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Erinnern statt Vergessen

„Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Da ging es nicht um ein Wühlen in Schuld, sondern um die schmerzliche Erkenntnis, dass es auch aus Gedankenlosigkeit, aus Angst, aus Vorurteilen heraus dazu kommen kann, dass man einer verfolgten Gruppe von Mitmenschen die notwendige Hilfe schuldig bleibt.

Ein Davidsstern mit der Aufschrift "Jude" in der Hildesheimer Altstadt
Ein Davidsstern mit der Aufschrift „Jude“ in der Hildesheimer Altstadt (Bild: falcoPixabay)

Gedenkrede zum Volkstrauertag am Sonntag, den 13. November 1988 um 11.30 Uhr in Heuchelheim, 14.00 Uhr in Reichelsheim

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!

Wenn wir in den vergangenen Jahren hier zusammen waren, ist das Bewusstsein immer stärker in den Vordergrund getreten: der Volkstrauertag ist auf keinen Fall ein Heldengedenktag, sondern ein Tag der Mahnung zum Frieden. Das Gedenken am Volkstrauertag ist daher nicht nur der Trauer um die getöteten Angehörigen des eigenen Volkes gewidmet, sondern schließt in jedem Fall auch die Trauer um die Angehörigen fremder Völker ein. Und dann gibt es auch noch die Trauer um Menschen, die seit Jahrhunderten zu unserem Volk gehörten, die unter uns in Deutschland lebten und die dennoch ausgegrenzt wurden, der Verachtung, der Entwürdigung, schließlich der Vertreibung und sogar der Vernichtung preisgegeben. Das Gedenken an die Judenverfolgung in Deutschland soll diesmal im Mittelpunkt meiner Ansprache stehen.

In der vorigen Woche war es gerade 50 Jahre her, dass in unserem Land die Judenpogrome stattfanden, auch in der Wetterau, in Nachbarorten, nur wenige Kilometer von hier entfernt. Judenpogrome? Bis vor kurzer Zeit sagte man nur „Reichskristallnacht“, war nur dieses Wort geläufig. 50 Jahre hat es gedauert, bis dieser beschönigende Begriff „Reichskristallnacht“ langsam aus dem Verkehr gezogen wird. „Kristall“, das erinnert an die in jener Nacht zu Bruch gegangenen Scheiben, aber es war ja mehr zerbrochen: Menschenwürde war mit Füßen getreten, rohe Gewalt gegen Sachen und Leben von Juden war angewendet worden, und das alles nicht etwa nur als spontaner Ausbruch des Volkszorns, sondern von oben geplant und gesteuert. Man wollte ja nach und nach den ganzen deutschen Volkskörper von fremdrassischen Einflüssen reinigen; kristallklare Verhältnisse sollten geschaffen werden – die sog. „Endlösung“ zeichnet sich hier schon ab, die Vernichtung der Juden in den Lagern. „Kristallnacht“ – dieses Wort für die Vorgänge am 9. und 10. November 1938 klingt wirklich zu harmlos. Ein aus dem Russischen stammendes Wort ist mittlerweile herangezogen worden, das genau eine solche mit Plünderungen einhergehende Hetze und Ausschreitung gegen nationale, religiöse, rassische Gruppen zu bezeichnet: „Pogrom“. Vor einigen Wochen war es noch fast unbekannt, aber nun ist das Wort in aller Munde, wir haben uns schon fast daran gewöhnt.

Aber tut es ein neues Wort? Gehen wir anders mit dem um, was damals geschah, wenn wir es anders benennen?

Viele sagen: Es muss doch endlich einmal Schluss sein mit diesen Erinnerungen, mit dem Aufwühlen von Hass- oder Schuldgefühlen. Gewiss müsste damit Schluss sein, wenn es wirklich um das Schüren von Hass ginge, gewiss auch, wenn man nur in Schuldkomplexen herumwühlte.

Es geht aber um etwas anderes. Es geht darum, dass man sich vor der geschichtlichen Wahrheit nicht davonstehlen kann, auch wenn sie peinliche und schmerzhafte Gefühle wachruft. Die Wahrheit, dass auch dunkle Stunden, finstere Jahre zur deutschen Geschichte gehören, lässt sich ebensowenig aus der geschichtlichen Betrachtung ausklammern wie die großen Zeiten deutscher Geistesgeschichte, die wir z. B. mit den Namen Schiller und Goethe verbinden.

In einem Gedicht von Erich Fried mit dem Titel „Vielleicht“ heißt es zu diesem Thema:

Erinnern
das ist
vielleicht
die qualvollste Art
des Vergessens
und vielleicht
die freundlichste Art
der Linderung
dieser Qual

Das klingt paradox. Erinnern, um zu vergessen? Sich Qualen schaffen, um sie zugleich zu lindern? Aus meiner Seelsorgeerfahrung weiß ich, dass das Vergessen und Verdrängen keine seelischen Wunden heilt. Nur der verarbeitete Schmerz kann heilen. Nur bereute und vergebene Schuld kann ruhen. Nur wenn einer es lernt, zu spüren und offen auszusprechen, was an Trauer und Angst, an Zorn und Hass oder auch Schuld in ihm ist, wenn einer sein Herz ausschütten kann und dabei erfährt, dass er mit seiner seelischen Qual nicht allein ist, nur dann können alte Wunden endlich vernarben.

