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Zur politischen Verantwortung der Christen

Wenn wir den Propheten Jesaja in unsere Zeit korrekt übersetzen wollten, müssten wir sagen: Stillhalten heißt – es zu wagen, ohne Rüstung zu leben. Stillesein ist auch hilfreich im Bereich der persönlichsten Beziehungen. Manchmal bereiten wir, schon während ein anderer redet, unsere eigene Entgegnung vor. So hören wir nur uns selbst und merken nicht einmal, dass wir nicht zuhören können.

Eine Erdkugel, die von verschiedenfarbigen Händen getragen wird
Als Christen sind wir mitverantwortlich für unsere Welt (Bild: NouploadPixabay)
Gottesdienst zum Jahreswechsel am 31.12.80 und 1.1.81 in Staden, Reichelsheim und Heuchelheim
Lieder: 38, 1-3; 42, 1-3+10-11; 38, 4-6; 42, 12-15
Lesung: Lukas 4, 16-21

16 Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen.

17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht:

18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen,

19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«

20 Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.

21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.

Predigttext: Jesaja 30, 15-17 (GNB)

Der Herr der Welt, der heilige Gott Israels, hat zu euch gesagt: Wenn ihr zu mir umkehrt und stillhaltet, dann werdet ihr gerettet. Wenn ihr gelassen abwartet und mir vertraut, dann seid ihr stark. Aber ihr wollt ja nicht. Ihr sagt: Nein, auf Pferden wollen wir entfliehen! Ihr habt recht: Ihr werdet fliehen. Ihr sagt: Auf schnellen Rennern wollen wir reiten! Aber eure Verfolger werden schneller rennen als ihr. Tausend von euch werden fliehen, wenn sie einen einzigen Feind sehen; und wenn euch fünf bedrohen, werdet ihr alle davonlaufen. Von eurem stolzen Heer wird nichts übrigbleiben als eine leere Fahnenstange auf einem kahlen Hügel.

Liebe Gemeinde!

Der Jahreswechsel ist eine Zeit der Rückblicke und Vorausschauen. Kehraus, Inventur, Bilanz wird gezogen; Planungen fürs Neue Jahr entstehen; was man sich schon lange vorgenommen hatte, versucht man in einem neuen Anlauf vielleicht jetzt doch noch in diesem frischen, unverbrauchten, vor uns liegenden Neuen Jahr zu schaffen. Ich habe in meine Predigt von vor einem Jahr hineingeschaut; da hatte ich manches aufgezählt, was ich mir für die Arbeit in der Gemeinde in diesem Jahr 1980 vornehmen wollte. Manches ist auch in die Tat umgesetzt worden, anderes wartet noch auf Verwirklichung. Und wenn noch so viel vor sich hergeschoben wird: der Jahreswechsel ist immer wieder ein Anlass, ganz bewusst wieder einmal ein oder zwei neue Schritte zu tun, um ein vielleicht schon sehr altes Problem zu lösen.

Unser Predigttext heute, den will ich als Anlass nehmen, über ein altes Problem unserer christlichen Gemeinde nachzudenken, das längst nicht gelöst ist. Es kann auch nur so in Angriff genommen werden, dass eine Reihe von Gemeindegliedern unter uns den Vorsatz fasst, gemeinsam etwas Neues zu wagen: neu zu denken, neu miteinander zu sprechen, und dann vielleicht auch neu etwas zu tun. Welches Problem ist das? In zwei Sätzen knapp formuliert, lautet es: Wir Christen sind mitverantwortlich für die von Menschen gestalteten Verhältnisse in unserer Welt. Wir haben aber im großen und ganzen zu viel Angst, uns in das einzumischen, was man „Politik“ nennt.

