Bild: Helmut Schütz

Seelsorge

Pfarrer Helmut Schütz beschreibt Seelsorge in biblischer Sicht und nach heutigen Konzepten der Verkündigung oder Beratung, ausgehend von Überlegungen, wie die Seele in der israelitisch-jüdischen Tradition und im griechisch geprägten Denken betrachtet wurde.

Altarbild in der Alzeyer Klinikkapelle mit Jesus, der kranke und behinderte Menschen um sich schart
Altarbild in der Klinik-Kapelle Alzey: „Und als Jesus das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.“

Inhalt

  1. Einführung
  2. Seele und Leib in der israelitisch-jüdischen Tradition
  3. Seelsorge der Barmherzigkeit bei Jesus
  4. Unsterbliche Seele im griechisch geprägten Denken
  5. Seelsorge als Verkündigung an den Einzelnen
  6. Beratende Seelsorge als Seelsorge in Beziehung

1. Einführung

Ich möchte Ihnen heute ein paar grundsätzliche Überlegungen zum Thema „Seelsorge“ nahebringen. Falls ich anfange, Sie mit theologischem Fachvokabular zuzudecken, so wie ich mich manchmal drüben im Personalwohnheim bei einem medizinisch-psychiatrischen Fachvortrag zugedeckt fühle, dann fragen Sie bitte gleich nach. Und auch sonst – wenn Sie etwas anmerken möchten, können Sie jederzeit einhaken.

Meine erste Frage zum Thema „Seelsorge“ ist folgende: Woher kommt eigentlich dieses merkwürdige Wort „Seel-Sorge“? Es scheint aus einer Zeit und einer Denktradition zu stammen, die dualistisch zwischen Leib und Seele trennte und dem Arzt die Sorge für den Leib zuschrieb, während dem Pfarrer die Sorge für die Seele übrig blieb. In einer Zeit, in der Psychotherapeuten mehr und mehr den Bereich der seelischen Heilung übernommen haben, könnte man sich fragen: Ist der kirchliche Seelsorger damit nicht überflüssig geworden?

Wenn ich von Seelsorge spreche, dann meine ich christliche Seelsorge. Christliche Seelsorge hat eine lange Geschichte hinter sich, aus der ich fünf Punkte herausgreife und den Versuch mache zu zeigen: Was hat damals Seelsorge bedeutet?

2. Seele und Leib in der israelitisch-jüdischen Tradition

Zunächst einige Anmerkungen zur israelitisch-jüdischen Tradition, die das Christentum mit dem ersten Teil der Bibel, dem sog. Alten Testament, übernommen hat. Viele wissen nicht mehr, dass das alte Volk Israel das Wort Seele noch absolut nicht dualistisch verstand. Mit diesem Wort wurde der Bereich des Fühlens bezeichnet, den man aber nicht losgelöst vom Körper dachte, es war eine Umschreibung für die Persönlichkeit des Menschen, für sein Leben als Ganzes. Die Juden damals kannten zunächst nicht einmal ein Leben nach dem Tode und hatten daher auch keine Vorstellung davon, dass im Tod eine unsterbliche Seele den Körper verlässt und dann irgendwo weiterlebt. Diese Vorstellung hat sich in einem ganz anderen Kulturkreis, nämlich dem griechischen, entwickelt und hat dann erst später das Christentum massiv beeinflusst. Wenn die Juden dann doch anfingen, an eine Auferstehung zu glauben, dann meinten sie eine Auferstehung des ganzen Menschen mit Leib und Seele; sie verstanden das so: Wenn Gott am Anfang aus dem Nichts eine ganze Welt schaffen konnte, dann müsste er auch fähig sein, einen schon dagewesenen Menschen noch einmal neu zu schaffen – und zwar in einer für uns unvorstellbaren Weise in einer ganz anderen Dimension der Wirklichkeit – aber jedenfalls auch als Mensch mit Seele und Leib. Es gab in der damaligen israelitisch-jüdischen Kultur auch keine Unterschied zwischen Medizin und Seelsorge; die Priester hatten neben ihren religiösen Funktionen auch die Funktion des Gesundheitsamtes, zum Beispiel mussten sich Aussätzige bei ihnen melden und wurden dann je nachdem für unrein oder rein erklärt und ggf. unter strenge Quarantäne gestellt.

