn Unterlass. All Fehd hat nun ein Ende.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Gott, hilf uns deine Ehre zu begreifen. Deine Ehre ist dort mit Händen zu greifen, wo Menschen Frieden machen, wo sie Angst und Hass überwinden. Schenke uns deinen Frieden im Vertrauen auf Jesus Christus, deinen Sohn, unseren Herrn. „Amen.“

An der Stelle, wo sonst ein Mitglied des Kirchenvorstands die Schriftlesung hält, setzen heute unsere Konfis die Lesung aus dem zweiten Kapitel des Matthäusevangeliums fort.

Und als [die Magier] im Traum eine göttliche Weisung empfangen hatten,

nicht wieder zu Herodes zurückzukehren,

zogen sie auf einem anderen Weg hin in ihr Land.

Als sie aber hingezogen waren, siehe, da erscheint ein Engel des Herrn dem Joseph im Traum

und spricht: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter zu dir

und fliehe nach Ägypten,

und bleibe dort, bis ich es dir sage!

Denn Herodes wird das Kindlein suchen, um es umzubringen.

Er aber stand auf, nahm das Kind und seine Mutter des Nachts zu sich und zog hin nach Ägypten.

Und er war dort bis zum Tod des Herodes,

damit erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten, der spricht:

„Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“

Da ergrimmte Herodes sehr,

als er sah, dass er von den [Magiern] hintergangen worden war;

und er sandte hin und ließ alle Jungen töten,

die in Bethlehem und in seinem ganzen Gebiet waren,

von zwei Jahren und darunter,

nach der Zeit, die er von den Weisen genau erforscht hatte.

Ich muss einmal die Lesung unterbrechen, denn das klingt zu krass für einen Gottesdienst im Advent, so kurz vor Weihnachten. Wir stellen uns doch oft Weihnachten vor als ein idyllisches, friedliches, harmonisches Fest. Das Fest der Liebe und der Familie. Und doch geschehen auch an Weihnachten unvorstellbare Grausamkeiten. Es wird gestritten und gelitten, an seelischen und körperlichen Krankheiten. Auch im Dezember sterben Menschen, an den Feiertagen empfinden Trauernde ihre Trauer doppelt schwer. Und hier im Evangelium hören wir sogar die unerträgliche Geschichte vom Kindermord in Bethlehem. Kann es ein Trost sein, dass diese Geschichte wenigstens im Zusammenhang mit Weihnachten erzählt wird? Dass auch das Schicksal der Menschen, die heute in Syrien und im Irak Ähnliches erleiden, von Gott nicht vergessen wird? Weihnachten geschieht mitten in unserer Wirklichkeit.

Da wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremia geredet ist,

der spricht: „Eine Stimme ist in Rama gehört worden,

Weinen und viel Wehklagen:

Rahel beweint ihre Kinder,

und sie wollte sich nicht trösten lassen,

weil sie nicht mehr sind.“

In diesem Abschnitt versucht der Evangelist Matthäus das Unbegreifliche zu verarbeiten. Er kennt sich aus in seiner Heiligen Schrift, in der Bibel der Juden, die unser Altes Testament ist. Beim Propheten Jeremia hat er eine Stelle gefunden, wo auch schon von der Trauer des Volkes Israel gesprochen wird. Rama war ein Ort in Israel, und Rahel eine der Stamm-Mütter Israels, die Lieblingsfrau des Jakob. Sie steht für alle Mütter in Bethlehem und ganz Israel, die um ihre ermordeten Kinder trauern.

Aber damit ist die Geschichte des Matthäus noch nicht zu Ende. Auch große, grausame Staatsmänner leben nicht ewig. Die Flucht des Jesuskindes nach Ägypten kann ein Ende finden, als sie die Situation in seinem Land Israel geändert hat:

Als aber Herodes gestorben war,

siehe, da erscheint ein Engel des Herrn dem Joseph in Ägypten im Traum

und spricht: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter zu dir und zieh in das Land Israel!

Denn sie sind gestorben, die dem Kind nach dem Leben trachteten.

Und er stand auf und nahm das Kind und seine Mutter zu sich, und er kam in das Land Israel.

