Bild: Familie Treblin/Ebling

Jesus: Abbild der Liebe Gottes für Juden und Nichtjuden

Judenmission oder gemeinsame Umkehr?

Heinrich-Treblin
Heinrich Treblin

Am Anfang der folgenschweren Entfremdung zwischen Juden und Christen, die nach einer jahrhundertelangen Periode des kirchlichen Antijudaismus in den Holokaust mündete, steht die Gestalt des Juden Jesus. Von seinen jüdischen Anhängern als der Messias Israels, von der Kirche als der Heiland der Welt gepriesen, ist er zur Ursache der Feindschaft zwischen Juden und Christen geworden. In seinem Buch „Zeit ist’s“ (Untertitel „Zur Erneuerung des Christseins durch Israelerfahrung“) schreibt Reinhold Mayer: „Wenn es richtig ist, dass spätestens seit dem 4. christlichen Jahrhundert Israels Messias und der Christus der Kirche neben- oder gegeneinander standen, so dass einer im andern fast nicht wieder zu erkennen war, … dann ist hier eine Korrektur fällig“ (1). Dass es bei dieser Korrektur nicht um eine einseitige Umkehr, etwa um eine Belehrung oder Bekehrung der Juden durch Christen als dem „besseren“ Gottesvolk gehen kann, sagt Mayer ebenfalls: „Christen, die nach Auschwitz leben, müssen mit Umdenken und Lebensumkehr anfangen“ (2). Es tut not, sich daran zu erinnern, dass Jesu Botschaft mit den Ruf zur Umkehr anfing (Markus 1,15). Gemeint war hier nicht, wie die deutsche Übersetzung „Buße“ nahelegen könnte, nur ein Gefühl der „Reue“ über vergangenes sündiges Verhalten, sondern eine totale Lebensumkehr und Gesamtverhaltensänderung gegenüber Gott und den Mitmenschen.

Jesu Ruf zur Umkehr in Israel

Aus heidnischer Kreaturvergötterung und eigenmächtiger Sicherung des eigenen Lebens hatte der lebendige Gott Israel einst in Abraham herausgerufen, durch Mose aus Frondienst und Furcht vor dem mächtigen Pharao befreit, auf dass es im Vertrauen auf den „barmherzigen, gnädigen und gütigen Gott“ gemäß der Tora nach seinem Ebenbilde lebe, den Heidenvölkern zum „Licht“ und „Segen“. Weil es dieser Berufung immer wieder untreu wurde, sandte Gott seine Propheten, die es ermahnte, nicht wieder ins Heidentum zurückzufallen, sich Götter nach eigenen Bilde zu machen und anstelle ihres Königs Jahwe/Adonaj Könige „wie die anderen Völker“ zu begehren (1. Samuel 8). Nicht anders rief Jesus seine jüdischen Zeitgenossen auf, unter die „Königsherrschaft Gottes“ umzukehren. Er !ehrte seine Jünger, die überlieferte Tora nicht den eigenen Wünschen anzupassen, nicht nur „Herr, Herr“ zu rufen, sondern den unverkürzten „Willen Gottes zu tun“ (Feindesliebe) und zu beten: „Dein Reich komme!“ Auch wollte er nicht zum König gemacht oder als Gott angebetet werden, er wollte, dass sie ihm nachfolgen und mit ihm „Abba, lieber Vater im Himmel“ beten. Seine Jünger hatten das verstanden, als sie in ihm den „Gesalbten des HERRN“ erkannten als „Ebenbild Gottes“, der auch sie einlud, „Ebenbilder“ und „Söhne“ des Höchsten zu werden. Freilich nicht aus „Fleisch und Blut“ haben sie diese Erkenntnis gewonnen, sondern Gottes Geist, der aus Jesus sprach und ihnen nach seinem Tode am Kreuz auch offenbarte, dass das Kreuz nicht das Scheitern, sondern die Bewährung seiner Gottessohnschaft, der Sieg seiner Feindesliebe war. „Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht“ (Epheserbrief 2, 4f.).

Jesus Opfer heidnischer Israelfeindschaft

Die Erwählung Israels, Werkzeug der Liebe Gottes und „Licht“ der Völker zu sein, hat aber noch eine Kehrseite. Sie hat notwendig die Feindschaft der Heidenvölker zur Folge, die dieses seltsame Volk mit seiner „Gegenreligion“ (3) eines unsichtbaren Gottes, der sich allen Machtansprüchen irdischer Herrscher entzieht, als Störenfried und eine Bedrohung ansahen. Ob Babylon oder Ägypten, das heidnische oder das pseudochristliche Rom, sie suchten den Juden ihre Religion aufzuzwingen oder, falls dies nicht gelang, sie zu vernichten. Eben diese altheidnische Feindschaft gegen Israel bekam auch Jesus zu spüren. Von den Römern und ihren Verbündeten, dem Schattenkönig Herodes und dem ihm hörigen Hohenpriester als Aufrührer und Feind des Kaisers verdächtigt und am Kreuz hingerichtet, erlitt er das Schicksal des „leidenden Gottesknechtes“, das Israel in mannigfacher Weise schon früher erfahren hatte (Jesaja 53; Lukas 24, 27).