Seelsorge war damals keine individuelle Angelegenheit, sondern es galt vor allem, sich als Teil des von Gott erwählten Volkes geführt zu wissen und zu bewähren. Dabei hatten die Priester mit dem Opferkult eine eher bewahrende Funktion, während es immer auch die kritische Stimme der Propheten gab, die sozusagen gegen den Strom der öffentlichen Meinung dem Volk ins Gewissen redete oder auch Katastrophenstimmungen entgegenwirkte.

Wie wenig Vorbehalte die jüdische Tradition gegenüber der Körperlichkeit hatte, zeigt sich auch daran, dass sie nicht grundsätzlich sexfeindlich eingestellt war. Wenn es Einschränkungen auf dem Gebiet der Sexualität gab, dann nicht aufgrund der Annahme, dass der Körper weniger wert sei als die Seele, sondern aufgrund anderer, höhergewerteter Ziele: einmal galt die Fortpflanzung als höchstes Gut, weil das Bestehenbleiben und das Wachsen des Volkes Israel eine der wichtigsten Verheißungen war, mit denen das Volk Israel sich von seinem Gott beschenkt wußte, und dazu mussten jeder Mann und jede Frau ihren Beitrag leisten. Außerdem waren den Israeliten die sexuell gefärbten Fruchtbarkeitsriten der Nachbarvölker deswegen ein Greuel, weil sie damit einerseits Naturmächte vergötterten, und andererseits eben diese selbstgemachten Götter magisch unter ihre Kontrolle bringen wollten. Daher die radikale Absage an alle Arten von Tempelprostitution. Daneben gab es auch schon die Einsicht, dass jede Art von sexuellem Kontakt die Kommunikation des ganzen Menschen impliziert – das sieht man zum Beispiel an dem schönen biblischen Wort „Erkennen“ für „Miteinanderschlafen“ oder in dem Wort aus der Paradiesgeschichte „sie werden ein Fleisch sein“. Aber prüde ist das Alte Testament absolut nicht, nichts Menschliches ist der Bibel fremd, ich fand in den Büchern Mose sogar eine Anleitung, wie man im Lager in der Wüste einen geeigneten Abtritt bauen soll.

3. Seelsorge der Barmherzigkeit bei Jesus

Ich komme nun zum Christentum selbst, und zunächst zur Zeit Jesu. Grundsätzlich muss man sagen, dass Jesus und seine Jünger als Juden das ganzheitliche jüdische Denken geteilt haben. Um das zu erläutern, möchte ich einige Bibelverse zitieren. Im Evangelium nach Matthäus wird zum Beispiel von Jesus erzählt (9, 35-36): „Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.“ Und ein paar Verse weiter heißt es, dass mit dem gleichen, was Jesus tun konnte, auch seine Schüler und Nachfolger beauftragt wurden (10, 1): „Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen.“ (10:7): „Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“

In diesen Versen kommt zum Ausdruck: Erstens hat Jesus Leib und Seele im Blick. Er will die Menschen nicht auf ein besseres Jenseits vertrösten, sondern will sie schon hier heil machen an Leib und Seele. Zweitens: Das tun er und seine Jünger, indem sie die sichtbare leiblich-seelische Wirklichkeit mit der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes konfrontieren. Gott ist nahe, man kann ihm vertrauen, darum hat das Leben einen anderen Sinn, darum ist Krankheit keine Strafe mehr, darum schließt Krankheit nicht aus der Gemeinschaft aus, darum können psychosomatische Krankheiten geheilt werden, die aus einem Mangel an Liebe und Vertrauen entstanden sind. Bildlich gesprochen werden bei diesen Heilungen die „unreinen Geister“ der Angst, des Hasses, der Schuld und anderer krankmachender Zwänge ausgetrieben. Damals hat man natürlich psychosomatische Heilungen als übernatürliche Wunder aufgefasst und hat dann messerscharf geschlossen: Wenn Jesus Gottes Sohn ist, dann muss er alle Krankheiten, auch körperliche, eben auch übernatürlich heilen können. Das ist von heute her gesehen ein Irrtum, der man uns Kirchenleuten seit der Zeit der Aufklärung massiv und mit Recht um die Ohren geschlagen hat.

