Bild: Pixabay

„Gott heilt alle meine Gebrechen“

Es gibt nicht nur die Schuld der Seele, für die sie Vergebung braucht. Es gibt Verletzungen der Seele durch andere, die sich auch als Schuldgefühle äußern können – zum Beispiel bei Kindern, die ohne das Gefühl aufwachsen, geliebt zu sein. Sie empfinden sich häufig als schlechte Menschen, weil sie es sich nicht erklären können, dass die Eltern sie nicht liebhaben.

Sonnenblume mit traurigem Gesicht hinter Spinnennetz mit Tropfen
Eine Sonnenblume zeigt ein trauriges Gesicht (Bild: PixArcPixabay)

#predigtAbendmahlsgottesdienst am 8. Sonntag nach Trinitatis, 2. August 1998, 9.00 Uhr in der Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Ich begrüße Sie herzlich zum Abendmahlsgottesdienst in unserer Klinik-Kapelle!

Mitten im Sommer ist der jüdische Gedenktag an die Zerstörung Jerusalems. Auch in vielen christlichen Kirchen wird daher ein Sonntag im August als Israelsonntag begangen. Dieser Tag dient heute dazu, dass wir Christen uns auf unsere jüdischen Wurzeln besinnen und über die Beziehung zwischen Christen und Juden nachdenken.

Wir sind Christen und unterscheiden uns von den Juden. Aber wir haben auch viel gemeinsam mit den Juden; ohne das Volk Israel hätte es auch das Christentum nie gegeben. Gemeinsam mit ihnen loben wir den einen Gott, der Himmel und Erde und auch uns wunderbar geschaffen hat und wir preisen seine Barmherzigkeit.

Lied 302, 1-4:

Du meine Seele, singe, wohlauf und singe schön dem, welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn. Ich will den Herren droben hier preisen auf der Erd; ich will ihn herzlich loben, solang ich leben werd.

Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Heil! Wer dem sich anvertrauet, der hat das beste Teil, das höchste Gut erlesen, den schönsten Schatz geliebt; sein Herz und ganzes Wesen bleibt ewig unbetrübt.

Hier sind die starken Kräfte, die unerschöpfte Macht; das weisen die Geschäfte, die seine Hand gemacht: der Himmel und die Erde mit ihrem ganzen Heer, der Fisch unzähl’ge Herde im großen wilden Meer.

Hier sind die treuen Sinnen, die niemand Unrecht tun, all denen Gutes gönnen, die in der Treu beruhn. Gott hält sein Wort mit Freuden, und was er spricht, geschicht; und wer Gewalt muss leiden, den schützt er im Gericht.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Der Apostel Paulus schreibt im Brief an die Römer 11 ein Wort an Heidenchristen, die nicht aus dem Judentum stammen; er meint damit auch uns:

25 Ich will euch, liebe Brüder [und Schwestern], dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist;

26 und so wird ganz Israel gerettet werden.

29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Ein Trauertag war der Israelsonntag für die Juden. Ein Tag der Trauer über die Zerstörung ihrer heiligen Stadt. Auch ein Tag der Trauer über eigene Schuld, über den Anteil eigener Verantwortung für die über das Volk hereingebrochene Katastrophe.

Wir Christen haben Jahrhunderte hindurch aus dem Trauertag der Juden einen Tri­umphtag der Kirche gemacht. Christen haben Jerusalems Zerstörung gefeiert, als ob Gott sein Volk endgültig verstoßen und durch das Gottesvolk der Christen ersetzt hätte. Dafür bitten wir heute um Vergebung.

Barmherziger Gott, vergib uns auch, wenn wir uns noch heute überheblich über die Juden stellen.

Herr Jesus Christus, in dir sehen wir alle Hoffnungen erfüllt, die das Volk Israel auf Gott setzte. Darin unterscheiden wir uns von den Juden, die Juden geblieben sind. Denn sie können in dir, der am Kreuz sterben musste, nicht ihren Messias erkennen.

Mach uns bewusst, dass wirdennoch mit den Juden verbunden bleiben. Verbunden im Glauben: Denn wir setzen unser Vertrauen auf denselben Gott wie sie. Verbunden in der Liebe: Denn christliche Liebe hätte sich niemals gegen die Juden wenden dürfen. Verbunden in der Hoffnung: Denn wie die Juden hoffen auch wir darauf, dass Gottes Liebe sich mehr und mehr in der Welt durchsetzt.

