Bild: Helmut Schütz

Der Abstieg des Lebendigen zu den Toten

Im Jubiläumsjahr des 100 Jahre alten Neuen Friedhofs Gießen steht das dreiteilige Kirchenfenster der Kapelle im Mittelpunkt einer Bildmeditation. Angeschaut werden: Jesu Abnahme vom Kreuz durch Jesu Mutter Maria und Josef von Arimathäa, der Abstieg Jesu ins Totenreich sowie die Verkündung seiner Auferstehung durch einen Engel an zwei Marien und Salome.

Das dreiteilige Kirchenfenster von Claus Wallner in der Kapelle auf dem Neuen Friedhof Gießen
Das dreiteilige Kirchenfenster von Claus Wallner in der Kapelle auf dem Neuen Friedhof Gießen

Musikalisch umrahmte Bildmeditation im Rahmen der Aktion der Frankfurter Bibelgesellschaft „Kirchenfenster erzählen die Bibel“ am Samstag, den 1. November 2003, um 18.00 Uhr in der Friedhofskapelle auf dem Rodtberg zu Gießen. Ausführende: Prof. Gottlob Ritter (Orgel), Brigitte und Christian Scholz (Flöte), Hans Goswin Stomps und Pfarrer Schütz, Jürgen Friedel, Leiter des Gartenamts der Stadt Gießen (Grußwort)
Grußwort (Jürgen Friedel)

Sehr geehrte Damen und Herren!

Unser Friedhof Rodtberg feiert in diesem Jahr sein 100-jähriges Jubiläum. Wir hatten eine Reihe von Veranstaltungen. Die Festveranstaltung fand am 6. Juli, an dem Tag, an dem vor 100 Jahren die erste Beisetzung erfolgte, statt. In dieser Veranstaltungsreihe ist auch dieser heutige Vortrag, die Bildmeditation der Altarfenster unserer Friedhofskapelle, zu sehen, und zwar auch im Zusammenhang mit dem Jahr der Bibel.

Besonderer Dank gilt Herrn Pfarrer Schütz, dass er unsere Aufmerksamkeit auf unseren Friedhof, auf unsere Kapelle und heute Abend auf die wertvollen Glasfenster lenkt. Haben doch sehr viele Menschen unwillkürlich Gelegenheit, den Blick bei den Trauerfeiern auf die Glasfenster zu richten. Und mit jeder Trauerfeier kann man sich diese Thematik immer wieder vor Augen und ins Herz lenken.

Unser Friedhof und unsere Kapelle sind eine kommunale Einrichtung und keine kirchliche. Diese Einrichtung steht allen Bürgerinnen und Bürgern offen, gleich welcher Religionszugehörigkeit und Abstammung. Wir sind hier zu einer Neutralität verpflichtet und dieser Friedhof hat bewusst einen weltanschaulich neutralen kommunalen Charakter zu wahren.

Dennoch, meine Damen und Herren, ist dieser Friedhof kein wertefreier Raum. Wer um die Diskussionen um die Europäische Verfassung, das Kopftuch oder das Kruzifix-Urteil und die damit verbundenen juristischen Ausführungen weiß, weiß auch, dass in unserem Lande Werte wichtiger Teil unserer Identität, unseres Lebens und unserer Ethik sind. Und die Thematik unserer Glasfenster sind unumstößlicher Teil unserer Stadtkultur in Gießen.

Ich freue mich über diesen Abend hier. Herzlich willkommen!

Johann Hermann Schein (1586-1630):
„Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“.
Geistliches Konzert für zwei Diskantstimmen und Orgel

Herzlich willkommen zum Abschluss der Aktion der Frankfurter Bibelgesellschaft im „Jahr der Bibel“: „Kirchenfenster erzählen die Bibel“.

Herzlich willkommen zugleich zu einer Veranstaltung im Rahmen der Feierlichkeiten der Stadt Gießen zum 100-jährigen Bestehen des Neuen Friedhofs auf dem Rodtberg.

