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Das königliche Gesetz der Barmherzigkeit

Es gibt keinen Gegensatz zwischen Pflicht und Freiheit – denn es ist ja das Gebot der Nächstenliebe, das mich frei dazu macht, mich auch selbst liebzuhaben. Es gibt keinen Gegensatz mehr zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Denn gerade, wenn ich mein Herz sprechen lasse, mein Mitgefühl, dann werde ich Menschen gerechter, als wenn ich nach dem starren Buchstaben eines Gesetzes handele.

Eine Hand, die eine andere Hand hält, wohl die eines alten Menschen (Schwarzweiß-Foto als Symbol der Barmherzigkeit)
Einander die Hand halten – Zeichen der Barmherzigkeit (Bild: James ChanPixabay)

#predigtGottesdienst am 18. Sonntag nach Trinitatis, den 22. Oktober 2000, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Ich begrüße Sie herzlich im Gottesdienst mit einem Wort aus 1. Johannes 4, 21:

Dies Gebot haben wir von [Jesus], dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder [und seine Schwester] liebe.

Brüderlichkeit, Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Barmherzigkeit – es gibt viele Worte, die ungefähr das gleiche meinen: Wer Gott finden will, muss die Menschen suchen. Man kann an den Menschen verzweifeln, man kann sie verachten, Jesus lehrt uns, barmherzig mit ihnen, mit uns zu sein.

Lied 586:

1) Herr, der du einst gekommen bist, in Knechtsgestalt zu gehen, des Weise nie gewesen ist, sich selber zu erhöhn:

2) Komm, führe unsre stolze Art in deine Demut ein! Nur wo sich Demut offenbart, kann Gottes Gnade sein.

3) Der du noch in der letzten Nacht, eh dich der Feind gefasst, den Deinen von der Liebe Macht so treu gezeuget hast:

4) Erinnre deine kleine Schar, die sich so leicht entzweit, dass deine letzte Sorge war der Glieder Einigkeit.

5) Drum leit auf deiner Leidensbahn uns selber an der Hand, weil dort nur mit regieren kann, wer hier mit überwand.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wer Gott finden will, muss die Menschen suchen.

Da ist ein Schüler, der immer stört im Religionsunterricht. „Den gibt‘s sowieso nicht“, sagt er. „Wen gibt‘s nicht?“, frage ich. „Den Gott“, sagt er. Er hat das schon oft gesagt. Und ich glaube, er ist wütend auf dich, dass es dich nicht gibt, dass sich keiner um ihn kümmert, kein Gott und kein Mensch.

Ein Mädchen erzählt mir, im Bus hat sich ein alter Mann neben sie gesetzt und aus seinem Leben erzählt. Ob er sonst niemanden hat, der ihm zuhört?

Ich begegne der Frau, die früher deine Nähe spüren konnte, ganz warm innen drin. Dann wurde sie krank, du bist ihr fern gerückt. Sie spürt dich nicht mehr. Wir reden, und am Schluss fragt sie: „Wo ist er denn? Ich spüre ihn immer noch nicht.“ Und ich weiß es einfach: Er ist doch hier, er war hier, die ganze Zeit.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Gott, wenn ich ungeduldig bin mit anderen Menschen, dann schenke mir Gelassenheit. Wenn ich an mir selbst verzweifle, dann schenke mir neues Selbstvertrauen. Wenn ich zu schnell fertig bin mit anderen Menschen, erinnere mich an deine Barmherzigkeit. Denn ich bin der erste, der sie braucht.