Als er aber hörte, dass Archelaus über Judäa herrschte anstelle seines Vaters Herodes,

fürchtete er sich, dahin zu gehen;

und als er im Traum eine göttliche Weisung empfangen hatte,

zog er hin in die Gegenden von Galiläa,

und Josef kam und wohnte in einer Stadt, genannt Nazareth;

damit erfüllt würde, was durch die Propheten geredet ist:

„Er wird Nazoräer genannt werden.“

So beschreibt Matthäus die Umwege, auf denen Jesus einen sicheren Ort für das Aufwachsen in seiner Kindheit und Jugend fand: In Bethlehem geboren, vorübergehend auf der Flucht nach Ägypten; und nach der Rückkehr in Israel sind dem Vater Josef die Verhältnisse in Judäa so unsicher, dass er sich mit der Familie nicht in Bethlehem ansiedelt, sondern nach Nazareth in Galiläa weiterzieht.

Matthäus ist der festen Überzeugung: Das alles hatten die Propheten der Bibel bereits vorausgesehen. Der Friedenskönig sollte in Bethlehem zur Welt kommen. Der Sohn Gottes sollte aus Ägypten gerufen werden, wie vor Zeiten das ganze Volk Israel aus Ägypten in die Freiheit gezogen war. Und aus dem kleinen Ort Nazareth im hintersten Galiläa, von wo nach Ansicht vieler Leute damals „nichts Gutes kommen konnte“, sollte Jesus, der Nazarener oder Nazoräer im Alter von 30 Jahren kommen und unsere Menschenwelt für immer verändern.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja.“

Glaubensbekenntnis

Nachdem wir von der Geburt Jesu in Bethlehem gehört haben, singen wir das Lied 542 vom Stern über Bethlehem:

Stern über Bethlehem, zeig uns den Weg
Die Liebe Gottes sei mit euch allen, so wie Gottes Liebe mit allen Menschen auf der Erde ist. Amen.

Liebe Gemeinde,

wenn wir die Weihnachtsgeschichten der Bibel betrachten, dann sehen wir, wie stark sie von Bewegung geprägt sind. Da schickt ein Kaiser Menschen in der Weltgeschichte hin und her. Da flieht eine Familie vor einem mörderischen Regime, das Kinder tötet. Jesus ist von Geburt an ein Migrant; nach dem Evangelisten Lukas musste seine Familie den Ort Bethlehem unfreiwillig aufsuchen und nach Matthäus ihn unfreiwillig Hals über Kopf verlassen. Ägypten und Nazareth sind Zufluchtsorte auf der Flucht vor politischer Bedrohung.

Es gibt aber in der biblischen Geschichte, das sollten wir nicht vergessen, auch freiwillige Bewegung, Migration auf Grund innerer Beweggründe: die Magier aus einem östlichen Land, vielleicht Persien oder Indien, sehnen sich nach einem Friedenskönig und besuchen aus diesem Grund ein kleines Kind, dessen Stern sie am Himmel gesehen haben.

Und 30 Jahre später wird der erwachsene Jesus selbst auch ein freiwilliger Migrant werden, ein Wanderprediger, der den Menschen vom Reich Gottes erzählt, das mitten unter ihnen anbrechen will. Dass Jesus wie Hunderte Jahre zuvor sein Volk Israel aus Ägypten zurückgekommen ist, sieht der Evangelist Matthäus geradezu als Markenzeichen der Gottessohnschaft Jesu: Damals, als Mose sein Volk aus Ägypten in die Freiheit führte, hatte Gott gesagt: Israel ist mein erstgeborener Sohn, wenn die ägyptischen Herrscher ihn antasten, wenn sie seine Kinder töten, dann wird Gott auch die erstgeborenen Söhne der Ägypter nicht verschonen, um sie dazu zu bewegen, das Volk Israel freizulassen. Und Israels Freiheit begann mit einem Auszug, einer Flucht, einem 40-jährigen Zug durch die Wüste.

Es scheint so, als ob es geradezu die Ausnahme wäre, wenn Menschen auf dieser Erde dauerhaft Heimat haben und im Frieden leben können. Wir in Deutschland haben dieses Glück nun bereits seit fast 70 Jahren – wie dankbar können wir dafür sein!