Wir betrachten und meditieren heute das Kirchenfenster der Friedhofskapelle, das 1962 von Claus Wallner gestaltet wurde, dem gleichen Künstler, von dem auch die beiden Kirchenfenster in der evangelischen Pauluskirche Gießen stammen.

Zuvor ein Dank an die Stadt Gießen, die für die Beleuchtung des Fensters gesorgt hat, ohne die wir um diese Jahres- und Tageszeit das Fenster in seiner Farbigkeit gar nicht betrachten könnten.

Außerdem danken wir denen, die sich unentgeltlich dazu bereit erklärt haben, unsere Bildmeditation musikalisch zu umrahmen: Herrn Professor Gottlob Ritter an der Orgel sowie Frau Brigitte Scholz und Herrn Pfarrer i. R. Christian Scholz auf der Flöte.

Damit Sie auch wissen, wer hier vorn agiert: Herr Pfarrer Schütz hat die Bildmeditation vorbereitet…

…und gemeinsam mit mir trägt Herr Stomps sie vor. Nach einem zweiten Musikstück betrachten wir das dreiteilige Fensterbild und beginnen mit den beiden äußeren Flügeln.

Johann Hermann Schein:
„O Lamm Gottes unschuldig“.
Geistliches Konzert für zwei Diskantstimmen und Orgel

1. Fluchholz

Auf dem linken Fensterflügel ganz oben erkennen wir das Kreuz Jesu. Es markiert das Ende des Lebens Jesu, den Ort seines Todes.

Das Kreuz – ein Symbol, das uns auf einem christlichen Friedhof vertraut ist, das wir auf Todesanzeigen und auf Gräbern auch hier auf dem Friedhof am Rodtberg finden.

Der Künstler versteht diesen Endpunkt eines Lebens jedoch als einen Anfang; mit dem Kreuz Jesu beginnt das Fenster eine Geschichte zu erzählen.

Das Kreuz ist bereits leer. Nicht die Kreuzigung selbst wird dargestellt. Der Gekreuzigte ist vom Holz abgenommen worden. Denn am Holz zu hängen, kam einer ewigen Verfluchung gleich; ein so Verfluchter durfte nicht über Nacht oder gar am Sabbat dort hängen bleiben, wie es das Gesetz Israels im 5. Buch Mose – Deuteronomium 21, befahl:

22 Wenn jemand eine Sünde getan hat, die des Todes würdig ist, und wird getötet und man hängt ihn an ein Holz,

23 so soll sein Leichnam nicht über Nacht an dem Holz bleiben, sondern du sollst ihn am selben Tage begraben – denn ein Aufgehängter ist verflucht bei Gott –, auf dass du dein Land nicht unrein machst, das dir der Herr, dein Gott, zum Erbe gibt.

Jesus – nicht einfach gestorben, sondern schändlich hingerichtet. Jesus – von Menschen verlassen, gequält, getötet. Jesus – sogar von Gott verflucht?

2. Maria und Josef

Trotz allem: Zwei Menschen kümmern sich um den, der am Fluchholz gehangen hat. Zufällig tragen sie die gleichen Namen wie die, die bei Jesu Geburt dabei gewesen waren: Maria und Josef.

Friedhofsfenster links: Maria und Josef nehmen Jesus vom Kreuz ab
Kreuzabnahme

Nein, nicht der Ehemann der Maria ist hier anwesend, der wird seit der Erzählung vom 12jährigen Jesus nicht mehr erwähnt und ist vermutlich selber schon lange tot. Josef von Arimathäa, ein ansonsten unbekannter Jünger Jesu, nimmt Jesus liebevoll vom Kreuz ab und sorgt für ein ehrenvolles Begräbnis im eigenen Grab.

