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Selbstbewusster Gehorsam

Die Zunge ist dazu da, „damit ich Rede stehen kann dem Müden mit liebem Wort.“ Mit dem Ohr kann ich der sanften Stimme Gottes lauschen, um liebevoll mit mir umzugehen. Ein Gesicht, hart wie ein Kieselstein, mag Selbstvertrauen ausdrücken, Gelassenheit, den Stolz darauf, keine Gewalt nötig zu haben – auch wenn ich verletzbar bin.

Ein großer rötlicher Kieselstein inmitten kleinerer Kieselsteine
Was meint der Prophet Jesaja mit dem Bild des Kieselsteins? (Bild: Nicky PSPixabay)

#predigtTaufgottesdienst am Palmsonntag, den 9. April 2006, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen
Orgelvorspiel

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Herzlich willkommen am Palmsonntag in der Pauluskirche! Dieser Sonntag ist nach den Palmzweigen benannt, die man Jesus bei seinem Einzug in die Stadt Jerusalem auf dem Boden ausbreitete wie einen roten Teppich. Einen roten Teppich rollt man heute aus für wichtige Politiker; die Palmzweige sollten damals Jesus als den neuen König begrüßen, der die Macht übernehmen sollte, erst in Jerusalem, dann in Rom, dann über die ganze Welt. Wir wissen jedoch: es kam ganz anders, als die Leute es sich vorstellten. Schon wenige Tage später jubelte man Jesus nicht mehr zu, sondern man schrie: „Ans Kreuz mit ihm!“ Er bestieg keinen Thron in Jerusalem oder in Rom, sondern er wurde ans Kreuz genagelt.

Warum denken wir über all das nach? Weil Jesus trotz allem doch ein König war und ist, der wichtigste Mensch, der je auf Erden gelebt hat, um den sich alles dreht, auch unser eigenes Schicksal. Weil er dennoch Macht hatte und hat, die Macht der Liebe, die Macht, die nur von Gott kommen kann. Gerade in seiner Schwachheit, in seiner Verletzbarkeit, in seiner Ausgeliefertheit an brutale Menschen konnte Jesus ein für allemal offenbaren, dass der einzige große Gott im Himmel eindeutig auf der Seite der Schwachen und Leidenden steht.

Besonders freuen wir uns, dass sich in diesem Gottesdienst zwei Erwachsene im Namen Jesu Christi taufen lassen: … .

Lied 586:

1. Herr, der du einst gekommen bist, in Knechtsgestalt zu gehn, des Weise nie gewesen ist, sich selber zu erhöhn:

2. Komm, führe unsre stolze Art in deine Demut ein! Nur wo sich Demut offenbart, kann Gottes Gnade sein.

3. Der du noch in der letzten Nacht, eh dich der Feind gefasst, den Deinen von der Liebe Macht so treu gezeuget hast:

4. Erinnre deine kleine Schar, die sich so leicht entzweit, dass deine letzte Sorge war der Glieder Einigkeit.

5. Drum leit auf deiner Leidensbahn uns selber an der Hand, weil dort nur mit regieren kann, wer hier mit überwand.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten Psalm 121 (EG 749). Ich lese die nach rechts eingerückten Verse; lesen Sie bitte die linksbündigen Zeilen:

1 Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?

2 Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat.

3 Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.

4 Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.

5 Der HERR behütet dich; der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand,

6 dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.

7 Der HERR behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele.

8 Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Was ist in unserem Leben anders, wenn wir zu Jesus gehören? Er schenkt uns Liebe und fordert uns heraus, die Liebe zu leben. Wir haben dann kein bequemes Leben, aber unser Leben hat ewigen Sinn. Wir sind dann keine perfekten Menschen, aber wir können aus der Vergebung leben. Gott, wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Gott spricht (Hesekiel 36, 26):

Ich will … einen neuen Geist in euch geben und … euch ein fleischernes Herz geben.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende.

Der Herr sei mit euch! „Und mit deinem Geist!“

Großer Gott, Vater Jesu Christi, wir kommen zu dir, so wie wir sind, froh oder traurig, belastet oder zuversichtlich. Vielleicht tragen wir noch den Ärger und die Sorgen von gestern mit uns herum. Vielleicht denken wir schon an das, was wir morgen vorhaben. Lass uns zur Ruhe finden und uns besinnen auf das, was du uns sagen willst. Darum bitten wir dich im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören die Schriftlesung aus dem Evangelium nach Johannes 12, 12-19:

12 Als … die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme,

13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!

