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Erdrückende Schatten auf der Seele

Trauerfeier für eine Frau, die ihr Leben lang unter seelischen Problemen litt und am Ende keinen anderen Ausweg wusste, als sich selbst das Leben zu nehmen.

Erdrückende Schatten auf der Seele eines Menschen: Das Gesicht eines Mannes im Dunkeln, Schriftzüge "Depression" o. ä. sind auf seinem Gesicht zu lesen
Depresseionen können erdrückend auf der Seele liegen (Bild: Gerd AltmannPixabay)

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

Liebe Gemeinde, wir sind hier versammelt, um von Frau B. Abschied zu nehmen, die im Alter von [über 50] Jahren gestorben ist. Die Art ihres Todes macht uns betroffen, stürzt uns in Fragen über Fragen, in Gefühle, die wir gerne abschütteln würden, lässt uns grübeln über die Frage „Warum?“, auf die wir keine rechte Antwort finden. Sie war verzweifelt, wie der Mensch, der den Psalm 88 gebetet hat:

4 Meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode.

10 Mein Auge sehnt sich aus dem Elend.

Aber warum konnte sie keinen anderen Ausweg aus ihrer Verzweiflung finden? Wir begreifen es nicht.

Darum ist es kein leichter Weg, den wir heute zu gehen haben, denn wir sind aufgewühlt, kommen nicht zur Ruhe. Und doch ist es wichtig, Gedanken und Gefühle zu sortieren. Die Erinnerungen kommen sowieso, sowohl aus schönen Tagen als auch aus Zeiten voller Belastungen. Aber es ist wichtig, trotz der unerträglichen Bilder, die aus unserem Kopf nicht verschwinden wollen, das Gute nicht zu vergessen, das uns Gott geschenkt hat.

Auf der Suche nach Trost, der nicht ein schwacher Trost ist, wenden wir uns an Gott. Er hört als guter Vater niemals auf, uns zu lieben. Er hat als unser Bruder in Jesus Christus unser Leid und unsere Schuld am Kreuz getragen. Wo wir am Ende sind, ist es sein Heiliger Geist in uns, der uns Kraft gibt und aus einem Seufzer ein Gebet macht.

Beim Beten zu Gott helfen uns auch die Psalmen der Bibel. So beten wir heute mit Psalm 77:

2 Ich rufe zu Gott und schreie um Hilfe, zu Gott rufe ich, und er erhört mich.

3 In der Zeit meiner Not suche ich den Herrn; meine Hand ist des Nachts ausgereckt und lässt nicht ab; denn meine Seele will sich nicht trösten lassen.

4 Ich denke an Gott – und bin betrübt; ich sinne nach – und mein Herz ist in Ängsten.

5 Meine Augen hältst du, dass sie wachen müssen; ich bin so voll Unruhe, dass ich nicht reden kann.

6 Ich gedenke der alten Zeit, der vergangenen Jahre.

7 Ich denke und sinne des Nachts und rede mit meinem Herzen, mein Geist muss forschen.

8 Wird denn der Herr auf ewig verstoßen und keine Gnade mehr erweisen?

9 Ist‘s denn ganz und gar aus mit seiner Güte, und hat die Verheißung für immer ein Ende?

10 Hat Gott vergessen, gnädig zu sein, oder sein Erbarmen im Zorn verschlossen?

11 Ich sprach: Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann.

12 Darum denke ich an die Taten des HERRN, ja, ich denke an deine früheren Wunder

13 und sinne über alle deine Werke und denke deinen Taten nach.

14 Gott, dein Weg ist heilig. Wo ist ein so mächtiger Gott, wie du, Gott, bist?

15 Du bist der Gott, der Wunder tut, du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern.

16 Du hast dein Volk erlöst mit Macht, die Kinder Jakobs und Josefs.

17 Die Wasser sahen dich, Gott, die Wasser sahen dich und ängstigten sich, ja, die Tiefen tobten.

18 Wasser ergossen sich aus dem Gewölk, die Wolken donnerten, und deine Pfeile fuhren einher.

19 Dein Donner rollte, Blitze erhellten den Erdkreis, die Erde erbebte und wankte.

20 Dein Weg ging durch das Meer und dein Pfad durch große Wasser; doch niemand sah deine Spur.

21 Du führtest dein Volk wie eine Herde durch die Hand des Mose und Aaron.

Lieber Herr B., liebe Trauerfamilie, liebe Freunde und Nachbarn der Verstorbenen!

Der Psalm der Bibel spiegelt beides wider: das große Unglück, das einen Menschen und seine ganze Gemeinschaft getroffen hat, und zugleich die Erinnerung an die Wunder, die Gott getan hat und die er wieder tun kann. Aber auch Gottes Taten der Erlösung können verbunden sein mit Erfahrungen der Angst und einem Toben der Elemente, wie es beim Auszug des Volkes Israel aus Ägypten der Fall war.