So erweist ihm ein Fremder die letzte Ehre; von Jesu engsten Freunden, den zwölf Jüngern, ist nichts zu sehen; und seine leiblichen Brüder kümmern sich erst recht nicht um den Gehenkten. Bei der Geburt Jesu war es auch schon so gewesen, dass die Mutter Maria allein geblieben wäre, wenn nicht ihr Verlobter Josef über seinen eigenen Schatten gesprungen wäre und das Kind anerkannt hätte, das nicht von seinem eigenen Fleisch und Blut war.

In die Arme der Mutter Maria legt Josef den toten Leib Jesu. Wie Maria den kleinen Säugling nach der Geburt im Arm gehalten hat, so streckt sie nun die Arme nach ihrem toten Sohn aus, der nicht mehr in ihren Schoß passt.

Maria sitzt da, in stummer Trauer, stellvertretend für alle Mütter, die ein Kind verlieren, deren Söhne und Töchter der Gewalt, einer Krankheit oder Katastrophe zum Opfer fallen, die verzweifeln angesichts der Unmöglichkeit, das Schreckliche ungeschehen zu machen.

Der linke Flügel des Fensterbildes zeigt die brutale Realität des Todes, nur abgemildert durch die Menschlichkeit derer, die sich um den Leichnam des Getöteten kümmern: Abschied von einem Toten, wie es auf einem Friedhof guter Brauch ist.

3. Himmelsleiter

Eine Kleinigkeit fällt auf, weil sie aus dem Rahmen fällt: Am Kreuz im Hintergrund lehnt eine Leiter, offenbar die Leiter des Josef, der auf ihr zum Kreuz hinaufgestiegen ist, um Jesus herunterzuholen. Wieso war es dem Gestalter so wichtig, diese Leiter abzubilden?

Das 1. Buch Mose – Genesis 28 erzählt die Geschichte, wie Jakob auf der Flucht vor seinem Bruder Esau, der er um den Segen betrogen hat, unter freiem Himmel schläft und seinen berühmten Traum von der Himmelsleiter träumt.

12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.

13 Und der HERR stand oben darauf und sprach:

15 Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.

An die Himmelsleiter erinnert die Leiter, die am Kreuz lehnt. Sie markiert das Kreuz Jesu als den Ort, an dem allen Menschen der Himmel offen steht.

Johann Sebastian Bach (1685-1750):
„O Haupt voll Blut und Wunden“.
Choralsatz mit Oberstimme

4. Drei Frauen
Friedhofsfenster rechts: Engel verkündet drei Frauen die Auferstehung
Engelsbotschaft

Richten wir den Blick nach rechts. Betrachten wir den rechten Flügel des Fensters von unten nach oben.

Der Sabbat ist vorbei, an dem jede Arbeit verboten war, erst recht die Berührung eines Toten. Jetzt ist der Sonntagmorgen angebrochen, für Juden der erste Arbeitstag der Woche, und drei Frauen haben sich aufgemacht, um die Versorgung des Leichnams Jesu und die Grabpflege fortzusetzen.

Drei Frauen bildet Claus Wallner ab, wie es der Evangelist Markus berichtet: Maria von Magdala – Maria, die Mutter des Jakobus – und Salome (Markus 16, 1). Drei Freundinnen gehen gemeinsam den schweren Weg, um ihrem Freund und Lehrer, zu dem sie aufgeschaut haben, noch ein letztes Mal etwas Gutes zu tun.

Allerdings: Was sie zu tun vorhatten, ist ihnen aus der Hand genommen worden. Leer sind die Hände, die alle drei so vor sich hin halten, als ob sie etwas empfangen wollten. Eine der drei Frauen ist auf die Knie niedergesunken, alle drei blicken zum Hintergrund des Bildes, wo sich ihnen ein unglaubliches Schauspiel darbietet.

5. Engelsbotschaft

Die drei Frauen werden Zeuginnen der Auferstehung, aber nur indirekt. Jesus selbst ist auf diesem Teil des Bildes nicht zu sehen. Kein menschliches Auge hat gesehen, wie Jesus dem Grab entkommen ist. Was die Frauen bezeugen können, ist eine Botschaft, die sie – zunächst zweifelnd, später glaubend – empfangen, die Botschaft eines Engels.