14 Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht:

15 »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.«

16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte.

19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Amen. „Amen.“

Wir singen das Lied 314. Dabei tun wir jetzt einmal so, als würde Jesus hier in die Kirche einziehen, und wir jubeln ihm zu mit dem Jubelruf „Hosianna“. Dieses Wort stammt aus dem Hebräischen und heißt auf Deutsch: „Gott, hilf doch!“ Schauen Sie einmal ins Gesangbuch unter Nummer 314. Da steht in der mittleren Zeile in der Mitte über dem Hosianna eine römische I, über dem nächsten Hosianna eine römische II. Sie hier auf der Seite zum Saal singen das erste Hosianna, Sie hier an der Fensterseite das zweite Hosianna, und gemeinsam singen wir alles übrige.

Jesus zieht in Jerusalem ein, Hosianna!

Liebe Frau …, lieber Herr …, nun wollen wir Sie taufen. Sie sind ja beide in einem Land geboren, wo der Staat viele Jahre hindurch die Religion bekämpft hat, und Sie sind nicht als Kind getauft worden. Heute leben Sie in Deutschland und wollen nun doch zur Gemeinde von Jesus Christus gehören.

Sie haben sich beide einen Taufspruch aus der Bibel ausgesucht, und vielleicht haben Sie gemerkt, dass ich die beiden Sprüche vorhin schon in die Eingangsgebete eingebaut habe.

Lieber Herr …, Ihr Taufspruch steht im Psalm 121, 7:

Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele.

Diese Worte sind Segensworte. Mit einem Segenswort wird uns etwas zugesprochen, was wir einfach so geschenkt bekommen. Gott will, dass wir vor dem Übel bewahrt bleiben, vor bösen Gedanken und bösen Taten. Er will, dass unsere Seele keinen Schaden leidet in einer Welt voller Versuchungen und Gefahren. Was wir auch durchstehen müssen, Gott ist stark genug, um uns festen Halt zu geben. Wer sich taufen lässt, gehört zu Gott, dem Vater Jesu Christi, der unsere Seele behütet.

Liebe Frau …, Sie haben sich einen Bibelvers aus dem Buch des Propheten Hesekiel 36, 26 ausgesucht. Gott spricht:

Ich will … einen neuen Geist in euch geben und … euch ein fleischernes Herz geben.

Auch Ihr Taufspruch spricht von einem Geschenk, das Sie bekommen. Ein neues Herz, einen neuen Geist. Aber es geht nicht um eine Herztransplantation, auch nicht um die Beschwörung von Geistern. Neu wird unser Herz, wo es nicht hart und kalt ist wie ein Stein, sondern wo es warm und manchmal auch aufgeregt schlägt, wie es eben unser menschliches Herz tut. In einer oft sehr harten und schlimmen Welt ist es nicht immer leicht, nicht hart und bitter zu werden. Aber Gott hat versprochen, uns dabei zu helfen, ein warmes, fühlendes Herz zu bewahren. Er legt etwas von seinem eigenen Geist in uns hinein, etwas von seiner Liebe. Und diese Liebe ist so stark, dass sie uns verwandelt, wenn wir uns von ihr anrühren lassen und wenn wir sie in die Tat umsetzen. Wer sich taufen lässt, gehört zu Gott, dem Vater Jesu Christi, der unser Herz durch den Geist seiner Liebe verwandelt.

Ich frage Sie, … und …, wollen Sie im Namen Gottes, des Vater und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft werden? Dann antworten Sie: „Ja.“

Glaubensbekenntnis und Taufen
Lied 452, 1+2+5: Er weckt mich alle Morgen
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde, als Christen sind wir hineingetauft in die Gemeinde Jesu. Aber der Predigt liegt heute ein Text aus dem Buch Jesaja zugrunde, der mehrere Hundert Jahre vor der Zeit Jesu aufgeschrieben wurde. Die Worte, die wir hören, stehen in der Bibel, die Jesus gelesen und gehört hat. Nach diesen Worten hat er sich gerichtet, in ihnen hat er sich und sein Schicksal wiedergefunden. Wenn wir Jesus nachfolgen wollen, können auch wir auf diese Worte hören, uns in ihnen wiederfinden, uns von ihnen herausfordern und trösten lassen. Sie stehen im Buch Jesaja 50, 4-9:

4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.