Besonders bitter für ihn, dass „ein Teil“ (Römerbrief 11,25) seines Volkes sich seinem Ruf nicht nur versagt, sondern sich seinen Mördern zugesellt hatte. „Verabscheut von den Heiden“ (Jesaja 49, 7; 50, 4ff.) sah sich der Gottesknecht bei Jesaja, als Opfer der „Herrscher dieser Welt“, die Jesu Botschaft für eine „Torheit“ und für ein „Ärgernis“ hielten, sah auch Paulus Jesus (1. Korintherbrief 1, 18; 2, 8). Dass aus der von den Heiden verfolgten judenchristlichen Gemeinde Jesu jene Juden verfolgende „christliche“ Kirche wurde, ist der Skandal, auf den wir nun zu sprechen kommen.

Die heidnische Überfremdung der Botschaft Jesu

Als eine gewiss unbeabsichtigte und nicht vorauszusehende Ursache dieser Entwicklung muss die Ausbreitung der Botschaft Jesu unter den von hellenistisch-römischer Religion geprägten Heidenvölkern angesehen werden. Ob der Jude Saulus/Paulus bestrebt war, „den Juden ein Jude, den Nichtjuden ein Nichtjude“ zu werden (1. Korintherbrief 9, 20), um ihnen allen in ihrer Sprache und religiösen Denkform Jesus als den wahren „Gottessohn“ (im jüdischen Verständnis) nahezubringen, ob Lukas seinen heidenchristlichen Lesern durch eine ihnen aus ihrem Kaiserkult vertraute Metapher von der jungfräulichen Geburt des Gott-Kaisers (Augustus) vermitteln wollte, dass (so Paulus) Jesus vom „Geiste Gottes“ erfüllt und „zum Gottessohn eingesetzt in Kraft“ (Römerbrief 1, 4), dass dieser uneheliche Sohn der Maria „Gottes Sohn“ genannt werden dürfe, da schon bei seiner Zeugung der Heilige Geist beteiligt gewesen sei (Lukas 1, 31ff.), keiner dieser Autoren konnte ahnen, was aus diesen Würdetiteln für Jesus einmal werden würde, dass sich mit der heidnischen Sprache und Form auch der Inhalt der Botschaft Jesu verändern würde. Reinhold Mayer schreibt dazu: „Wenn ein Jude beobachtete, wie schnell und stark sich die Botschaft vom Israelmessias beim Übergang zum Heidenchristentum veränderte, so gereichte ihm das keineswegs zur Freude, sondern zu Erschrecken und Trauer. Denn beides blieb ihm unbegreiflich, die Verteufelung Israels durch den vermeintlich christlichen Antijudaismus und die Vergottung des Israelmessias durch das kirchliche Dogma“ (4). „Als Paulus den für Griechen auch in wörtlicher Übersetzung unverständlichen Messiastitel durch den Ausdruck KYRIOS – „Herr“ ersetzte, erschien „Christus“ wie ein zweiter Name. Was ein Herr ist, das wussten Hellenen aus Mysterien und Kaiserkult. Damit war aus dem Juden Jesus ein griechischer Gott-Mensch geworden, an die Stelle des Israelgottes trat der Christus der Kirche“ (5). „Dieses Dogma war Machtinstrument zur Sicherung kirchlicher Überlegenheit und Herrschaft“ (6). Der Jude Paulus sah in der Gemeinde Jesu unter den Heidenvölkern noch einen in die jüdische Wurzel „eingepfropften“ Zweig, aus Gottes Barmherzigkeit des Heils teilhaftig, „damit Israel ihnen nacheifern solle“ (Römerbrief 11, 11) und warnte die Christen aus den Völkern: „Rühme dich nicht gegenüber den (ausgebrochenen) Zweigen“ (Römerbrief 11, 18). Müssen wir einzeln benennen, in welch schlimmer Weise eben das geschehen ist, dass sich Kirche in überheblicher Weise gegenüber dem Volk des ersten Bundes, den Juden, „gerühmt“ hat, das wahre Gottesvolk zu sein, an der Stelle der auf ewig „verdammten“ „Gottesmörder“ die allein seligmachende Anstalt zu sein! Von dem „Pantokrator“ Christus (7), der seit der Erhebung der Gemeinde Jesu zur römischen Reichskirche, die im Dienste des Kaisers über den Glauben der Untertanen zu bestimmen und die Einigkeit des Reiches zu garantieren hatte, über die mordenden Kreuzritter und „unfehlbaren“ Päpste und „Stellvertreter Christi“ bis zur Judenfeindschaft Luthers und sogar der Juden als „Gesetzesknechte“ verteufelnden liberalen Theologie zieht sich eine traurige Spur. Haben wir nicht in jüngster Zeit mit Beschämung gemerkt, dass sogar die Bekennende Kirche, die doch das Neu-Heidentum am eigenen Leibe zu spüren bekam, blind für das. Leiden ihrer älteren Geschwister gewesen ist! Wie können wir nach all dem allen Ernstes erwarten, dass Juden in diesem Christus der Kirche ihren liebenden Bruder und Heiland erkennen!