Was uns Matthäus über Jesus sagt, ist also mit Sicherheit nicht als Tatsachenbericht wahr. Jesus hat bestimmt nicht alle Kranken damals geheilt; das kann man schon daraus entnehmen, dass der gleiche Evangelist Matthäus auch die Geschichte überliefert, dass Jesus in seiner Heimatstadt Nazareth kein Wunder vollbringen konnte, weil man dem Zimmermannssohn dort von vornherein so etwas nicht zutraute. Aber wahr ist, dass Jesus von einem Glauben an Gott erfüllt war, der es nicht zuließ, dass irgendein Kranker, egal ob seelisch oder körperlich krank, egal ob durch eigenes oder fremdes Verschulden, ohne Hoffnung bleiben sollte. Krankheit im Sinne Jesu ist niemals gottgewollt, ist immer etwas, gegen das man kämpfen muss, und nur wenn man an die Grenzen der Machtlosigkeit stößt, ist etwas anderes dran: nämlich ein schlichtes menschliches Annehmen dessen, was man nicht ändern kann. So wie es Jesus später auch tat, als er zum Tode verurteilt wurde. Für Jesus gab es die Hoffnung über den Tod hinaus, aber diese Hoffnung war eigentlich die Hoffnung auf ein Weiterbestehen einer Beziehung: Wer auf Gott vertraute, der durfte sich auch weiter in Gottes Liebe geborgen wissen, selbst wenn er stirbt.

Was den Juden und auch den ersten Christen besondere Sorge bereitete, das war die Frage: Bin ich eigentlich Gott recht, so wie ich bin, oder hätte er Grund, mich zu verstoßen? Die Pharisäer und Essener antworteten damals auf diese Frage: Du musst dich an Gottes Gebote halten, dann bist du Gott recht. Die Zeloten sagten: Du musst in der Befreiungsbewegung gegen die heidnischen Besatzer kämpfen, dann wird Gott wieder im Land herrschen und du hast genug für Gott getan. Und Jesus drehte diese Logik einfach um und sagte: Gott ist euch nahe, ohne dass ihr zuvor eine Bedingung erfüllen müsst, denn er liebt euch so, wie ein guter Vater seine Kinder liebt. Und wenn ihr mit einem solchen Gottvertrauen in der Welt leben könnt, dann werdet ihr auch mit den Menschen barmherzig umgehen und grade auf diese Weise auch die Gebote Gottes erfüllen. So könnte man also die Art umschreiben, in der Jesus „Seelsorge“ trieb – er verkündete den Gott, der ganz nahe und barmherzig ist, wie ein guter Vater oder eine gute Mutter, und er ging mit den Menschen auch selber entsprechend um – daher seine Fähigkeit zu heilen und seine auch für menschliche Beziehungen heilsame Ausstrahlung.