Aber genau 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebene weltweit auf einen Rekordstand angestiegen: gestern in der Zeitung stand die Zahl von 60 Millionen. Eine Million davon ist in diesem Jahr allein in unserem Land angekommen. Wie Ägypten in alten Zeiten ist heute Europa und insbesondere Deutschland ein begehrtes Ziel für Flüchtlinge geworden, die sich hier Zuflucht, Sicherheit und evtl. die Möglichkeit erhoffen, ein neues Leben aufzubauen.

Es gibt viele Menschen, die Flüchtlinge hier willkommen heißen, die bis an die Grenzen ihrer Kräfte ehrenamtlich helfen. Es gibt andere, die sich Sorgen machen, ob da nicht auch Gewalttäter unkontrolliert mit ins Land kommen, ob unser Land so viele Fremde integrieren kann. Als William Henderson und einige seiner Mitarbeitenden von der Flüchtlingshilfe des Diakonischen Werks in Gießen zwei Mal im Konfirmandenunterricht waren, um uns etwas über ihre Arbeit zu erzählen – unsere heutige Organistin Grit Laux war einmal auch mit dabei -, da haben sie versucht, uns vor allem deutlich zu machen: Wie fühlen sich Flüchtlinge? Warum gehen sie überhaupt auf die Flucht? Mit welchen Problemen müssen sie sich herumschlagen?

Konfis mit verbundenen Augen
Wie fühlen sich Flüchtlinge, die tagelang in einem dunklen Container eingesperrt sind?

Viele, die zu uns kommen, haben unvorstellbare Zustände hinter sich. Wovor sie geflohen sind, darauf komme ich noch zu sprechen, das war schon grausam genug. Aber die meisten sind auf sogenannte „Schlepper“ angewiesen, um Fluchtwege aus ihrem Land oder in andere Länder hinein gezeigt zu bekommen. Viele sind Tage und Wochen lang eng auf Lastwagen, Waggons oder Booten zusammengepfercht, so dass sie am Ende nicht einmal mehr sich selbst riechen können. Ihnen wird schlecht, sie denken an die schlimmsten Momente ihres Lebens, jedes Mal, wenn sie nur aufs Klo gehen. Sie kriegen einfach diese Gerüche nicht aus ihrem Gedächtnis heraus. Ein bisschen von dieser unangenehmen Enge im Lastwagen habt ihr Konfis gespürt, als ich Tüten über dem Kopf hattet oder als mehrere von euch sich in einem Karton hin- und herschubsen ließen. Dann habt ihr einmal eine lange Schlange gebildet, die sich immer enger zusammenzog. Für die Leute in der Mitte war das sehr eng und nicht gerade angenehm. Zeigt mal, wie ihr das gemacht habt!

„Eingeengt in der Menschenschlange“
Selbstverteidung mit William Henderson und Amir
Für viele Flüchtlinge ist es wichtig, sich selbst verteidigen zu lernen, vor allem für Frauen

Amir zeigt einer Konfirmandin, wie man sich selbst verteidigt Selbstverteidigung mit AmirViele der Flüchtlinge, haben, bis sie an ihrem Ziel ankommen, Gewalt erlitten, sind vergewaltigt worden, besonders Frauen, aber auch Männer. Amir, ein Mitarbeiter von William Henderson, der aus dem Iran stammt und den schwarzen Gürtel in mehreren Kampfsportarten hat, hat ein paar Jungs von euch in den Schwitzkasten genommen, und er hat euch gezeigt, wie man sich selbst verteidigen kann, wenn man den Mut dazu fasst. Denn viele könnten sich wehren, wenn sie nicht zu viel Angst hätten, einfach nur laut genug zu schreien. William Henderson selbst stammt aus Amerika, ist teils weiß, teils schwarz und teils Apache, er hat einen von euch mit der amerikanischen Flagge bedeckt und er hätte euch als Gruppe dazu bringen können, sich wirklich sehr schlimm zu fühlen, weil man als Gruppe leicht beeinflussbar ist von jemandem, dem man vertraut. Der Konfirmand konnte natürlich Stop sagen, als es ihm zu viel wurde.