Heilsegoismus oder Leben für andere?

Wenn Jesus für Juden wieder als Heiland erkennbar werden soll, müsste zuallererst die Christenheit umkehren. Sie müssten den unchristlichen „Absolutheitsanspruch“ des Christentums aufgeben, der allein dem lebendigen Gott zusteht, dem – mit unseren jüdischen Geschwistern – im Lieben und Leiden solidarisch zu dienen, uns Jesus einlädt. Von Dietrich Bonhoeffer könnten wir lernen, dass es nicht reicht, in theological correctness über die überlieferten altkirchlichen Dogmen zu wachen, zumal deren Formulierungen den Menschen einer anderen Zeit (Hans Küng spricht von einem sich wandelnden Paradigma für Sprache und Verstehen) sich als wenig hilfreich erweisen, Menschen für den Glauben an die Botschaft Jesu zu gewinnen. Ob sich da nicht auch die reformatorische Bestimmung der nota ecclesiae („Wort und Sakrament“) als unzureichend erweist? Jesus hat als wahres Kennzeichen der Kirche die Agape angegeben: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ „Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibet in meiner Liebe“ (Johannes 13, 35; 15, 9). Mayer schreibt in diesem Sinne: „Nicht dogmatisch korrektes Herr-Sagen ist entscheidend. Liebestat geht vor Erkenntnis“ (8). Dass unter Liebe im Verhältnis zu Juden nicht philosemitische Gefühle gemeint sind, sondern das von Jesus geforderte radikal „neue Leben“ und Verhalten, sollte klar sein. Es geht darum, dass wir unseren jüdischen Geschwistern in der Liebe begegnen, zu der uns Gottes Geist „wiedergeboren“, samt Christus „auferweckt“ hat (9). Es geht darum, dass wir aus jenem scheinchristlichen Heilsegoismus, mit dem wir „unserer Seelen Seligkeit“, unserer Kirche Intaktheit, nicht zuletzt unser leibliches und soziales, nationales Leben sichern wollen, umkehren. „Wer sein Leben erhalten will, wird es verlieren“ (Markus 9, 15), sagt Jesus. Bonhoeffer spricht von „Kirche für andere“, er sagt, dass wir Gott nicht als „Lückenbüßer“ für unsere Verlegenheiten, als Erfüller unserer Wünsche ansehen sollen, sondern „Kirche für andere“ sein sollen. Moltmanns Versuch, über Barths monarchisch-patriarchalisches Verständnis der Herrschaft Gottes hinaus Gottes Herrsein als „Leidensgeschichte Gottes“ zu verstehen, weist in die gleiche Richtung. „Gott wird verwundbar, nimmt Leiden und Tod auf sich, um zu heilen, zu befreien und neues Leben zu schenken“, eben das neue Leben nach seinem Bilde (10). Nach Werner Schmauch ist „die Bergpredigt nicht ethisches Gesetz, sondern Botschaft des eschatologischen Freudenboten Jesu von Nazareth… Im Gehorsam gegenüber diesem Ruf werden Menschen aus der selbstherrlichen Existenz befreit zur Proexistenz für den Anderen“ (11). Dass einmal Juden in Christen aus den Völkern und deren Zeugnis dem wahren Heiland und liebenden Bruder begegnen mögen, ist unsere Hoffnung, hat doch der treue Gott in unserer so ambivalenten Kirche („simul justus et peccator“) hin und wieder solch treue Zeugen seiner Liebe erweckt, die zur Rettung von Juden ihr Leben riskierten und nun in Jerusalem einen Baum der Gerechten pflanzen durften. Sollten wir nicht auch den jüngsten Disput zwischen dem Juden Bubis und dem Heidenchristen Walser unter dem hier angedeuteten Aspekt neu und anders, als es bisher geschah, wegweisend begleiten?

Pfr. i. R. Heinrich Treblin, Alzey

Anmerkungen

(1) Reinhold Mayer, „Zeit ist’s / Zur Erneuerung des Christseins durch Israel-Erfahrung, Bleicher Verlag 1997, S.115

(2) A. a. O., S.115.

(3) Jan Assmann, „Moses der Ägypter“, Carl Hanser Verlag 1998, S. 20.

(4) Mayer, a.a.O., S.113

(5) Mayer, a.a.O., S. 114

(6) Mayer, a.a.O., S. 114

(7) Mayer, a.a.O., S. 116

(8) Mayer, a.a.O., S. 116

(9) Johannes 3, 3; 1. Petrusbrief 1, 23; Epheserbrief 2, 6; Römerbrief 6, 6ff.)

(10) Jürgen Moltmann, „Kirche in der Kraft des Geistes“, zit. in Heinrich Treblin, „Die politische Relevanz von Kreuz und Auferstehung“, in: Deutsches Pfarrerblatt 1988, S. 141.

(11) Schmauch, „Koexistenz? Proexistenz!“, Herbert Reich Verlag 1964, S. 65.

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