Vorweg will ich gleich sagen: es geht nicht darum, dass von der Kanzel aus eine bestimmte Partei befürwortet werden solle. Es geht überhaupt nicht darum, dass von hier aus vorgeschrieben werden solle, wie ein Christ politisch zu denken habe. Sondern es geht schlicht und einfach darum, dass wir alle nicht nur ein Privatleben oder ein berufliches Leben oder ein Leben in unserem Freundes- und Bekanntenkreis führen und darin für unser Tun und Lassen eine Verantwortung tragen, sondern dass wir auch für das verantwortlich sind, was wir im Bereich der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse tun oder unterlassen. Diese Verhältnisse werden ja von vielen einzelnen und von vielen Gruppen beeinflusst – auch von uns. Auf der Kanzel darüber zu sprechen, wird leicht missverstanden. Als ob man doch politisches Denken vorschreiben wolle. Falsch wäre es aber, dieses Thema ganz ausklammern zu wollen. Denn Denkanstöße, Vorschläge zum neuen Nachdenken sind auch in diesem Bereich notwendig – wenn Predigt überhaupt einen Sinn haben soll. Menschen, die durch den Glauben an Jesus neu werden, die werden es in ihrer ganzen Person und in allen Bereichen, in denen sie leben. Als Denkanstöße bezeichne ich also ausdrücklich alles, was ich von der Kanzel aus über politische Fragen sage – entscheiden müssen Sie selbst, was Sie für sich selbst annehmen, was Sie noch einmal überdenken oder was Sie ablehnen wollen. So weit die Vorrede.

Doch wie kam ich überhaupt von unserem Predigttext zu diesem Thema? Da muss ich ein wenig aus der Geschichte des Volkes Israel erzählen. König David hatte 1000 Jahre vor Christi Geburt ein recht ansehnliches Königreich Israel geschaffen. Es fiel später in das Nordreich Israel und das Südreich Juda auseinander, und es war ständig bedroht durch fremde Großmächte. Assyrien, die Großmacht im Nordosten, eroberte 722 vor Christus das Nordreich. Das Südreich konnte sich noch verhältnismäßig selbständig halten, indem es sich neutral verhielt. Als 705 der Assyrerkönig starb, machte sich der König von Juda, Hiskia, für ein Bündnis mit der anderen Großmacht im Südwesten stark, mit Ägypten, um so den Assyrern entgegentreten zu können.

In dieser Zeit tritt Jesaja mit dem Prophetenwort auf, das wir als Predigttext gehört haben (Jesaja 30, 15 – GNB):

„Wenn ihr zu mir umkehrt und stillhaltet, dann werdet ihr gerettet. Wenn ihr gelassen abwartet und mir vertraut, dann seid ihr stark.“

Jesaja meint, dass das Volk nicht nach Waffen schreien soll. Dass es nicht nach dem Bündnis mit den Ägyptern sich drängen soll. Die menschlichen Versuche, sich mit Hilfe von Waffen und Militärbündnissen abzusichern, werden sich ins Gegenteil verkehren.

„Ihr sagt: Auf schnellen Rennern wollen wir reiten! Aber eure Verfolger werden schneller rennen als ihr.“

„Von eurem stolzen Heer wird nichts übrig bleiben als eine leere Fahnenstange auf einem kahlen Hügel.“

Jesaja redet politisch, er mischt sich in eine wichtige politische Frage ein. Um Gottes willen! könnten wir ausrufen, der nimmt ja sogar Stellung gegen eine ganz bestimmte Politik und sagt nicht nur ganz allgemein etwas über politische Grundsätze, die jeder nach seinem Geschmack auslegen kann. Genau: um Gottes willen tut er das. Weil es zu seinem Auftrag gehört, seinem Volk auch unbequeme Wahrheiten zu sagen.

Können wir von dem, was der Prophet sagt, auch heute noch etwas lernen? Zunächst überlege ich selbst einmal: bin ich nicht oft zu ängstlich, wenn es darum ginge, uns allen unbequeme, konkret fassbare Wahrheiten ins Bewusstsein zu rufen? Ich weiß auch, wovor ich am meisten Angst habe: nicht einmal vor Kritik oder Gegenargumenten, die wünsche ich mir, wenn Sie mit mir nicht einverstanden sind. Aber Angst habe ich davor, dass Sie sich über etwas ärgern, was ich gesagt habe, und ich erfahre gar nichts davon. Sie bleiben vielleicht weg oder sind im Stillen unzufrieden mit mir – doch ich höre höchstens hintenherum von irgendjemandem, dass irgendjemand anderem etwas nicht gefallen hat,. Ich kann dann dem, der sich geärgert hat oder dem etwas nicht gefallen hat, nicht sagen, ob ich zu dem stehe, was ich gesagt habe, oder ob es vielleicht ein Missverständnis war, oder ob ich mich vielleicht auch geirrt habe. Das sollten wir uns fürs Neue Jahr vornehmen: dass wir es etwas besser lernen, uns ohne Angst zusammenzusetzen oder für ein paar Minuten stehen zu bleiben, wenn wir uns treffen, um uns „die Meinung zu sagen“, wie man so sagt – und dabei vielleicht die Meinung des anderen und die Sache selbst etwas besser zu verstehen.