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Danke, Gott, dass du einer bist, in dessen Nähe ich aufatmen kann. Du kennst mich durch und durch – doch ich habe keine Angst davor. Du lässt mich leben.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Gott, viele suchen dich gar nicht mehr. Dich gibt‘s ja sowieso nicht, meinen sie. Viele geben es nicht zu, dass sie dich suchen. Es ist nicht cool, das offen zuzugeben. Vielleicht wissen viele auch nicht, dass sie dich suchen – sie nennen es anders – ich suche Liebe, ich suche Hoffnung, ich suche Selbstverwirklichung und Erfüllung im Leben. Gib, dass wir dich finden, selbst wenn wir dich gar nicht suchen. Lass uns dich finden, indem wir die Menschen suchen. Darum bitten wir dich im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören die Lesung aus dem Evangelium nach Markus 12, 28 – 34:

28 Und es trat zu [Jesus] einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?

29 Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,

30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«.

31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.

32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm;

33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.

34 Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis
Lied 412, 1-3+6+8:

1) So jemand spricht: „Ich liebe Gott“, und hasst doch seine Brüder,- der treibt mit Gottes Wahrheit Spott und reißt sie ganz darnieder. Gott ist die Lieb und will, dass ich den Nächsten liebe gleich als mich.

2) Wer dieser Erde Güter hat und sieht die Brüder leiden und macht die Hungrigen nicht satt, lässt Nackende nicht kleiden, der ist ein Feind der ersten Pflicht und hat die Liebe Gottes nicht.

3) Wer seines Nächsten Ehre schmäht und gern sie schmähen höret, sich freut, wenn sich sein Feind vergeht, und nichts zum Besten kehret, nicht dem Verleumder widerspricht, der liebt auch seinen Bruder nicht.

6) Vergibst mir täglich so viel Schuld, du Herr von meinen Tagen; ich aber sollte nicht Geduld mit meinen Brüdern tragen, dem nicht verzeihn, dem du vergibst, und den nicht lieben, den du liebst?

8) Ein unbarmherziges Gericht wird über den ergehen, der nicht barmherzig ist, der nicht die rettet, die ihn flehen. Drum gib mir, Gott, durch deinen Geist ein Herz, das dich durch Liebe preist.

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde, wer aufmerksam das Lied eben mitgesungen und auf den Text geachtet hat, dem ist vielleicht die Zeile aufgefallen: „Ein unbarmherziges Gericht wird über den ergehen“ – ja, über wen wird so hart geurteilt? „Der nicht barmherzig ist…“.

Aufgepasst, alle Leute, die sich vor Gottes Gericht fürchten: Ihr habt nichts zu fürchten, wenn ihr barmherzig seid. Und aufgepasst, alle Leute, die denken, Gott vergibt sowieso alles, Jesus ist ein nachsichtiger Richter, egal, was wir tun, es wird schon gut ausgehen: in einem Punkt ist gerade Jesus kein Weichei, er kennt keine Nachsicht, wenn wir unbarmherzig sind. Das kann er nicht ab, da wird er zornig. Unbarmherzig sein und Gott im Himmel, das passt nicht zusammen.

Wie sieht das aus, barmherzig sein? Das Wort ist altertümlich und hat mit unserem Herzen zu tun. Aber was heißt: „barm“? Es gibt in Nord- und Ostdeutschland das Wort „barmen“, das heißt so viel wie: „jammern“ oder „klagen“. Wenn „barmherzig“ von diesem Wort abgeleitet ist, dann ist ein barmherziger Mensch offen für die Klagen eines anderen.

Und das passt. Von Jesus heißt es (Matthäus 9, 36):

Als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.

Es jammert ihn, er fühlt mit, er kann sich in die Klagen der Menschen hineinversetzen. Barmherzigkeit ist ein mitfühlendes Herz. Ein Herz, das bewegt wird, angerührt durch das, was ein anderer fühlt.

Um barmherzig zu sein, muss man im Kontakt sein mit den Menschen, aufmerksam beobachten, zuhören, wahrnehmen. Sonst kriegt man nicht mit, wie es einem anderen geht. Wer barmherzig sein will, muss die Menschen ansehen.