So ist es auch bei Schicksalsschlägen, die wie ein Donnerschlag eine einzelne Familie treffen: Alles scheint ins Wanken zu geraten; der Tagesablauf, das ganze Leben kommt aus dem Tritt. Der Weg der Trauer führt durch ein Meer von Tränen, und manchmal ist von Gott keine Spur wahrzunehmen. Und dennoch führt er uns; wie Gott damals sein Volk durch die Hand des Mose und Aaron sicher zwischen den Wassern des Roten Meeres hindurchführte, so kann Gott auch uns durch die Hand von Menschen beistehen, die zuhören, die mit uns beten, die einfach für uns da sind.

„Ich gedenke der alten Zeit, der vergangenen Jahre“, heißt es im Psalm; das wollen wir nun tun im Blick auf das Leben von Frau B.

Erinnerungen an das Leben der Verstorbenen

Schon viele Jahre litt sie unter schweren seelischen Belastungen, vielleicht schon seit ihrer Kindheit. Im Laufe ihres Lebens wurden die Depressionen immer erdrückender. Sie wollte „normal“ sein wie alle anderen Menschen; sie wünschte sich: „Ich möchte so stark sein wie ihr.“ Offenbar maß sie sich an inneren Maßstäben, die zu hoch waren; sie konnte sich nicht so annehmen, wie sie war, sie fühlte sich, als sei sie nicht gut genug. Es gab Zeiten, da konnte sie nicht lachen oder froh sein wie andere Menschen, und sie litt sehr darunter.

Man sagte ihr, sie könne ihre Probleme bewältigen, wenn sie mehr in der Bibel lesen würde, aber dadurch geriet sie wohl noch mehr unter Druck; es gibt seelische Belastungen, die man mit eigener Willensanstrengung nicht überwinden kann, und wenn man es versucht, sich zusammenzureißen und stärker zu sein, als man ist, gerät man nur tiefer in den Teufelskreis der Verzweiflung hinein.

Es gab aber auch Zeiten, in denen Hoffnung aufkeimte und Freude möglich war, vor allem wenn sie sich kreativ beschäftigte oder wenn auf die kalte, dunkle Jahreszeit ein warmer Sommer folgte und sie sich an Blumen freuen konnte.

Doch unser Tun, unsere Macht, die Kraft unseres Willens reicht nicht immer aus, um alles Übel zu bewältigen, vor allem, wenn es sich um dunkle Schatten handelt, die auf der Seele eines Menschen liegen. Sie wurden immer erdrückender, nicht einmal in der warmen Jahreszeit wurde es wirklich besser.

Trotz aller Erklärungsversuche können wir nicht bis ins Letzte begreifen, was Frau B. zu ihrem verzweifelten Schritt bewegt hat: Warum ist sie auf diese schreckliche Weise aus dem Leben geschieden, ohne dass man ihr noch einmal etwas sagen konnte? Anscheinend konnte niemand sie in ihrer Verzweiflung erreichen, niemand sie aus ihrer Verzweiflung herausholen.

In der Bibel gibt es einen Psalm, der einer so tiefen Verzweiflung Ausdruck gibt. Im Psalm 88 ruft einer zu Gott:

2 HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir.

3 Lass mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Schreien.

4 Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode.

5 Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie einer, der keine Kraft mehr hat.

7 Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe.

9 Ich liege gefangen und kann nicht heraus,

10 mein Auge sehnt sich aus dem Elend.

11 Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?

12 Wird man im Grabe erzählen deine Güte und deine Treue bei den Toten?

13 Werden denn deine Wunder in der Finsternis erkannt oder deine Gerechtigkeit im Lande des Vergessens?

14 Aber ich schreie zu dir, HERR, und mein Gebet kommt frühe vor dich:

15 Warum verstößt du, HERR, meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir?

16 Ich bin elend und dem Tode nahe von Jugend auf; ich erleide deine Schrecken, dass ich fast verzage.

17 Deine Schrecken vernichten mich.

18 Sie umgeben mich täglich wie Fluten und umringen mich allzumal.

Dieses Gebet bleibt scheinbar ohne Antwort, scheinbar unerhört, scheinbar ohne Trost. Trotzdem ist es ein Gebet. Da hört einer nicht auf zu beten, obwohl er fast mit Gott fertig ist. Er klagt sogar Gott an, er gibt Gott die Schuld für sein Schicksal: „Du hast mich in die Finsternis gelegt, deine Schrecken vernichten mich“.

Dass ein solches Gebet in der Bibel steht, ist dann doch wieder tröstlich, denn es zeigt: So zu fühlen, zu denken, zu beten, trennt uns nicht von Gott, es verbindet uns mit ihm. Ich kann nicht erklären, warum Gott zulässt, dass Menschen aus tiefer Verzweiflung manchmal nicht wieder herausfinden. Aber ich weiß, dass Gott gerade den zutiefst Verzweifelten nahe ist. Er steckt mit in ihrer Haut, er leidet mit ihnen mit.