Als wir am 6. Juli hier den Festakt zur Hundertjahrfeier des Friedhofs begingen und die Sonne so richtig durch das Fenster schien, wunderte sich der Mann, der neben mir saß, darüber, dass die Figur, die auf dem Bild am hellsten strahlt, nicht etwa Jesus ist, sondern der Engel auf dem rechten Fensterflügel.

Das ist eigenartig, aber vielleicht bewusst vom Künstler so beabsichtigt. Mehr haben wir Christen nicht als Kunde von der Auferstehung, keinen Augenzeugenbericht von Jesu Ausbrechen aus dem Grab, kein Selbstzeugnis des Auferstandenen, wie das möglich war, die kalte Biologie des Todes zu überwinden.

Wir haben nur die Worte eines Engels, der auf einem Grab sitzt und zu sagen wagt (Markus 16, 6):

Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.

Wie? Auf das bloße Wort eines Engels sollen wir vertrauen? Wie denn, wenn trotzdem die Biologie ihren Lauf nähme, wenn der Leib Jesu trotzdem zerfallen wäre, so wie unser aller Leib im Grab zerfällt oder im Krematorium verbrennt?

Dennoch: Nicht umsonst leuchtet der Engel so hell und strahlt seine Frohe Botschaft in den hintersten Winkel unserer dunklen Seele hinein. Völlig unabhängig von den biologischen Vorgängen des Lebens und des Todes bezeugt der Engel die Wahrheit Christi: „Er ist nicht hier.“

Die Auferstehung ist mithin kein Geschehen, das man mit der Videokamera hätte aufnehmen können, sondern eine Erfahrung, die man mit den Ohren und Augen des Glaubens aufnimmt, indem man einem Engel begegnet, indem man im Zuhören und Nicht-Alleinsein Trost erfährt.

Gelassen sitzt der Engel auf dem leeren Grab, als ob er sagen wollte, dass das Grab wirklich keine Bedeutung mehr hat. Mit einer nach oben geöffneten Hand weist er zum Himmel: Kümmert euch nicht um den Leib, der zur Erde zurückkehrt, von der ihr genommen seid. Denkt an den, von dem euer Leben herkommt, der euch am Ende mit Ehren annimmt. Ist nicht Jesu Leben zu Gott zurückgekehrt, als er seinen Geist ausgehaucht hat? Eins seiner letzten Worte am Kreuz war doch dieses (Lukas 23, 46):

Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!

Johann Sebastian Bach:
„Weil du vom Tod erstanden bist, werd ich im Grab nicht bleiben“.
Choralsatz mit Oberstimme

6. Totenreich

Was wir bis jetzt von Jesus gesagt haben: Könnte man das nicht von jedem Menschen sagen? Von Erde genommen werden wir wieder zu Erde. Unser Geist verlässt uns wieder und kehrt zurück zu Gott. Was ist das Besondere an Jesu Auferstehung?

Friedhofsfenster Mitte: Jesu Abstieg zu den Toten
Abstieg

Ein dreigeteiltes Fensterbild lenkt den Blick besonders auf die Mitte. Dieser Teil ragt um die Hälfte höher hinauf und ist breiter als die anderen. Hier wirft der Künstler einen Blick dorthin, wohin an sich kein Auge blicken kann – in das Dunkel zwischen Karfreitag und Ostern, in die Nacht des Todes Jesu.

Der Künstler illustriert hier den Glaubenssatz: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“ oder wie man ihn früher übersetzte: „Niedergefahren zur Hölle“.

Als eine tief in die Erde hinabreichende düstere Höhle, in der Gestalten mit maskenhaften Schädeln hocken – so bildet der Künstler das Totenreich ab – so schattenhaft, wie das Volk Israel sich das Schicksal der Toten vorstellte – als ein Leben, das kein Leben mehr ist. In Psalm 6, 6 betet ein Israelit:

Gott, im Tode gedenkt man deiner nicht; wer wird dir bei den Toten danken?