Das erbitten wir von dir, Jesus Christus, unser Herr. „Amen.“

Wir hören Worte aus dem Evangelium nach Markus 2, 1-12, die uns zur Predigt hinführen:

1 Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.

2 Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.

3 Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.

4 Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.

5 Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.

6 Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:

7 Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?

8 Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?

9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?

10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:

11 Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!

12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Halleluja! „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Lied 289, 1+5:

1) Nun lob, mein Seel, den Herren, was in mir ist, den Namen sein. Sein Wohltat tut er mehren, vergiss es nicht, o Herze mein. Hat dir dein Sünd vergeben und heilt dein Schwachheit groß, errett‘ dein armes Leben, nimmt dich in seinen Schoß, mit reichem Trost beschüttet, verjüngt, dem Adler gleich; der Herr schafft Recht, behütet, die leidn in seinem Reich.

5) Sei Lob und Preis mit Ehren Gott Vater, Sohn und Heilgem Geist! Der wolle in uns mehren, was er aus Gnaden uns verheißt, dass wir ihm fest vertrauen, uns gründen ganz auf ihn, von Herzen auf ihn bauen, dass unser Mut und Sinn ihm allezeit anhangen. Drauf singen wir zur Stund: Amen, wir werden’s erlangen, glaubn wir von Herzensgrund.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Am Israelsonntag wähle ich als Predigttext den Anfang aus einem alten jüdischen Loblied, aus dem Psalm 103:

1 Lobe den HERRN, meine Seele, / und was in mir ist, seinen heiligen Namen!

2 Lobe den HERRN. meine Seele, / und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat:

3 der dir alle deine Sünde vergibt / und heilet alle deine Gebrechen,

4 der dein Leben vom Verderben erlöst, / der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit,

5 der deinen Mund fröhlich macht, / und du wieder jung wirst wie ein Adler.

Liebe Gemeinde, wir besprachen diese fünf Verse kürzlich in unseren Bibelkreis hier in der Klinik. Ich kenne den Psalm 103 seit vielen Jahren, hatte diese Verse sogar einmal im Konfirmandenunterricht auswendig lernen müssen. Doch in diesem Gespräch ist mir manches an diesem Psalm noch einmal ganz neu klar geworden.

Das erste, was uns auffiel, ist die Anrede. Wer da spricht oder singt, der betet an dieser Stelle noch nicht zu Gott, sondern er redet sich selbst an, und zwar doppelt: „meine Seele“ und „was in mir ist“. Er führt ein inneres Gespräch mit sich selbst, wie wir das ja auch manchmal tun.

Zwei verschiedene Anreden gebraucht er für sich selbst: erstens „meine Seele“ – das ist der Kern unserer Person, in dem wir uns unserer selbst bewusst sind und und in dem wir uns gleich bleiben ein Leben lang, auch wenn wir uns noch so sehr verändern. Für dieses „meine Seele“ könnten wir auch unseren Namen einsetzen, den wir als unverwechselbares und einmaliges Individuum tragen. Und zweitens redet er sich an mit den Worten: „was in mir ist“ – wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt: „all meine Eingeweide“ oder „all mein Inneres“.

Dazu ist uns im Bibelkreis eingefallen, dass wir Menschen häufig hin- und hergerissen sind in unseren Empfindungen – und hier wird nun alles das, was in uns selbst durcheinander sein mag, gemeinsam angesprochen, alles, was in mir drin ist, mein Selbstbewusstsein und meine Minderwertigkeitsgefühle, meine Freude und meine Traurigkeit, meine Liebe und mein Zorn, mein Vertrauen und meine Angst, meine Schuldgefühle und mein Stolz. Und all das will nun zusammenfinden wie ein gemischter Chor aus vielen Stimmen und will Gott ein Loblied singen.