4. Unsterbliche Seele im griechisch geprägten Denken

Als sich dann aus den ersten kleinen christlichen Gemeinschaften die Kirche entwickelte und den Glauben an den ursprünglich nur von den Juden angebeteten Gott auch in den weltweiten hellenistisch-römischen Raum hinein verbreitete, da übernahm die Kirche dann auch viel vom griechisch geprägten Denken. Zum Beispiel auch von der geistigen Strömung, die man Gnosis (das heißt wörtlich: Erkenntnis) nannte. Diese Bewegung war im Wesentlichen davon geprägt, dass man alles Irdische, Weltliche, Materielle für minderwertig und böse hielt, und nur das höhere Geistige habe Bestand. Kein Wunder, dass man bald den von einer jungen Frau (im hebräischen Sinn war das einfach eine gebärfähige Frau) geborenen Jesus als von einer Jungfrau geboren verkündete (Jungfrau im griechischen Sinne des Unberührtseins). Das Ziel des Glaubens verschob sich nun auch in dem Sinne, als es gar nicht mehr um die Frage ging: Bin ich Gott recht mit dem, was ich tue oder wie ich ihm vertraue, sondern es ging mehr um die Angst vor der Sterblichkeit und Endlichkeit. Der Glaube und die Sakramente wurden mehr und mehr zu einem „Pharmakon athanasias“, zu einem Medikament der Unsterblichkeit; und eine lange Kirchengeschichte begann, in der man im Gegensatz zur Lehre Jesu mehr vertröstet als getröstet und mehr das Jenseits gepredigt als die Menschen im Diesseits ernstgenommen hat. Das hat natürlich auch damit zu tun gehabt, dass schon nach wenigen Jahrhunderten die christliche Kirche zur Staatsreligion des römischen Reiches und später im ganzen Abendland wurde. Ohne Frage ist dabei auch der christliche Glaube missbraucht worden, um staatliche Macht zu stützen. Kirche und Staat haben sich dann im Mittelalter zwar sehr viele Machtkämpfe geliefert, aber dennoch zogen sie den unteren Volksschichten gegenüber am gleichen Strang. Der Jesus der kleinen Leute, der Ausgestoßenen und Kranken blieb in dieser langen Kirchengeschichte immer nur kleineren Gruppierungen innerhalb der Kirche lieb und wert, zum Beispiel dem Franziskus und seinen Mönchen.

5. Seelsorge als Verkündigung an den Einzelnen

Ich mache nun einen weiten Sprung bis in unser Jahrhundert. Nachdem Aufklärung und Säkularisation schon lange die kirchlich-christliche staatstragende Religion mehr und mehr in die Enge getrieben hatte, erlitt am Ende des ersten Weltkriegs das Bündnis von Thron und Altar auch in Mitteleuropa einen gewaltigen Knacks – der deutsche Kaiser dankte ab, mit ihm sein Gottesgnadentum, und die Arbeiterbewegung, wenn auch in ihrer gemäßigten Form, übernahm Regierungsverantwortung. Dem Glauben an einen aufs Jenseits vertröstenden Gott der Reichen wurde eine Absage erteilt: Helfen kann den unterdrückten Menschen „kein Gott, kein Kaiser und Tribun, uns von dem Elend zu erlösen, das können nur wir selber tun“. Und in dieser Zeit gab es nun eine neue Bewegung in der Kirche, die von Karl Barth und Eduard Thurneysen, zwei evangelischen Schweizern, ins Leben gerufen wurde, die sog. Dialektische Theologie. Gemeint war damit nicht die Hegel-Marxsche Geschichtsdialektik, sondern die einfache These: Gott ist ganz anders als all unsere menschlichen Vorstellungsmöglichkeiten, er ist so viel größer und steht uns Menschen so sehr absolut gegenüber, dass man dieses Gegenüber nur mit dem abstrakten Begriff der dialektischen Gegensätzlichkeit umschreiben kann. Das Faszinierende an dieser Auffassung liegt sozusagen in einer Neuauflage der Funktion der alttestamentlichen Propheten: Direkt von Gottes Wort her meldeten sich nun kirchliche Vertreter gegen den deutschen Nationalismus, gegen Kriegstreiberei und gegen soziale Missstände zu Wort. Dazu muss man erwähnen, dass das damals absolut nicht selbstverständlich war. Im Ersten Weltkrieg gehörten die meisten Pfarrer noch zu denen, die in Kriegspredigten begeistert dazu aufriefen, für Gott und Kaiser und Vaterland in den Krieg zu ziehen.

Die dialektischen Theologen sagten auch: Jede Religionskritik hat recht gegen eine Religion, die einfach nur die bestehenden ungerechten Verhältnisse rechtfertigt und stützt. Jesus hat gar keine neue Religion gründen wollen, sondern den einen, realen Gott gepredigt, der ganz anders ist als unsere menschlichen Vorstellungen von Religion. Wer also wirklich Christ sein will, der muss wieder bei Jesus anknüpfen und wirklich den Menschen an Leib und Seele helfen wollen. Für die Seelsorge bedeutete das, dass zum Beispiel Eduard Thurneysen in seinem Buch „Praktische Seelsorge“ den Pfarrern einen Leitfaden an die Hand zu geben versuchte, wie man die Menschen in ihren alltäglichen Problemen wirklich ernstnimmt und ihnen zugleich das Wort Gottes ganz konkret verkündet.