Und in Psalm 88 klagt einer wie ein moderner Nihilist oder Existentialist:

11 Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?

12 Wird man im Grabe erzählen deine Güte und deine Treue bei den Toten?

13 Werden denn deine Wunder in der Finsternis erkannt oder deine Gerechtigkeit im Lande des Vergessens?

Auf diese Fragen hätte ein Israelit vor 3000 Jahren noch mit Nein geantwortet – das Totenreich war ein Schattenreich, ein Reich des Vergessens und der Vergessenen. Nur wenige Gestalten Israels wie Henoch oder Elia hatten das Vorrecht, in den Himmel zu Gott entrückt zu werden.

7. Gottverlassenheit

Was ist gemeint mit dem Abstieg Christi in die Unterwelt der Toten?

Eine erste Antwort könnte sein, dass er unsere menschliche Todeserfahrung ganz teilt. Der Abgrund des Todes bleibt ihm nicht erspart, nicht einmal der Fall in die Gottesferne der Verzweiflung, so tief und weit weg von seinem liebenden Vater, wie es sein Schrei am Kreuz ausdrückte (Markus 15, 34):

Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?

Könnte man eine solche Erfahrung nicht als „die Hölle“ bezeichnen? Hat man Jesus nicht diese Strafe zugedacht, als man ihn an das Holz der Verfluchung hängte? Sollte er nach der Meinung der Frommen seiner Zeit nicht in die Hölle der von Gott Verdammten kommen?

Johann Sebastian Bach:
Sinfonia für Flöte und Orgel aus dem Osteroratorium

8. Der Lebendige

Christus teilt mit allen Menschen die Erfahrung des Todes. Aber der Fensterbildmaler hat seinen Abstieg zu den Toten nicht so ausgestaltet, dass er ihn als Toten unter Toten im Totenreich dargestellt hätte. Claus Wallner lässt sein Bild eine andere Geschichte erzählen.

Ein souveräner Christus fährt nieder zur Hölle, der Richter selbst, der als Menschensohn den Vorsitz des Weltgerichts innehat. Bereits unmittelbar nach seinem Tod am Karfreitag steigt er als Lebendiger in die finstersten Tiefen des Todes und der Hölle hinab. Dieses Geschehen ist den Blicken der noch auf Erden lebenden Menschen völlig entzogen.

Wie kann einer als Lebendiger ins Reich der Toten gelangen? Christus tut es, indem er die eine Hand zum Himmel erhebt, in vollkommenem Vertrauen auf Gott, seinen Vater, der die Macht hat, Menschen vom Tode zu erwecken und von dem Psalm 139 zu sagen weiß:

7 Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?

8 Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein -,

12 so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.

Wo Gott ist, ist Licht. So steigt der Sohn Gottes in die Finsternis der Totenwelt hinab und bringt das Dunkel der Hölle zum Leuchten. Für den, der in der Hölle sitzt, ist Gott unerreichbar. Aber er ist nicht unerreichbar für Gott.

9. Christi Hände

Wodurch sind die Toten in der Unterwelt für Gott erreichbar? Indem Christus seine rechte Hand nach ihnen ausstreckt, bietet er ihnen Rettung an. Herausziehen will er sie, wie es Matthäus 14 von Petrus erzählt, den Jesus herauszog aus den Fluten seiner Angst und Kleingläubigkeit:

29 Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.

30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir!

31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?

Herausziehen will Christus die Toten, so wie es ein Israelit in größter Not und Todesangst erfuhr, der den Psalm 18 betete:

17 Er streckte seine Hand aus von der Höhe und fasste mich und zog mich aus großen Wassern.

Die andere Hand Christi ist, wie schon erwähnt, zu Gott hin, nach oben, ausgestreckt. Aber während die Hand des Engels auf dem rechten Fensterflügel nach oben geöffnet ist, empfangsbereit für die Botschaft Gottes, hält Christus seine nach oben gerichtete linke Hand mit der offenen Seite segnend über die Toten. Was Christus hier tut, das tut er nicht gegen Gottes Willen, nicht in Auflehnung gegen Gott, den Vater, sondern mit dem Segen des Allerhöchsten.