Im Predigttext von heute, im Brief des Jakobus 2 lese ich es etwas anders:

1 Liebe [Geschwister], haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.

Wie ist das gemeint? Der Glaube – frei vom Ansehen der Person. Es kann nicht gemeint sein, dass man gar nicht hinschauen soll, sich nicht um den anderen kümmern soll. Offenbar geht es um die Art des Hinschauens – wie blicken wir einander an: abschätzend – ist jemand für uns wertvoll oder nicht, wollen wir ihn bei uns haben oder nicht? oder liebevoll – was könnte dieser Mensch durchgemacht haben, was könnte er in seiner Lage empfinden, was könnte er brauchen? Jakobus malt uns ein eindrucksvolles Beispiel vor Augen:

2 Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung

3 und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich unten zu meinen Füßen!,

4 ist’s recht, dass ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?

Menschen sehen unterschiedlich aus, sie rufen verschiedene Gefühle in uns wach. Der gutgekleidete Herr könnte vielleicht Geld spenden, will man sich ihn deshalb warmhalten? Der Mann in abgerissener Kleidung, vielleicht riecht er auch nicht gut, der verführt uns leicht zu einem abwertenden Urteil. Ist es ein Penner, ein Obdachloser, der das Stadtbild stört?

Unterschiede zwischen den Menschen gibt es. Wir können auch gar nicht anders – wir fällen immer Urteile. Aber es ist nicht richtig, die Menschen nach ihren Unterschieden zu bewerten: der Reiche kriegt den besten Platz, der Arme muss froh sein, dass er überhaupt bleiben darf. Wer liebevoll hinschaut, handelt anders.

Beim Urteilen fällt mir die Schule ein. Da muss ich im Religionsunterricht Zensuren geben: Du kriegst eine Eins, du eine Drei, du eine Fünf. Was bewerte ich da? Den Schüler oder seine Leistung? Die Person oder sein Verhalten? Nehme ich den Jakobus ernst, dann darf ich nicht die Person durch eine Note ab- oder aufwerten: Den mag ich gern, der kriegt eine Eins, auch wenn er nicht so viel kann. Der provoziert mich immer, der glaubt nicht an Gott, der kriegt eine Sechs, auch wenn er sich gut beteiligt. So darf es nicht laufen.

In der letzten Woche fiel es mir persönlich im Religionsunterricht sehr schwer, barmherzig zu sein. Zumal ich das Gefühl hatte, dass eine Reihe von Schülern sehr unbarmherzig mit mir umging. Ich mühte mich ab, und die Schüler waren außer Rand und Band. Einer, der mir immer sehr viel Kummer macht, fing zwischendurch auch noch an, eine Mitschülerin zu beleidigen. Er zog sie mit ihrem Aussehen auf und kränkte sie tief. Ich stellte mich vor ihn hin und fragte ihn: „Wie würdest du dich denn fühlen, wenn ich dir das so sagen würde? Würde dich das nicht auch verletzen?“ Er meinte: „Das würde mir nichts ausmachen. Das wäre mir egal.“

Wie verletzt muss ein Junge sein, der so etwas sagt? Dem Kränkungen angeblich nicht ausmachen, der sich zur Wehr setzt, indem er nur immer austeilt, keine Rücksicht nimmt?

Aber bis jetzt weiß ich noch nicht, wie ich mit ihm umgehen soll. Ich möchte zu ihm durchdringen, möchte seinen Kränkungen nicht noch weitere hinzufügen. Aber ich muss auch sein Verhalten ernstnehmen, muss ihn stoppen, wo er andere verletzt, wo er meinen Unterricht kaputtmacht, muss ihm mangelhafte Leistungen bescheinigen, ohne ihn als Person abzuwerten, muss ihm zeigen, dass ich ihm anderes, Gutes, zutraue. Leicht ist das nicht. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, ihn aus seiner Reserve zu locken.