Alles, was in mir ist, alles das, was trotzdem eine einzige Seele ist und einen einzigen für Gott unverwechselbaren Namen trägt, das drängt sich nun selbst dazu, Gottes heiligen Namen zu loben. Wenn wir vom heiligen Namen Gottes sprechen, dann meinen wir damit: Gott ist nicht zerrissen wie wir, und zugleich vereinigt er in sich viel mehr, als wir uns überhaupt vorstellen können. Er ist unwandelbar in sich selbst und in seiner Liebe zu uns – und dennoch erfahren wir ihn je nach unserer eigenen Situation immer wieder anders. Darum ist es kein Widerspruch, dass wir Gott mit vielen Namen anrufen: Vater, Schöpfer, Richter, Heiliger, Barmherziger – und zugleich von dem heiligen Namen Gottes sprechen. Den heiligen Namen Gottes kennt nur er selbst.

Ein Patient mit einer schizophrenen Psychose fragte mich einmal während einer Andacht: Kann Gott nicht einen Namen haben wie wir alle? Könnte er nicht zum Beispiel „Karl“ heißen? Ich widersprach – nein, damit würden wir Gott in den Bereich menschlicher Kontrolle hineinzuziehen versuchen, und das kann nicht gelingen. Selbst der Name Gottes, der den Juden gegeben wurde, durch Mose, ist lediglich eine Andeutung der Heiligkeit Gottes – „Jahwe“ – „Ich bin, der ich bin“ – diese Umschreibung erfuhr Mose, als er am Dornbusch den Eigennamen Gottes herausbekommen wollte. Die Juden wussten genau, dass wir Gott niemals unter unsere Kontrolle zwingen können, als sie sich weigerten, diesen Gottesnamen jemals auszusprechen. Und noch wir Christen respektieren diese jüdische Überlieferung und übersetzen den jüdischen Gottesnamen in unserem Alten Testament auch nicht wörtlich, sondern mit dem Ausdruck „HERR“.

An dieser Stelle unterbrechen wir die Predigt und singen das Lied von den Namen Gottes – 625, 1-3:
Wir strecken uns nach dir, in dir wohnt die Lebendigkeit

Liebe Gemeinde, warum kann es die Seele denn nun so sehr drängen, Gott zu loben?

Der Grund dafür ist ein Blick in die Vergangenheit: „Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ In der Gegenwart gibt es vielleicht Grund zur Klage, aber trotzdem tun wir gut daran, uns an das Gute zu erinnern. Immer wieder höre ich von schwer kranken Patienten: Jetzt weiß ich erst, wie gut es mir ging. Jetzt geht mir erst auf, dass es nicht selbstverständlich war, jeden Morgen aufstehen zu können, die Vögel singen zu hören, ein Lächeln erwidern zu können. Jetzt erst habe ich gelernt, mich zu erinnern und zu danken, und darum lebe ich auch im gegenwärtigen Augenblick viel intensiver und dankbarer und kann mich an den kleinsten Dingen freuen.

So können wir diesen Satz verstehen: „Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“. Der Psalm 103 zählt nun auch noch selber einiges auf, womit Gott unserer Seele gut tut. Da geht es zuerst um „Sünde“ und „Schuld“. An sich ja ein unangenehmes Thema: Die einen quälen sich mit Schuldgefühlen und glauben, Gott werde sie irgendwann furchtbar strafen. Andere haben Angst davor, Schuld einzugestehen oder verdrängen sie ganz. Im Psalm 103 führt einer seine eigene Seele auf einen besseren Weg: er gibt ihr die Erlaubnis, Gott zu loben, „der dir alle deine Sünde vergibt“. Alle deine Sünde – das war für eine Teilnehmerin im Bibelkreis fast unvorstellbar – dass Gott alles vergeben kann. Wenn das so ist, wenn wir nicht verurteilt sind, dann können wir uns jeder Schuld stellen und auch ihren Folgen, dann können wir jeden Tag neu anfangen.

Eigentümlich ist: in einem Atemzug geht das Thema der Vergebung in das Thema der Heilung über: „und heilet alle deine Gebrechen“. Als wenn das so einfach wäre! Mich erinnert dieser Vers an die Heilung des Gelähmten durch Jesus. Er wird von seinen Freunden durch das abgedeckte Dach hindurch Jesus vor die Füße gelegt, und Jesus vergibt ihm seine Sünden. Darüber entrüsten sich die anwesenden Theologen, als ob sie völlig vergessen hätten, dass Sünde vergeben werden kann, wie hier im Psalm 103. Zum Erweis von Gottes Macht heilt Jesus daraufhin als Zugabe die körperliche Lähmung des Mannes.