Johann Georg Ebeling(1637-1676):
„Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“.
Osterchoral mit zwei Oberstimmen

10. Die Erlösten

Sicher kennen Sie Michelangelos Bild von der Erschaffung Adams, wo Gott und Mensch einander mit den Fingerspitzen fast berühren, aber doch nicht erreichen. Hier, in der ausgestreckten Hand Christi, ist Gottes Hand unmittelbar zu greifen – für den, der sie ergreifen will.

Vier Bewohner der Unterwelt auf der rechten Seite sind aufgestanden – Auferstehung als Reaktion auf eine ausgestreckte hilfreiche Hand. Erwartungsvolle Blicke richten sie auf Christus, ihre Hände halten sie in einer Gebetshaltung, oder sie öffnen ihre Hände, bereit, die Hand Christi zu fassen. Mit ihnen kann geschehen, was ein Hymnus im Brief an die Epheser 4 besingt:

8 »Er ist aufgefahren zur Höhe und hat Gefangene mit sich geführt und hat den Menschen Gaben gegeben.«

9 Dass er aber aufgefahren ist, was heißt das anderes, als dass er auch hinabgefahren ist in die Tiefen der Erde?

10 Der hinabgefahren ist, das ist derselbe, der aufgefahren ist über alle Himmel, damit er alles erfülle.

Noch sind sie im Tod gefangen, Christus befreit sie zum ewigen Leben. Noch sind sie vom Schatten des Vergessens bedroht; Christus stellt sie ins Licht und schreibt ihre Namen ins Buch des Lebens. Noch sind sie versunken im Abgrund des Todes und der Hölle. Christus, der liebende Weltenrichter, steigt hinab in die Tiefen der Verzweiflung, weckt sie auf von den Toten, führt sie hinauf ans Licht und lässt ihre Gesichter strahlen.

11. Die Verdammten

Kann es trotzdem Menschen geben, die als Verdammte in Ewigkeit verloren sind? Der Künstler Claus Wallner lässt diese Frage offen, wie sie wohl auch in der Realität offen bleiben muss.

In der Ecke links unten scheinen vier Gestalten in der Unterwelt hocken bleiben zu wollen. Sie stehen nicht auf, beachten Christus kaum. Zwei wenden ihm den Rücken zu, machen keine Anstalten sich umzudrehen, nur einer schaut zu ihm hoch, jedoch betont gleichgültig und mit verschränkten Armen. Nein, die ausgestreckte Hand gedenkt er nicht zu ergreifen. Der vierte hebt zwar die Hand zu Christus hin, aber eher um sich vor der ungewohnten Helligkeit zu schützen.

Sieht so die Hölle der Verdammten aus? Die Rettung vor Augen haben und sie doch nicht wahrnehmen? Die ausgestreckte Hand hingehalten bekommen und sie nicht ergreifen? Vom Licht der Hoffnung gestreift zu werden und es nicht ertragen? Die Füße Christi machen sich auf, um auch noch den letzten Verlorenen in der Unterwelt aufzuspüren, und diese vier tun so, als wolle Christus sie mit Füßen treten. Sind sie noch zu retten?

Möglich ist auch, dass hier ein Prozess abgebildet wird: Vom dumpfen Hocken in der Finsternis des Todes, vom Geblendetsein durch das Licht der Hoffnung, vor dem man die ans Dämmerlicht gewöhnten Augen erst einmal schützen muss, zum langsamen Aufrichten und Öffnen der Hände, bis man es endlich glauben und annehmen kann: Ja, es ist wahr, die Rettung ist da! Unglaublich genug ist die Überwindung des Todes durch Christus – und so richtig hat auch von den bereits Stehenden noch niemand auf dem Bild die Hand Christi ergriffen.