Zurück zum Predigttext. Jakobus möchte uns noch mehr sagen:

5 Hört zu, meine lieben [Geschwister]! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben?

Erst hatte Jakobus gesagt, dass man nicht nach dem Ansehen der Person den Reichen höher als den Armen bewerten sollte. Jetzt sagt er sogar: Bei Gott ist es sogar umgekehrt: Die Armen sind erwählt, sie sind reich, sie werden als erste den Himmel erben! Was das Vertrauen zu Gott angeht, haben die Armen größere Chancen als die Reichen, denn sie wissen besser, wie es ist, bedürftig zu sein, auf Hilfe und Liebe angewiesen zu sein. Reiche Leute sind auch liebebedürftig. Aber sie können sich leichter einreden, dass sie nichts brauchen, dass man ihnen nichts schenken muss. Darum sind die Reichen in Jesu Augen oft die eigentlich Armen.

Die Gemeinde der Christen aber sollte eine Zuflucht sein für Menschen, die benachteiligt sind. Zum Beispiel wenn jemand seelisch krank ist und viel Verständnis und Geduld braucht. Er eckt oft an und ist komisch in seinem Verhalten. Häufig merkt man es ihm auch gar nicht an – er denkt nur selber, dass er nicht hineinpasst in die Gemeinschaft der Gesunden. Wie schwer ist es, ihn spüren zu lassen: Du bist bei uns willkommen wie jeder andere auch. Du gehst uns nicht auf die Nerven. Du darfst hier so sein, wie zu bist.

Jakobus findet es schlimm, wenn einem Menschen der Respekt versagt wird.

6 Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan.

Unehre antun – ein ungewöhnliches, aber wichtiges Wort. Es ist eine Untat, wenn ich einen Menschen beleidige, dadurch, dass ich dem einen mit einer Vorzugsbehandlung begegne und den andern einfach so abfertige. Jeder hat das Recht, dass ich ihn ernst nehme, dass ich mir Zeit für ihn nehme. Ich muss nicht immer einig mit ihm sein, ich kann mit ihm streiten. Indem ich ihm Respekt entgegenbringe, nehme ich mich selbst ebenfalls ernst.

Wenn mich zum Beispiel ein Schüler provoziert: „Ich höre dir nicht zu, denn den Gott gibt es gar nicht!“ – wie soll ich reagieren? Ich fühle mich nicht ernstgenommen, er gibt mir dauernd freche Antworten. Aber ich merke, durch Strafen oder Tadel erreiche ich nichts.

Ich erreiche ihn nicht.

Besser ist es, wenn ich ihm keine Du-Botschaft übermittle, sondern eine Ich-Botschaft, wie die Psychologen sagen. Nicht: Du bist unmöglich, du provozierst mich, du bist ein frecher Schüler! So nahe das liegt, damit lege ich ihn nur fest, er fühlt sich bestätigt, oder er muss sich noch mehr gegen mich wehren. Besser ist es zu sagen: Ich fühle mich verletzt. Ich kann hier keinen Unterricht machen für dich und die anderen Schüler, wenn du dich so verhältst.

Und ich höre in deinem Satz über Gott eine Frage: Gibt es ihn wirklich nicht – oder vielleicht doch? Sollten wir nicht darüber mal reden? Genau dafür ist der Religionsunterricht ja da. Es ist sehr schwer, das immer durchzuhalten, von sich selbst zu reden, von den eigenen Gefühlen, und nicht immer gleich dem anderen ein Etikett anzukleben, ihn festzulegen, um ihn am liebsten loszuwerden.

Aber genau auf diese Weise erfüllen wir das Gesetz Christi, das Gesetz der Barmherzigkeit. Jakobus nennt es das königliche Gesetz:

8 Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht;

9 wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter.

Das Gebot der Nächstenliebe ist zugleich ein Gebot der Liebe zu sich selbst. Nur wer mit sich selbst barmherzig umgeht, kann auch mit anderen Menschen barmherzig sein. Wie unbarmherzig bin ich manchmal mit mir! Ich will etwas besonders gut machen, dann klappt es doch nicht wie geplant, und ich bin böse mit mir selbst.