Aber wie sollen wir das heute verstehen? Seit fast zehn Jahren arbeite ich als Krankenhauspfarrer – ich sehe tagtäglich, dass es viele Gebrechen gibt, gegen die ärztliche Hilfe machtlos ist, die auch nicht durch Gottes Hilfe geheilt werden. Da hatte eine Teilnehmerin des Bibelkreises eine Idee. Hier geht es gar nicht um körperliche Gebrechen, sagte sie, angeredet wird ja die Seele! Die Gebrechen der Seele, die können heil werden, selbst wenn der Körper nicht geheilt werden kann.

Das hat mich auf einen feinen Unterschied gebracht: es gibt nicht nur die Schuld der Seele, für die sie Vergebung braucht, die Dinge, für die wir persönlich verantwortlich sind, die wir bereuen können, nach denen ein Neuanfang möglich ist. Es gibt außerdem Verletzungen der Seele, die wir durch andere erleiden, die sich jedoch auch als Schuldgefühle äußern können – zum Beispiel bei Kindern, die ohne das Gefühl aufwachsen, geliebt zu sein. Sie empfinden sich häufig als schlechte Menschen, weil sie es sich nicht anders erklären können, dass die Eltern sie nicht liebhaben. Manche Menschen fühlen sich lieber ein Leben lang für die Fehler anderer Menschen schuldig, als sich einzugestehen, dass sie der Lieblosigkeit anderer Menschen machtlos ausgeliefert waren. Solche Verletzungen der Seele werden in dem Wort „Gebrechen“ angesprochen; in einem alten Wort für das, was einem fehlt, sagt man ja auch: „Es gebricht mir an etwas“. Wenn es der Seele an Liebe mangelt, kann der Mensch sogar bis in körperliche Lähmungen hinein krank werden. Umgekehrt habe ich es schon erlebt, dass eine Frau in einer seelischen Therapie eine körperliche Lähmung überwinden konnte.

Aber bis ein Mensch zu seiner Seele sagen kann: „Gott heilet alle deine Gebrechen“ – bis er also an sich heranlassen und in sich aufnehmen kann, was ihn tröstet, ermutigt, aufrichtet – bis dahin ist viel Geduld und Behutsam­keit vonnöten. Denn zunächst wird er misstrauisch gegen jede Form von Nähe sein. Nur langsam kann Vertrauen wachsen. Erst allmählich dringen erlösende Botschaften durch den dicken Schutzpanzer der Seele hindurch: „Du musst dir dein Lebensrecht nicht verdienen! Du musst nicht fremde Schuld auf dich nehmen! Du bist wunderbar geschaffen und liebenswert, auch wenn manche Menschen dich wie ein Stück Dreck behandelt haben.“

Unser Psalm gibt keine Antwort auf die Frage, warum es lieblose und grausame Menschen gibt und auf der anderen Seite so viele, die gequält werden und ohne Liebe aufwachsen. Unser Psalm weiß nur: Trotz allem gibt es Grund zum Loben. Es gibt nämlich einen Gott, der „dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit“. Das Volk der Juden hat an dieser Hoffnung festgehalten – trotz allem. Sie mussten Jahrhunderte hindurch in alle Winde zerstreut leben, häufig verachtet und verfolgt, ihr Tempel wurde zweimal zerstört und bis heute nicht wieder aufgebaut, und in unserem Jahrhundert hat Nazideutschland sie sogar zu Millionen planmäßig wie Ungeziefer vernichtet. Dennoch gab es für die Juden immer wieder einen neuen Anfang. Allerdings kann ich nichts darüber sagen, wie einzelne jüdische Menschen persönlich mit diesen Erfahrungen umgehen, da ich bis jetzt keinen Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde hatte.