5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.

6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.

7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.

8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!

9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.

Ein „Ich“ spricht hier in unserem Predigttext. Wer mag mit diesem „Ich“ gemeint sein? Gott selber ist es nicht, denn von Gott wird in der Er-Form, in der dritten Person, geredet: „Er hat mir eine Zunge gegeben, er hat mir das Ohr geöffnet, er hilft mir, er ist nahe, er setzt mich ins Recht.“

Einen Hinweis auf den Sprecher gibt der Inhalt des Erzählten: Der Sprecher erzählt nämlich, was er alles erleiden musste: auf den Rücken wurde er geschlagen, sein Bart wurde ihm ausgerauft, er wurde angespuckt. Der Prophet Jesaja selbst kann es sein, der da von sich spricht. Manche vermuten, dass viele Leute nicht gerne hören wollten, was er seinem Volk zu sagen hatte, und so taten sie ihm Gewalt an und demütigten ihn. Wir können bei diesem Text auch zweitens das ganze Volk Israel im Blick haben, jüdische Menschen in aller Welt, die immer wieder verfolgt und verspottet wurden, misshandelt und dem Tod ausgeliefert. Schließlich können wir als christliche Gemeinde auch das Schicksal Jesu in diesem Text widergespiegelt finden.

So offen ist dieses „Ich“, dass wir genauso gut jedoch auch einmal versuchen können, uns selber einzusetzen in diese Rede – fragen können wir uns, wo wir selber ähnliche Erfahrungen machen, wo wir ähnlich behandelt werden, wo wir selber auch ähnlich getröstet werden wie der Prophet, wie das Volk Israel, wie unser Herr Jesus Christus.

Noch einmal hören wir den ersten Satz unseres Textes:

4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.

Mit der Zunge reden wir alle. Viel oder wenig. Gutes oder Böses. Von Gott bekomme ich eine Zunge, „wie sie Jünger haben“. Jünger sind Menschen, die offen sind für das, was Gott sagt. Was für eine Zunge haben denn Jünger? Sie müssen nicht alle predigen können oder große Reden schwingen. Gemeint ist das Gegenteil von einer Lästerzunge: Ich muss wissen, „mit den Müden zu rechter Zeit zu reden“. In einer anderen Bibelübersetzung stand es noch schöner: „damit ich Rede stehen kann dem Müden mit liebem Wort.“ Wer müde und erschöpft ist, braucht Ruhe und Ermutigung, wer lebensmüde geworden ist, braucht erst recht den Trost für seine Seele. Um zu wissen, wann es die rechte Zeit ist, um einen müden Menschen anzusprechen, muss ich auch meine Zunge stillhalten können; sonst schütte ich ihn mit Reden zu. Ich muss auch hören können.

Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.

Zuhören ist eine Kunst, die größer ist als die Kunst des Redens. Deshalb spricht die Bibel davon, dass Gott mir jeden Morgen das Ohr wecken muss. Im ersten Lied vorhin haben wir davon gesungen: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.“ Dann kann ich hören, „wie Jünger hören“. Wenn ich nicht auf die Stimme des Müden höre, der das Gespräch mit mir braucht, rede ich an ihm vorbei. Wenn ich nicht auf das höre, was mir Gott sagen, was er mich spüren lassen will, dann bleibe ich vielleicht selber trost- und ratlos.

Wichtig ist, dass mein Ohr geöffnet wird, denn wenn ich nicht bereit bin, Neues zu hören, laufe ich Gefahr, immer wieder auf altvertraute Stimmen zu hören, die ich in meinem Innern abgespeichert habe, die ich aus der Geschichte meines Lebens nur allzugut kenne:

5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.

Ein Beispiel: Wenn Gott mir das Ohr für neue Botschaften öffnet, z. B. für die Botschaft: „Dein Leben hat einen Sinn, traue dir etwas zu!“ – dann kann ich anfangen, aus dieser Botschaft die Konsequenzen zu ziehen: Ich kann vielleicht aufhören, mit Arbeit, mit Beruhigungsmitteln, mit Alkohol meine Angst zu betäuben. Ich kann zu Menschen hingehen, die mein Vertrauen nicht missbrauchen, kann dort mein Herz ausschütten, kann hinschauen, wo ich selbst etwas ändern kann in meinem Leben.