Ein Junge unter der amerikanischen FlaggeDann wurde im Konfi-Saal ein Netz aufgespannt: „Das ist eine Grenze!“ Es gibt unsichtbare Grenzen, die in einem Land Menschen voneinander trennen, die vorher friedlich miteinander gelebt haben. Auf einmal sagen fanatische Muslime, die sich selbst für die einzig wahren Gottesverehrer halten: Du glaubst falsch an Allah, du bist Schiit, nicht Sunnit, kein richtiger Muslim. Du bist Jeside, Alevit, Christ, du gehörst nicht in unser Land. Menschen werden wegen ihres Glaubens verfolgt, ermordet, und auf die Flucht getrieben, über die Landesgrenze nach draußen. Das geht schon lange so. Zum Beispiel leben zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien oder Irak in der Türkei. Erst in diesem Jahr ist die Zahl der Flüchtlinge so sehr angestiegen, dass 2015 auch in Deutschland eine Million geflohener Menschen angekommen ist. Als dieses Netz in der Konfi-Gruppe aufgespannt war, meinten einige: „Aber es ist doch ganz leicht, unter dem Netz durchzuschlüpfen!“ Ja, das ist es. Selbst kleinere Länder, die meterhohe Stacheldrahtzäune um ihr gesamtes Staatsgebiet bauen, erleben, dass Flüchtlinge sogar unter Lebensgefahr über solche Barrieren klettern. Wer vor tödlichen Bedrohungen flieht, den kann man nur dadurch von der Flucht abhalten, dass man die Ursachen für die Flucht weltweit bekämpft.

Zum Beispiel indem man viel Geld investiert in den Aufbau von Vertrauen zwischen Völkern und Religionen. Ich weiß zum Beispiel von einer jungen Frau aus der Türkisch-Islamischen Gemeinde hier in Gießen, dass sie in Genf ein Praktikum macht, um zu lernen, wie man Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen überwindet. Sie hat vor, mit der Bundeswehr in den Irak zu gehen, um dort an einer Friedensmission teilzunehmen.

William Henderson hat mit unseren Konfis spielerisch eingeübt, wie Menschen, die sich noch nicht kennen, Vertrauen zueinander aufbauen können. Jeweils zwei von ihnen bekamen einen Stab, dessen Spitze sie sich auf den Solarplexus hier vorne auf der Brust gelegt haben. So konnten sie angemessenen Abstand vom anderen halten und doch Kontakt aufnehmen. Einer von beiden sollte die Augen schließen und sich vom anderen nur durch den geringen Druck des Stabes führen lassen. Zeigt ihr das mal, wie ihr das gemacht habt?

„Einander spüren und führen auf Abstand“
Zwei Konfirmandinnen nehmen Kontakt auf und halten sich zugleich mit einem Stab auf Abstand
Zwei Konfirmandinnen nehmen Kontakt auf und halten sich zugleich mit einem Stab auf Abstand

Dann wurden die Stäbe bei einem Spiel, das aus Afrika stammt, für eine gemeinschaftliche Aktion genutzt, um zu zeigen, dass Menschen Schutz brauchen und auch bekommen können, wenn sie von einer Gemeinschaft grundsätzlich willkommen geheißen und in ihrer Andersartigkeit aufgenommen und akzeptiert werden. Aus vielen Stäben kann ein Dach werden, unter dem ein fliehender Mensch Zuflucht finden kann. Wenn Gruppen sehr geübt sind und sich als zuverlässig erwiesen haben, kann es gelingen, dass einer sich sogar auf diesen Stäben sicher getragen fühlt und nicht herunterfällt.