Mit dem Wort Gottes war dabei gemeint: Dass Gott zu den Menschen Kontakt aufnimmt, zu ihnen spricht, Ja zu ihnen sagt, barmherzig mit ihnen ist, dass sie eine Geschichte mit ihm erleben können. Dass Gott auf der anderen Seite auch alles in Frage stellt, was Menschen ohne Gott auf die Beine zu stellen versuchen, zum Beispiel Nationalismus, egoistische Selbstverwirklichung, Nihilismus usw. (Eine besonders schwierige Frage ist dabei die Frage nach dem Zusammenhang von Sünde und Beichte und Krankheit. Darauf heute einzugehen, würde zu weit führen, das wäre vielleicht einmal Thema eines eigenen Referats.)

Es gab nun zwar gutwillige Seelsorger, die ihrem Gegenüber rein menschlich begegnen wollten; aber die Frage blieb, ob sie das eigentlich noch konnten, wenn sie gleichzeitig diesen Anspruch hatten, ihnen sozusagen das Wort Gottes in einer Einzelpredigt ausrichten zu müssen. Sie haben vielleicht von Vergebung und Trost geredet, haben gemeint, in einem guten Seelsorgegespräch müsse schließlich auch gebetet werden, haben vielleicht einen Bibelspruch für jeden Situation parat gehabt. Das Problem war dabei: Gerät der Seelsorger nicht in die Gefahr, seinen Gemeindegliedern die Verkündigung einfach so überzustülpen?

Gegenüber Karl Barth und seiner Dialektischen Theologie hat es eine Gegenbewegung gegeben, vor allem in der Gestalt des Theologen Paul Tillich, der gesagt hat: Es ist zwar richtig, dass Gott den Menschen unendlich überlegen ist, aber dennoch muss es in der menschlichen Wirklichkeit sozusagen Anknüpfungspunkte geben, durch die Gott zu den Menschen überhaupt reden kann. Das kann nur über Symbole geschehen, das sind Dinge der menschlichen Realität, die durchscheinend werden für göttliche Dinge – die sog. Transzendenz. Wenn Gott sich real offenbart, dann tut er das in der einzigen Wirklichkeit, die uns empirisch zugänglich ist. Dann allerdings muß eine verantwortlich ausgeübte Seelsorge sich auch Rat suchen bei den empirischen Wissenschaften.

5. Beratende Seelsorge als Seelsorge in Beziehung

Darum hat es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in den USA eine Seelsorgebewegung gegeben, die psychologische Fragestellungen in die Ausbildung der Seelsorger einbezogen hat. Es entstand ein ganz neuer Zweig der Praktischen Theologie, die Pastoralpsychologie. Unter dem Stichwort „Pastoral counseling“ oder „beratende Seelsorge“ begann man, auf Erfahrungen der empirischen Humanwissenschaften zurückzugreifen, um Seelsorge auch methodisch zu „lernen“. Howard J. Clinebell hat zum Beispiel 1966 ein ganzes Buch mit „Modellen beratender Seelsorge“ vorgestellt (1971 wurde es in der BRD veröffentlicht). Anfang der siebziger Jahre kam diese Seelsorgebewegung dann auch nach Deutschland.

Das Besondere daran war nicht eigentlich eine neue Theologie, sondern die Frage der Methode. Wie kann man denn in einer seelsorgerlichen Beziehung einem anderen vermitteln, dass Gott ihm barmherzig ist, ohne ihn anzupredigen, ohne ihm von oben herab zu verkünden, dass ich besser weiß als er, was ihm gut tut? Die Antwort darauf war für uns Studenten und junge angehende Pfarrer damals, dass wir zunächst einmal ganz bescheiden wurden. Wir fingen an, zuhören zu lernen, in Gruppen uns selbst zu erfahren mit den eigenen inneren Konflikten. Ich zum Beispiel lernte, dass es ein himmelweiter Unterschied ist, ob ich einem Menschen nur predige: „Gott liebt dich!“ – oder ob dieser Mensch in einer realen Beziehung, vielleicht in einem Gespräch mit mir erfährt: „Hier darf ich sein, wie ich bin, hier werde ich ernstgenommen und angenommen.“