Johann Georg Ebeling:
„Warum sollt ich mich denn grämen? Christliches Freudenlied“.
Choral mit zwei Oberstimmen

12. Das Paradies

Bleibt die Botschaft des Fensterbildes also letztlich doch düster? Siegt Verzweiflung und dumpfe Gleichgültigkeit der Verlorenen am Ende doch über die Liebe des herabsteigenden Christus?

Dem widerspricht die Farbgebung des Bildes. Denn im Hintergrund rankt sich ein grüner Strang durch das ganze Bild, in dem ich den Baum des Lebens sehe, von dem die Menschen im Paradies nicht essen durften und zu dem erst Jesus den Menschen wieder Zugang verschafft.

Könnte dieser Baum nicht aber auch der Baum der Erkenntnis sein – also jener andere Baum, durch den die Menschen sich unglücklich machen? Misstrauisch gegen Gottes Güte nehmen sie ihr Leben in die eigene Hand, wollen sie sein wie Gott, überschätzen sich grandios und stürzen sich in ihr eigenes Unglück.

Vielleicht handelt es sich ja letztlich um ein und denselben Baum. Da, wo Menschen sich eigenmächtig das Leben rauben wollen, wo sie sich selbst behaupten auf Kosten anderer, wo sie sein wollen wie Gott, ohne sein zu können wie Gott – da verwandeln sich ihnen die Früchte des Baumes in giftige Früchte des Zornes. Wo sie aber ihre krampfhafte Selbstbehauptung loslassen, wo sie Leben dankbar empfangen, wo sie nichts weiter als Geschöpfe Gottes sein wollen, da beschenkt Gott sie aus Liebe mit ewigem Leben.

Also verkündet das Bild letzten Endes die Botschaft, dass die Wiederherstellung des Paradieses möglich ist?

Das könnte man so sagen. Die Farben im Hintergrund des Bildes scheinen wirklich den Paradiesgarten abzubilden, das Grün der Bäume und das Blau des Himmels, der sich über allen Menschen ausspannt, das Blau der Treue Gottes, der keinen einzigen Menschen verloren gehen lassen will.

Das Blau auf dem Bild spielt aber auch ins Violette hinüber.

Und damit nimmt der Künstler ein Anliegen auf, das sich durch die ganze Bibel hindurchzieht. Die Bibel nimmt nämlich ernst, dass wir Menschen uns als frei erfahren, dass Gott uns als freie Menschen geschaffen hat. Als freie Menschen können wir uns entscheiden, ob wir Gottes Treue annehmen wollen oder nicht, ob wir die Hand Christi ergreifen wollen oder nicht, ob wir zu Gott umkehren wollen oder nicht.

Zugleich begegnet uns Gott als Person, als Liebender, als der, der uns auch dann noch barmherzig in die Arme schließt, wenn wir scheitern.

Am eindrücklichsten stellt vielleicht Lukas 23 diese Freiheit der menschlichen Entscheidung und die Barmherzigkeit des göttlichen Richters im Dialog der drei Gekreuzigten auf Golgatha dar:

39 Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!

40 Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist?

41 Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan.

42 Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!

43 Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

Wer sich überwindet, darum zu bitten, der kann heute noch im Paradies sein. Darum die Farbe der Umkehr auf diesem Bild, das Violett der Buße, zu der jeder Mensch die Chance hat, denn die barmherzige Hand Christi bleibt ausgestreckt für alle.

Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit beim Zuhören und Betrachten!

Gehen Sie mit Gottes Segen: Gott breite über Ihnen aus die Flügel seiner Engel, Gott umfange Sie mit seinen mütterlichen Armen, Gott stehe Ihnen zur Seite mit seiner väterlichen Stärke. Amen.

Johann Hermann Schein:
„Christ lag in Todesbanden“.
Geistliches Konzert für zwei Diskantstimmen und Orgel

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