Und wenn ich aus lauter Angst lieber wieder auf die alten Botschaften hören will, die z. B. so lauten mögen: „Du bist eh nichts wert! Aus dir wird nichts! Es hat sowieso alles keinen Zweck!“ – dann kann ich mich immer wieder an die neue Stimme erinnern, die mir gesagt hat: „Das ist alles nicht wahr – Du bist etwas wert! Gott hat mit dir etwas vor! Dein Leben ist sinnvoll!“

Gehorsam sein heißt also nicht, überfordert werden mit harten Geboten, sondern heißt vielmehr, dieser guten, sanften Stimme Gottes zu lauschen, die uns dazu auffordert, liebevoll zunächst einmal mit uns selber umzugehen.

Gehorsam ist ein Wort, das wir missverstehen, wenn wir an Befehle eines absoluten Herrschers oder ans Militär denken. Gott gehorchen ist etwas anderes. Wenn ich auf Gott höre, dann höre ich eine Stimme, die mir zu verstehen gibt, dass ich für ihn wichtig und wertvoll bin, dass er ohne mich in der Welt nicht auskommt. Er will von mir keine Unterwürfigkeit, sondern dass ich konsequent bin in dem, was ich als gut und richtig eingesehen habe. Eins ist Gott ganz sicher nicht: er ist kein Unterdrücker, sondern ein Befreier. Er demütigt uns nicht und fordert von uns, dass wir gegen jede Demütigung von Menschen mutig eintreten.

Als der Prophet Jesaja so auf Gott hörte, im Namen Gottes redete und nicht zurückwich, hatte das für ihn schmerzhafte Folgen:

6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.

Hier ist eine ganz konkrete Szene geschildert, der Prophet wird auf den Rücken geschlagen, man reißt brutal an seinem Bart, und die größte Schmach und Erniedrigung ist für ihn, dass man ihn mitten ins Gesicht spuckt.

Sie könnten wahrscheinlich aus eigener Erfahrung ähnliche Szenen schildern: wie man z. B. als Kind von den Großen übersehen wurde, wenn man beim Kaufmann anstehen musste. Wie man in einer schwierigen Partnerschaft zusammenbleibt, weil man sich aneinandergekettet fühlt, obwohl man sich auch immer wieder wehtut, obwohl man sich gegenseitig immer wieder heimzahlen möchte, was der andere einem angetan hat.

Und wer sich für andere Menschen einsetzt, dass sie nicht gedemütigt werden, kann selber in die Schusslinie geraten. Das ging Jesaja so, das ging Jesus so, das kann auch uns so gehen, wenn wir konsequent und mit Zivilcourage als Christen leben. Warum lässt das einer mit sich machen? Normal ist doch, dass man zurückschlägt, wenn man geschlagen wird. Und wenn mich jemand anspuckt, versuche ich wenigstens, die Hände vors Gesicht zu halten.

Jesus blickt ohne Furcht und ohne Rachsucht die an, die ihn schlagen und anspucken, als ob er ihnen, die ihm wehtun, ins Herz blickt. Er hatte nichts verdient von dem, was man ihm antat. Und dennoch schlug er nicht zurück. Er reagierte nicht mit Rachsucht auf die Erniedrigung durch seine Feinde. Er blickte selbst denen ins Herz, die ihm so sehr wehtaten. Er sah durch ihr brutales Äußeres hindurch und spürte ihr verletzbares Inneres auf. Er hieß nicht gut, was sie taten, aber er ließ sie gewähren, soweit es ihn selbst betraf. Und gerade indem er sich nicht mit Gewalt wehrte, war er stärker als seine Peiniger.

Aber was macht Jesus stark, was könnte uns stark machen, dass wir nicht zurückschlagen müssen, dass wir Demütigungen anders begegnen? Konnte Jesus das nur, weil er Gottes Sohn war, weil er andere Kräfte besaß als wir? Der Prophet Jesaja sagt:

7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden.

Jesus wusste sich eins mit seinem Vater im Himmel. Darum konnte er aushalten, was man ihm antat. Nicht, weil er gern leiden wollte, hielt er die Gewalt aus, sondern weil er sich gehalten wusste von der höchsten Macht, die es überhaupt gibt. Alles, was Menschen ihm antun konnten, was schändlich und erniedrigend ist, konnte doch seine menschliche Würde, seinen menschlichen Wert nicht zerstören, und er musste nicht in Verzweiflung versinken.