Wenn heute gesagt wird, man solle doch nicht immer wieder über die deutsche Schuld gegenüber den Juden reden, einmal müsse damit doch Schluss sein, dann muss ich in aller Klarheit feststellen: Soweit ich weiß, haben sehr viele schon kurz nach dem Krieg es abgelehnt, von deutscher Schuld zu reden. Hier geht es nämlich nicht um eine Frage der Zeit, sondern um eine viel grundsätzlichere Frage: Wie gehen wir überhaupt mit Schuld um?

Bezeichnenderweise waren es gerade Leute wie unser früherer hessen-nassauischer Kirchenpräsident Martin Niemöller, der selber Hitlers Gefangener gewesen war, die dann nach dem Krieg ein Schuldbekenntnis ablegen konnten: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Da ging es nicht um ein Wühlen in Schuld, sondern es ging um die schmerzliche Erkenntnis, dass es auch aus Gedankenlosigkeit, aus Angst, aus Vorurteilen heraus dazu kommen kann, dass man einer verfolgten Gruppe von Mitmenschen die notwendige Hilfe schuldig bleibt. Zugleich ging es darum, dass aus erkannter, bereuter und bekannter Schuld ein Neuanfang erwächst: Vergebung eröffnet neue Wege, neue Chancen.

Und wenn wir heute als Touristen nach Israel fahren können, ohne zu befürchten, dass uns dort alle Leute ausweichen oder uns durch Blicke und Worte daran erinnern, was ihre Eltern oder sie selbst erlitten haben, dann ist das nicht unbedingt ein Beispiel dafür, dass Menschen zudecken, beschweigen, vergessen können, dass die Zeit alle Wunden heilt. Vielleicht verdanken wir solche guten Erfahrungen gerade den Menschen, die ihre Erinnerungen nicht verdrängt haben, die in der Lage waren, um Vergebung zu bitten, umzukehren. Z. B. Willy Brandt, Gustav Heinemann oder Richard von Weizsäcker sind beispielhaft für eine solche Haltung. Gerade wenn man nicht vergisst, also bei klarem Bewusstsein, kann es einen neuen Anfang, kann es Versöhnung geben, Versöhnung auch zwischen Deutschen und Israelis, zwischen Christen und Juden.

Vergessen und Versöhnung sind nicht dasselbe! Deshalb sind wir ja hier zusammen: zu einer Stunde des Gedenkens, nicht des Vergessens.

Zudecken, beschweigen, vergessen kann beruhigen und praktisch sein zwischen Freunden und Ehegatten, zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Völkern. Nur muss man befürchten, dass Vergessenes irgendwann wieder hochkommt und dass alles von vorne losgeht.

Versöhnung untereinander und mit der eigenen Geschichte hat zu tun mit der Freiheit, über Schönes und Schlimmes zu reden. Vor allem in den Familien sollte das möglich sein. Und auch wenn noch nie offen geredet worden ist zwischen Enkeln und Großeltern, zwischen Kindern und Eltern, z. B. über das, was in unserem Land geschehen ist vor 50 Jahren, dann kann doch heute ein Anfang gemacht werden. Vielleicht hat man sich geirrt, wenn man dachte: Die jungen Leute interessieren sich ja doch nicht für das, was die „Alten“ sagen. Aber irgendwann ist es zu spät, können solche Gespräche nicht mehr nachgeholt werden.

Und noch etwas. Wenn wir über Vergangenes nicht mehr reden, wenn wir vergangenes Leid zudecken, eigenes und fremdes, wenn wir uns scheuen, über Verantwortung und Schuld überhaupt nur nachzudenken, dann verlieren wir auch die Fähigkeit, unserer Verantwortung für die Zukunft gerecht zu werden. Ich verzichte darauf, hier ausführlich zu werden, nenne nur ein paar Sätze, um den Zusammenhang anzudeuten: Wenn wir weiter die Augen verschließen vor dem Hunger in der Welt, den wir durch das System des Welthandels und durch unsere Konsumgewohnheiten mitverantworten, ist der Weltfriede auf Dauer in Gefahr. Und wenn wir es nicht schaffen, die Aussiedler bei uns einzugliedern und auch jenen eine neue Heimat zu geben, die bei uns eine Zuflucht vor Verfolgungen suchen, und wenn wir es außerdem noch zulassen, dass beide Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, dann ist es nicht auszuschließen, dass irgendwann neue Pogromstimmungen entstehen und geschürt werden, wie damals vor 50 Jahren. Und davor behüte uns Gott! Wir sind stolz darauf, nach dem Krieg eine demokratische und freiheitliche Gesellschaft aufgebaut zu haben, in der die Menschen so viele Rechte haben wie nie zuvor in einem deutschen Staat. Ein Land mit menschlichem Gesicht ist und bleibt unser Land jedoch nur, wenn wir sensibel bleiben für jede Art von Unrecht und Bedrückung – sei es vor 50 Jahren oder sei es auch in dem, was auf uns zukommt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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