Was sagt der Prophet aber nun zur Sache? Umkehren zu Gott, Stillhalten, gelassen Abwarten, auf Gott vertrauen – das sind seine Stichworte. Stillhalten, Abwarten – ist das aber nicht genau das, was die meisten ohnehin tun? Jesaja meint etwas anderes. Stillhalten ist in seiner Situation nicht gleichbedeutend mit Nichtstun. Stillhalten heißt für sein Land: neutral bleiben. Nicht nach Waffen rufen. Gegen das Bündnis mit Ägypten auftreten. Auf Verhandlungen mit dem mächtigen Großreich Assyrien setzen. Eine einsame Position damals – und doch behielt der Prophet recht: es half dem Südreich Juda nichts, dass es sich mit Ägypten verbündete; die Verbannung kam schließlich doch, der Untergang auch des Südreichs. Wenn wir heute nichts tun, dann ist das auch nicht gleichbedeutend mit jenem „Stillhalten“ und „gelassen Abwarten“, von dem der Prophet spricht. Wir tragen, gerade wenn wir nichts tun, dann doch die Entscheidung unserer Gesellschaft mit, auf Rüstung und immer mehr Rüstung zu vertrauen. Und keiner von uns weiß, ob die Waffen uns wirklich sichern können. Würde von uns im Falle eines Krieges überhaupt noch eine leere Fahnenstange auf einem kahlen Hügel übrigbleiben? Wenn wir den Propheten in unsere Zeit korrekt übersetzen wollten, müssten wir wohl sagen: gelassen abwarten heißt – es zu wagen, ohne Rüstung zu leben. Sich dafür einzusetzen, ohne Rüstung zu leben. Naiv wird heute eine solche Einstellung genannt – sowohl unser Verteidigungsminister Apel als auch unser Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland sind sich darin einig. Aber ist es nicht ebenso naiv, darauf zu vertrauen, dass die Abschreckung mit Atomwaffen wirklich dauerhaften Frieden sichern kann?

So lange Politiker gewählt werden, die auch in Krisen, wie wir sie in dem vergangenen Jahr erlebt haben, besonnen reagieren, scheint noch nicht alles verloren. Und es gehört zu unserer Verantwortung als Christen, etwas von dieser Art Besonnenheit und Gelassenheit mitzubringen, wenn es gilt, politisch heiße Themen zu diskutieren oder zu entscheiden, oder wenn Wahlkämpfe vor der Tür stehen. Stillhalten heißt nicht: untätig sein. Sondern, vielmehr: besonnen handeln. Und besonnen reden. Nicht im Stil der Scharfmacher. Und es dabei vielleicht auch zu wagen, manche scheinbaren Selbstverständlichkeiten anzuzweifeln.

Stillesein, Gelassensein, kann natürlich auch im Bereich der persönlichsten Beziehungen sehr hilfreich sein. Manchmal können wir einem anderen nicht zuhören, ohne schon während seines Redens unsere eigene Entgegnung vorzubereiten. So hören wir nur uns selbst und merken nicht einmal, dass wir nicht zuhören können. Stillesein heißt: zuhören zu können, ohne gleich eine Antwort parat haben zu müssen. Wir müssen nicht immer gleich uns verteidigen. Wir müssen nicht immer gleich etwas Hilfreiches sagen. Wir müssen nicht immer schlagfertig sein. Wir müssen nicht immer recht behalten. Wir müssen das vor allem deswegen nicht, weil wir uns so annehmen können, wie wir sind. Gott nimmt uns auch so an. Das zu akzeptieren, das ist gemeint mit „zu Gott umkehren“. Sich gegenseitig gelassen akzeptieren – mit Unvollkommenheiten, Hilflosigkeiten, Konflikten, Gegensätzen, Streitpunkten: wenn wir das im Neuen Jahr etwas mehr versuchen würden? Vielleicht kämen wir uns näher, vielleicht lernten wir gemeinsam mehr über Gott und das, was er von uns will, vielleicht würde mancher Streit nicht böse enden, vielleicht könnten wir gerade so einigen Menschen helfen, vielleicht würden uns einige etwas davon anmerken, dass wir Christen sind. Gott sagt auch zu uns:

„Wenn ihr zu mir umkehrt und stillhaltet, dann werdet ihr gerettet. Wenn ihr gelassen abwartet und mir vertraut, dann seid ihr stark.“

Amen.

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