Nichts Übermenschliches wird übrigens von dem Propheten oder von Jesus berichtet. Seine Stärke hat er nicht aus einer besonderen Veranlagung heraus oder weil er eben dieser ganz besondere Mensch ist. Nein, es ist umgekehrt: Er ist darum stark, weil er sich in seiner Schwachheit helfen lässt, er ist darum etwas Besonderes, weil er weiß: „Ich bin angewiesen auf Gott, ich kann ohne das Vertrauen zu ihm nicht leben; seine Kraft ist in meiner Schwäche mächtig!“

Eigentümlich ist nun der nächste Vers, liebe Gemeinde, in dem der Prophet ausdrückt, wie er den Menschen gegenübertritt, die ihn misshandeln und verspotten:

Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.

Über diesen Vers bin ich zunächst gestolpert. Ist es denn gut, sich hart zu machen, nach außen hin „cool“ zu erscheinen, um böswilligen Menschen standzuhalten?

Anscheinend geht es hier ja um einen Menschen, der innerlich stark ist und mit seinen Gefühlen gut umgehen kann, einen Menschen, der weiß: „Ich werde nicht zuschanden“, ganz gleich, was ihm böse Menschen antun wollen. Er hat es nicht nötig, seine Gefühle zu verbergen, aber er muss auch nicht um jeden Preis seine innersten Empfindungen jedem x-beliebigen Menschen preisgeben, schon gar nicht dem, der ihn bloßstellen, verletzen oder gar umbringen will.

Ein Gesicht, hart wie ein Kieselstein, mag Selbstvertrauen ausdrücken, Gelassenheit, den Stolz darauf, keine Gewalt nötig zu haben – auch wenn sich dahinter ganz andere Gefühle verbergen, z. B. Angst, oder das Gefühl, unterlegen, schwächer, äußerst verletzbar zu sein.

Ist es nicht eigentümlich? Der, den man misshandelt und demütigt, den man mit Füßen tritt und der sich eigentlich wie der letzte Dreck vorkommen müsste – er ist von einem Stolz erfüllt, den man kaum verstehen kann. Man kann ihn nur begreifen, wenn man wahrnimmt und wahrhaben möchte, dass dieser Mensch sich nicht auf eigene Kräfte und Fähigkeiten verlässt, sondern darauf, dass Gott ihm nahe ist und für ihn eintritt:

8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!

9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen?

Wenn Gott mir Recht gibt, brauche ich niemanden zu fürchten, der mich ins Unrecht setzen will, und wenn es der Teufel selber wäre. Wenn ich vor Gott ein gutes Gewissen habe, kann niemand zu mir sagen: „Du bist nichts wert!“ Und ich darf ein gutes Gewissen vor Gott haben, wenn ich seine Vergebung annehme und im Vertrauen auf Gott neu beginne. Ich mache Fehler, ich lade Schuld auf mich, und bekomme doch immer wieder eine neue Chance.

Martin Luther hat in seinen Tischreden erzählt, wie ihn einmal böse Stimmen des Teufels plagten. Sie wollten ihm einreden: „Du bist kein guter Mensch! Du bildest dir nur ein, dass Christus dir vergeben hat! Du bist es nicht wert, Gottes Gnade Gottes zu bekommen!“ Wie sollte er mit solchen inneren Stimmen umgehen? Er hat das seinen Studenten gegenüber sehr krass formuliert: „Ich will sie an den Arsch schicken, denn da gehören sie hin!“ Kein Teufel kann uns verdammen, wenn Gott uns hilft und freispricht.

Ähnlich drastisch spricht der Prophet Jesaja von den Menschen, die uns demütigen wollen:

Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.

Wie erfinderisch Menschen auch sein mögen, wenn es darum geht, andere Menschen zu quälen und zu erniedrigen, am Ende wird von ihnen nichts übrig bleiben. Der Prophet vergleicht sie mit mottenzerfressenen Kleidern. Wer es nötig hat, mit großmäuligen Sprüchen um sich zu werfen und über andere herzufallen, zeigt dadurch nur, wie klein und mies er sich eigentlich fühlt.