Ich hatte das Glück, dass damals in meinem ersten Studiensemester, im Wintersemester 1971/72, ein Vertreter dieser neuen Seelsorgebewegung gerade an die Kirchliche Hochschule in Bethel kam: Professor Dietrich Stollberg. Ohne ihn säße ich wahrscheinlich nicht hier. Denn 1. lernte ich durch ihn: Es geht im christlichen Glauben nicht um dogmatische Richtigkeiten, sondern um die Erfahrung von Annahme und konkreter Orientierung. 2. war ich durch sein Beispiel so fasziniert von den Möglichkeiten der Seelsorge, dass ich meinen Berufswunsch änderte und nicht Lehrer, sondern Pfarrer wurde. Und 3. verlor ich durch ihn die Scheu vor Selbsterfahrungsgruppen. Er hat damals eins seiner Proseminare als Selbsterfahrungsgruppe abgehalten, dafür gab’s sogar einen Schein, aber viel wichtiger war – ich habe dort eine Menge meiner früheren Gehemmtheit und Unsicherheit loswerden können. Es war auch der erste Schritt für meine intensive Auseinandersetzung mit der Psychologie; zehn Jahre später begann ich dann, beeinflusst durch Helmut Harsch, bei Thomas Weil eine transaktionsanalytische Ausbildung.

Das Wichtigste an der neueren Seelsorgebewegung ist, dass Seelsorgeausbildung nicht einfach nur mündliche oder schriftliche Weitergabe aus dem Erfahrungsschatz älterer Seelsorger ist, sondern dass man in sog. CPT oder KSA-Kursen Besuche auf Krankenstationen macht, die dann in Fallbesprechungsgruppen anhand von Protokollen durchgesprochen werden. Indem man sich selber in Beziehungen besser kennenlernt, kann man im Laufe der Zeit merken, wie man sich selber im Wege steht, wie man besser Kontakt aufnehmen kann, Begleiter sein kann, ermutigen, klären helfen kann.

Der Begriff „beratende Seelsorge“ oder auch „therapeutische Seelsorge“, der bei der neueren Seelsorgebewegung verwendet wird, führt nun natürlich zu weiteren Problemen. Nämlich: wo liegt nun die Grenze zur nicht-seelsorgerlichen Beratung, wo die Grenze zwischen Seelsorge und Therapie?

Die Antwort ist: Es gibt keine grundsätzliche, klar definierbare Trennungslinie zwischen beidem. Stollberg sagt sogar: „Seelsorge ist phänomenologisch nichts anderes als Psychotherapie im Kontext der Kirche. Theologisch ist Seelsorge allerdings das Sakrament echter Kommunikation, welches sich die an der Seelsorge Beteiligten gegenseitig spenden“.

Worin also lässt sich doch ein Unterschied zwischen Seelsorge und Psychotherapie festmachen? Mir fallen drei Unterscheidungsmerkmale ein:

Das eine betrifft die religiöse Dimension, die für die Seelsorge konstitutiv ist. Wer zum Seelsorger geht, kann und darf erwarten, dass in der Seelsorge die Frage nach dem Glauben, nach dem Sinn des Lebens, nach Schuld und Vergebung und andere religiöse Fragen eine Rolle spielen. Ein Psychotherapeut, der selber Christ ist, könnte allerdings genau in der gleichen Weise auch seine Therapie machen.

Dazu ist mir eine Graphik eingefallen, die ich einmal in einem Transaktionsanalytischen Sammelband gefunden habe, von Martin Groder: Das „Groder-Oktaeder“ (im Artikel „Asklepeion: Eine Integration psychotherapeutischer Verfahren“ von Martin Groder; in: Graham Barnes et al., Transaktionsanalyse seit Eric Berne, Band I: Schulen der Transaktionsanalyse, Theorie und Praxis, S. 187.)