„Aus vielen Stäben wird ein schützendes Dach“

Eine weitere Frage: Was ist eigentlich die weltweite Hauptursache für Flucht? Das war auch mir persönlich nicht bewusst gewesen. Der wichtigste Grund dafür, dass Menschen fliehen müssen, sind Umweltkatastrophen. Überschwemmungen in Bangla Desh, ein Tsunami in Japan mit der nachfolgenden Reaktorkatastrophe in Fukushima, der Hurrikan Katrina in St. Louis – all diese Ereignisse führten zu Flüchtlingsbewegungen. Schon in der Bibel waren die Israeliten nach Ägypten gekommen, weil sie im Land Kanaan einer Hungersnot ausgesetzt waren. Und der Syrienkonflikt begann vor einigen Jahren damit, dass es viel zu wenig Regen gab, dass nichts auf den Feldern wuchs, und wegen dieser Jahrhundertdürre verloren 1,5 Millionen Bauern ihre Lebensgrundlage in ihren Dörfern und zogen in die großen Städte. Das führte, zusammen mit vielen anderen Gründen, zu dem verheerenden Bürgerkrieg, vor dem jetzt so viele Menschen ins Ausland fliehen.

Was wir „Klimawandel“ nennen, die Erwärmung der Erdatmoshäre um wenige Grad, führt also jetzt schon dazu, dass Millionen von Menschen ihre Heimat verlieren. Die Weltmeere steigen, Teile von Bangla-Desh und manche Südseeinsel sind bereits unbewohnbar. Darum ist es so wichtig, dass der Vertrag der Staaten, die den Klimawandel wenigstens auf anderthalb oder zwei Grad begrenzen wollen, auch wirklich in die Tat umgesetzt wird. Zu diesem Thema hat William Henderson mit den Konfis einige Übungen gemacht. Wie ist das zum Beispiel, wenn Menschen bei einem Erdbeben verschüttet werden? Wie fühlt sich der Druck an? Was muss man besonders schützen? Den Kopf, den Brustkorb mit den Rippen. Ihr habt Liegestützen gemacht, um eure Muskeln zu spüren. Wohin läuft man, wenn in einem Raum die Decke einstürzt? In die Nähe der Wände, am besten unter einen Türsturz.

Eine letzte Frage: Wie geht es Flüchtlingen, wenn sie in einem fremden Land ankommen? Wie werden sie begrüßt? Zeigt das mal: Man sagt freundlich „Guten Tag!“, aber manche werden auch abgeführt und ausgewiesen. Niemand weiß, wie die Menschen, die Behörden im fremden Land reagieren werden. Gut ist es, wenn aus der zwiespältigen Begrüßung am Ende doch ein gegenseitiges Sich-Kennenlernen und ein echtes Sich-Willkommen-Heißen wird.

„Willkommensgruß oder Polizeigriff?“

Mit einer Reihe von Wollfäden haben die Konfis sich klar gemacht, was Menschen, die ihre Heimat verlassen, alles am liebsten mitnehmen möchten, um überleben zu können. Sie brauchen zu essen, zu trinken, die Mutter, den Vater, den Bruder, die Schwester, Freunde, das Handy, und und und… Am Ende gelingt es unterwegs nur schwer, alle Fäden zusammenzuhalten. Was ist am wichtigsten? Ohne Essen kann man nicht überleben, den Kontakt zu Verwandten kann man verlieren, ein Handy kann helfen, wenigstens auf die Entfernung den Kontakt zu halten.

William Henderson hat uns am Ende noch einen anderen Wollfaden ans Herz gelegt, den er persönlich nicht missen möchte. Den Faden zu Jesus. Wenn er verlassen wäre von allen anderen Menschen: Jesus verlässt uns nie. Wenn die Sorgen und Belastungen auch ihn aufzufressen drohen, das Gebet zu Jesus und zu seinem Vater hält ihn trotzdem aufrecht. Wir Christen dürfen an einen Gott glauben, der die Not von Menschen kennt, die auf der Flucht sind, der auch die Ängste von Menschen kennt, die sich vor der Zukunft fürchten. Jesus macht uns Mut, zu unseren Ängsten zu stehen und sie mit Gottvertrauen zu überwinden: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Wir singen das Lied 154:

Herr, mach uns stark im Mut, der dich bekennt
Fürbitten – Gebetsstille – Vater unser

Wir singen das Lied „Ein Stern steht über Bethlehem“:

Ein Stern steht über Bethlehem
Abkündigungen

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. Amen.

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