Vielleicht fühlen wir uns selber auch oft klein und mies. Andere treten vielleicht viel stärker und selbstbewusster auf. Aber wir haben es nicht nötig, fies zu werden, auf anderen herumzuhacken, uns größer zu machen als wir sind. In den Augen Gottes sind wir wer.

Bleiben wird nichts von der Gewalt, die geübt wird, und von den brutalen, verletzenden Sprüchen, die manche Menschen von sich geben. Bleiben wird vielmehr das, was in unserer Welt unscheinbar und schwach erscheint: Der kleine Funke Hoffnung, der in uns glimmt, das zarte Pflänzchen Glaube und Vertrauen, das in uns wächst, das bisschen Liebe, zu dem wir fähig sind. Glaubend, hoffend, liebend sind wir wirklich stark, auch wenn wir uns gar nicht stark fühlen, weil wir auch mit einem ganz kleinen Vertrauen von Gott gehalten sind und nicht verloren gehen.

Vielleicht ist unser Glaube nicht stark, aber trotzdem hält Gott uns durch ihn fest. Vielleicht ist unsere Hoffnung nur ein schwaches Leuchten im Dunkeln, aber sie zeigt uns trotzdem den rechten Weg. Vielleicht zweifeln wir daran, ob es Liebe in dieser Welt gibt und ob wir selber lieben können. Und doch sind wir von Gott geliebt! Er gibt uns nicht auf, er macht uns stark, auf dem Weg der Liebe zu gehen. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 351, 1+2+6:

1) Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich; sooft ich ruf und bete, weicht alles hinter sich. Hab ich das Haupt zum Freunde und bin geliebt bei Gott, was kann mir tun der Feinde und Widersacher Rott?

2) Nun weiß und glaub ich feste, ich rühms auch ohne Scheu, dass Gott, der Höchst und Beste, mein Freund und Vater sei und dass in allen Fällen er mir zur Rechten steh und dämpfe Sturm und Wellen und was mir bringet Weh.

6) Nichts, nichts kann mich verdammen, nichts nimmt mir meinen Mut; die Höll und ihre Flammen löscht meines Heilands Blut. Kein Urteil mich erschrecket, kein Unheil mich betrübt, weil mich mit Flügeln decket mein Heiland, der mich liebt.

7) Sein Geist wohnt mir im Herzen, regiert mir meinen Sinn, vertreibet Sorg und Schmerzen, nimmt allen Kummer hin; gibt Segen und Gedeihen dem, was er in mir schafft, hilft mir das Abba schreien aus aller meiner Kraft.

Gott im Himmel, wir bitten dich, wenn wir froh und glücklich sind: lass uns genießen, was schön ist, und hilf uns, dankbar zu sein und mit anderen unsere Freude zu teilen!

Wir bitten dich, wenn wir traurig sind: schenk uns ein weiches Herz, hilf uns, dass wir nicht verbittert und hart werden, sondern unser Herz ausschütten können.

Wir bitten dich, wenn wir zornig sind: hilf uns, unseren Zorn zu fühlen, ohne gewalttätig zu reagieren; lass uns die Energie unseres Zornes sinnvoll nutzen, um uns abzugrenzen und gut für uns zu sorgen.

Wir bitten dich, wenn wir uns schuldig fühlen, dass wir unterscheiden können zwischen echter Schuld und unechten Schuldgefühlen.

Hilf uns, echte Schuld zu bereuen, Vergebung anzunehmen und einen Neuanfang zu wagen.

Gib uns aber auch den Mut, über unechte Schuldgefühle mit einem erfahrenen Berater zu reden und herauszufinden, wessen fremde Schuld wir mit uns herumtragen.

Für uns alle bitten wir dich: Bleibe uns nahe, du menschenfreundlicher Gott, du Vater Jesu Christi, der du in deinem Sohn unser Schicksal auf Erden geteilt hast.

Danke, dass wir dir vertrauen dürfen, danke, dass du uns nicht verloren gehen lässt. Amen.

Gebetsstille und Vater unser
Lied 157:

Lass mich dein sein und bleiben, du treuer Gott und Herr, von dir lass mich nichts treiben, halt mich bei deiner Lehr. Herr, lass mich nur nicht wanken, gib mir Beständigkeit; dafür will ich dir danken in alle Ewigkeit.

Abkündigungen

Und nun geht mit Gottes Segen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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