Die Grafik zeigt den Groder Oktaeder, dessen vier Ecken der Grundfläche die Dimensionen des Körpers, Gefühls, Denkens und Verhaltens repräsentieren. Darunter liegt die Spitze des gesellschaftlichen, darüber wölbt sich die Spitze des übernatürlichen Bereichs.

Das zweite Unterscheidungsmerkmal betrifft den Seelsorger als Amtsträger bzw. als Vermittler von etwas letztlich Unverfügbarem – viele Menschen vertrauen auf den Pfarrer, wenn er ihnen Gottes Vergebung zuspricht oder Gottes Wort von der Kanzel sozusagen in höherem Auftrag verkündet. Im Unterschied zu jedem Therapeuten biete ich als Pfarrer auch die Rituale und Gemeinschaftsangebote einer Kirchengemeinde an. Man könnte auch sagen, dass der Seelsorger sozusagen seine religiöse Gemeinschaft hinter sich weiß (jedenfalls in der Regel) – und meistens auch das Vertrauen auf seinen Gott.

Und das dritte Merkmal ist besonders praktisch wichtig für uns hier in der Klinik – es betrifft einfach die Frage des Settings. Es gibt zwar auch Seelsorger, die fordern, dass der Seelsorger grundsätzlich als einer unter mehreren Therapeuten in das therapeutische Team integriert sein sollte, zuständig im Besonderen für die spirituelle Dimension, die sich auch in einem Krankheitsbild manifestieren kann, aber ich denke da etwas anders. Da zumindest in Deutschland die Heilkunde nur von Ärzten oder Heilpraktikern ausgeübt werden darf, gehe ich davon aus, dass die therapeutische Aufgabe im Sinne der Diagnose und Behandlung von Krankheiten ausdrücklich nicht zu meinem Aufgabenbereich in der Klinikseelsorge gehört.

Gleichwohl kann seelsorgerliche Arbeit ergänzend hilfreich sein, wiederum in doppelter Hinsicht:

  • wieder in einem inhaltlichen Sinn, wenn Patienten spezielle religöse Fragen und Probleme haben, oder wenn sie religiös geprägt sind und sich durch religiöse Angebote ansprechen lassen; außerdem auch wenn eine ethische-religiöse Klärung zur Debatte steht,
  • oder in einem mehr formalen Sinn, wenn Patienten den Kontakt zu einem nicht-therapeutischen Ansprechpartner suchen, den Seelsorger also einfach als einen Menschen nutzen, der Zeit für sie hat, zuhört, bei dem sie sich aussprechen können – sozusagen in einem therapiefreien Raum.

Ein schönes Bild für die Aufgaben eines Seelsorgers fand ich übrigens bei Irmela Hofmann. Sie hat geschrieben, ein Seelsorgegespräch vollziehe sich sozusagen in einem Raum mit vier Wänden,

  • der Klagemauer (an der man erst einmal sein Herz ausschütten kann),
  • der Stellwand (hier passiert die Konfrontation mit dem tieferliegenden Problem, dem es sich zu stellen gilt),
  • der Glaswand (durch die sozusagen die Sonne hereinscheint, also eine Ermutigung oder Tröstung von Gott) und
  • der Wand mit der Tür (die nach draußen führt, hin zu neuen Aufgaben oder Perspektiven). In diesem Modell wäre sozusagen die Glaswand das mit der religiösen Hoffnungsperspektive das Spezifikum der Seelsorge.

Idealtypisch wäre es vielleicht wünschenswert, dass der spirituelle Bereich grundsätzlich im therapeutischen Team selbst vertreten sein müsste, wie das in Amerika offenbar häufig der Fall ist. Aber in einer säkularisierten Gesellschaft ist nun einmal die religiöse Entscheidung Privatsache – und das mit guten Gründen. Von daher hat es sicher auch seinen guten Sinn, dass der Seelsorger als Vertreter der „höheren Macht“, der „spirituellen Dimension“ diese schillernde Position hat, in der er seine konkrete Rolle immer wieder neu bestimmen muss.

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