Seit dem Karfreitag ist das aller Welt offenkundig geworden: Gott steht nicht über dem Leiden oder abseits von den Leidenden. Es scheint paradox, aber Jesus, der Gottessohn, fühlte sich am Kreuz von seinem Vater im Himmel verlassen – und sein Verzweiflungsschrei wurde erhört. Der Tod am Kreuz wurde nicht ungeschehen gemacht, aber Gott erweckte Jesus zu einem neuen Leben in seinem ewigen Reich, und diese Hoffnung eröffnet er allen Menschen. So beantwortet Gott selbst die Frage aus dem Psalm 88: „Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?“

Ja, Gott wird an den Toten Wunder tun, Gott wird auch Frau B. zu neuem Leben erwecken. Ich stelle mir vor, dass Jesus sie drüben in der anderen Welt in die Arme schließt und zu ihr sagt: „Mein Kind, warum hast du das getan? Warum machst du deinen Lieben auf der Erde solchen Kummer? Ich habe dich doch lieb, warum konntest du dich nicht lieb haben, so wie du bist?“ Und doch wird er ihre Verzweiflung verstehen, wird ihr vergeben, was sie getan hat, wird ihre Tränen abwischen und sie mit sich nehmen in sein himmlisches Reich, wo keine Verzweiflung und kein Tod mehr droht und wo sie ihre Lieben wiedersehen darf. Im Vertrauen auf Gottes Liebe und Vergebung dürfen wir dessen gewiss sein, dass sie in ihrem Tode nicht verloren geht. Wir können das Schreckliche, das geschehen ist, nicht ungeschehen machen, doch Gott kann auch aus Bösem Gutes entstehen lassen.

Und was ist mit uns, die wir auf der Erde zurückbleiben? Wir müssen Abschied nehmen von Frau B., endgültig, bis zu einem Wiedersehen, wenn Gott uns selber abberufen wird aus dieser Zeit in die Ewigkeit. Es fällt schwer, mit ihr den letzten Gang zum Grab zu gehen. Wir vermissen sie, können ihr nichts mehr sagen, ihre Stimme nicht mehr hören.

So weiter leben zu müssen – traurig, wütend, ängstlich, verzweifelt – das tut sehr weh. Doch mit all dem können wir uns Gott anvertrauen. So wie auf den Karfreitag ein Ostermorgen folgte, so wird Gott uns aufrichten, stärken, trösten. Unsere Tränen, unsere Wut und Verzweiflung sind bei ihm gut aufgehoben. Da ist jemand, der versteht, was ich fühle, der verurteilt mich nicht, der schickt mich nicht weg, der lässt mich nicht allein. Und manchmal schickt Gott uns auch Menschen, die uns das spüren lassen: dass wir nicht allein auf der Erde sind. Amen.

Wir beten mit dem Lied 376:

1. So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich. Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt: wo du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit.

3. Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht: so nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich!

Barmherziger Gott, wir bitten dich für Frau B., dass du sie gnädig aufnimmst in deinem himmlischen Reich. Wir vertrauen darauf, dass du ihr vergeben hast, was sie in ihrer Verzweiflung getan hat, und wünschen ihr, dass all ihre seelischen Qualen nun ein Ende haben und sie die geliebten Menschen wiedersieht, die sie verloren hatte.

Hilf uns, den Weg der Trauer bewusst zu gehen, indem wir uns erinnern und für das Gute dankbar sind, während wir alles, was uns Sorgen macht, auf dich werfen.

Danke, Gott, für das was du uns an Freude und Liebe geschenkt hast in der Begegnung mit der Verstorbenen, und danke auch für das, was du ihr in ihrem Leben geschenkt hast.

Was uns belastet, werfen wir auf dich, du starker Gott. Gib, dass die schrecklichen Bilder aufhören, uns zu verfolgen. Nimm von uns die quälenden Gedanken, was wir oder sie hätten anders machen können. Lass uns aushalten, was nicht zu ändern ist: dass wir traurig sind über diesen zu frühen Tod und dass wir nicht die Macht hatten, ihn zu verhindern.

Auf dem langen Weg der Trauer begleite du uns, Gott, mit deinem Trost, mit der Gewissheit, dass du uns liebst und dass auch Frau B. in deiner Liebe gut aufgehoben ist. Schenke uns Menschen, denen wir uns anvertrauen können, wenn wir sie brauchen.

Und hilf uns, nach vorn zu schauen und unseren Weg zu gehen. Dass wir unser Leben in der Verantwortung vor dir führen und gut sorgen sowohl für uns als auch für die Menschen, die uns anvertraut sind. Amen.

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