Aber ich kenne andere Menschen, die in ihrer Kindheit die Hölle durchlebt haben – ohne Elternliebe, aber mit Missbrauch und Gewalt – und die dennoch nicht nur überleben, sondern als Erwachsene endlich Vertrauen zu anderen Menschen fassen und Liebe an sich heranlassen konnten. Jahrzehntelang haben sie sich selbst gehasst bis hin zu Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken, und nun konnten sie beginnen, sich selber liebzuhaben und gut für sich zu sorgen. Als Kind die Hölle erlebt zu haben und dennoch als Erwachsener ein glückliches Leben führen zu können, das ist mehr wert als eine Königskrone. Von Menschen, die so etwas erlebt haben, können wir lernen, was es heißt, mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt zu sein. Wenn sie davon erzählen, merke ich auch, dass Gott „ihren Mund wieder fröhlich gemacht hat.“

Mit einem schönen Bild beenden unsere Psalmverse die Anrede an die eigene Seele: dass „du wieder jung wirst wie ein Adler“. Gott trägt uns wie auf Adlerfittichen, so singen wir im Kirchenlied, oder er birgt uns wie ein Adler unter seinen Flügeln. Aber auch Freiheit steckt im Bild des Adlers. Es kommt der Augenblick, wenn Jungadler alt genug sind, um selber ihre Flügel zu gebrauchen, dass die Adlereltern sie einfach aus dem Nest stupsen. So brauchen auch wir Menschen manchmal einen Anstoß, eine Ermutigung, um selbständig etwas Neues zu tun.

Wenn meine Seele Gott loben will, dann bringe ich mich also nicht in eine absolute Abhängigkeit hinein; ich bekomme Hilfe, so viel ich brauche, aber Gott traut mir zu, meine eigenen Stärken selbständig einzusetzen. Amen.

Und der Friede Gottes, der viel größer ist, als unser Denken und Fühlen erfassen kann, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Lied 317, 1+2+5:

1) Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, meine geliebete Seele, das ist mein Begehren. Kommet zuhauf, Psalter und Harfe, wacht auf, lasset den Lobgesang hören!

2) Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet, der dich erhält, wie es dir selber gefällt; hast du nicht dieses verspüret?

5) Lobe den Herren, was in mir ist, lobe den Namen. Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen. Er ist dein Licht, Seele, vergiss es ja nicht. Lobende, schließe mit Amen!

Nun feiern wir das heilige Abendmahl miteinander – mit Brot und Traubensaft. Wer teilnehmen will, kommt nach vorn, wenn es so weit ist, die anderen bleiben auf ihrem Platz und gehören auch zu uns dazu. Nach den Einsetzungsworten singen wir das Lied 190.2.

Gott, unser barmherziger Vater, wir loben dich, der du alle unsere Sünde vergibst und die Verletzungen unserer Seele heil machst. Wir bitten um Vergebung für unsere eigene Schuld und wir werfen alles Unrecht auf dich, was uns unverschuldet belastet. Erlöse unser Leben vom Verderben und schenke uns die Krone deiner Liebe und Barmherzigkeit. Wenn wir dein heiliges Mahl miteinander feiern, dann mache unseren Mund fröhlich und lass uns jung werden wie ein Adler. Amen.

Einsetzungsworte und Abendmahl

Gott der Christen und Gott der Juden, wir loben dich und beten dich an!

Wir loben dich für deine unwandelbare Treue. Du bleibst dem Volk der Juden treu, so wie du auch der Kirche der Christen treu bleibst – trotz aller Zerrissenheiten und Widersprüche, die wir Menschen immer wieder zwischen uns aufbauen. Wir loben dich für die Wunder, die du an uns tust, wenn du uns in der Not bewahrst, wenn du uns aus Verzweiflung herausführst, wenn du unsere Schuld vergibst, wenn du uns annimmst, so wie wir sind, wenn du uns hilfst, eine Krankheit zu überwinden oder mit einer Krankheit zu leben.

Unsere Fürbitten bringen wir vor dich, der du alle unsere Wünsche und Sorgen kennst.

Wir beten für die Einheit der Christen, dass wir uns trotz der Grenzen der Konfessionen gemeinsam als Christen verstehen. Wir beten für ein besseres Verständnis zwischen Christen und Juden, dass keiner sich mehr überheblich über den anderen stellt. Wir beten für Kranke und für Gesunde, dass sie zufrieden leben können und nicht allein bleiben. Wir beten für Menschen in Angst und Traurigkeit, dass du ihr Herz wieder getrost machst und sie Zuversicht gewinnen. Amen.

Alles, was uns heute bewegt, schließen wir im Gebet Jesu zusammen:

Vater unser
Lied 613, 1-4: Freunde, dass der Mandelzweig
Abkündigungen

Und nun lasst uns mit Gottes Segen in den Sonntag und in die neue Woche gehen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.