Damals, als ich Seelsorger auf einer Suchtstation war, sprach mich einmal ein Alkoholiker an und schimpfte auf die da oben, auf die Ärzte, auf unsere Gesellschaft. Die trauen mir nichts zu, die behandeln mich wie den letzten Dreck! Aber bald merkte ich: er fühlte sich selber so, innen drin beurteilte er sich so: ein Junkie, ein Müllmensch. Aber er wollte oder konnte daran nichts ändern, er durfte sich selber nichts anderes zutrauen – dann hätte er ja eine Entscheidung treffen müssen, aufhören mit dem Saufen. Es war für ihn einfacher, den anderen die Schuld zu geben: die gehen nicht gut mit mir um, und darum kann ich eh nichts tun.

Aber wenn ich Barmherzigkeit für mich selbst erfahre und annehme, dann bin ich auf einmal frei. Dann muss ich mich nicht mehr abwerten. Dann kann ich mich selber ernster nehmen als je zuvor – in meinen Fehlern und meinen Möglichkeiten. Ich brauche die Hoffnung nicht aufzugeben.

Was Jesus von uns verlangt, das Gebot der Barmherzigkeit, dieses königliche Gesetz, wie Jakobus sagt, nennt er darum zugleich ein Gesetz der Freiheit:

12 Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen.

13 Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.

Wer barmherzig mit sich selber umgehen kann, wird frei für neue Taten, kann mit liebevolleren Augen auch die anderen Menschen anschauen.

Eigenartig ist, wie einfach plötzlich schwierige Begriffe einander zuzuordnen sind. Es gibt keinen Gegensatz mehr zwischen Pflicht und Freiheit – denn es ist ja gerade das Gebot der Nächstenliebe, das mich frei dazu macht, mich auch selbst ernstzunehmen und liebzuhaben. Es gibt auch keinen Gegensatz mehr zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Denn gerade, wenn ich mein Herz sprechen lasse, mein Mitgefühl, dann werde ich Menschen gerechter, als wenn ich nach dem starren Buchstaben eines Gesetzes handele. Wenn ich barmherzig umgehe mit mir und anderen, dann muss ich kein Gericht fürchten, bin ich ein freier Christenmensch, der sich seines Lebens freuen kann. Und das selbst dann, wenn ich unter äußeren Zwängen stehe. Ich mag machtlos dastehen und vieles nicht ändern können. Aber ich darf barmherzig mit mir selbst sein und muss mir nicht das Unmögliche abverlangen. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 640: Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn
Abkündigungen

Nun bitten wir dich, Gott, nimm uns an, so wie wir sind. Nimm unsere guten Vorsätze, unsere kleinen Erfolge und auch unser Scheitern in deine Hände und mach das Beste daraus. Wo wir keinen Ausweg sehen, zeige uns den nächsten Schritt, den wir trotzdem gehen können. Wenn wir uns hart machen gegen deine Liebe – weiche den Panzer auf, mit dem wir uns abschotten gegen das, was wir uns doch im tiefsten Innern wünschen. Wenn wir denken, es hat doch alles keinen Zweck, dann schenke uns Glauben, so groß wie ein Senfkorn, und lass ihn wachsen, so dass wir staunen werden, wie groß und schön er wird. Lass uns die Kirche nutzen, um Kraft zu schöpfen und aufzutanken aus der Quelle deiner Liebe. Lass uns ein Vorbild sein für die, die mit dem Glauben an dich nichts mehr anfangen können. Amen.

In der Stille bringen wir vor dich, Gott, was wir noch auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser
Lied 395: Vertraut den neuen Wegen

Und nun geht mit Gottes Segen. In den letzten Tagen haben wir in Eigenhilfe den Gemeindesaal angestrichen, da ist noch nicht fertig aufgeräumt, deshalb fällt heute einmal der Kirchenkaffee aus und wir gehen durch dieselbe Tür nach draußen, durch die wir auch hereingekommen sind. Aber nächste Woche werden wir dann im frischgestrichenen Saal gemeinsam essen können – dazu können Sie sich noch anmelden!

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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