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Kelch des Zorns und der Versöhnung

Der Kelch des Zorns – wird er sich noch einmal über uns ergießen? Wir könnten es durch unsere Anstrengung allein nicht verhindern. Jesus hat, nachdem er schwer mit sich und seiner Angst gekämpft hat, den Kelch des Zornes Gottes ausgetrunken bis zur bitteren Neige, den Kelch, der eigentlich für uns wegen unseres immer wieder gott-losen Verhaltens bestimmt gewesen wäre.

Ein alter Kelch neben einem Tintenfaß mit Feder und zwei alten Büchern
Das Symbol des Kelchs wird in biblischen Büchern gedeutet (Bild: bluebudgiePixabay)

Gedenkrede am Volkstrauertag, 18. November 1984, um 14.00 Uhr auf dem Friedhof in Reichelsheim (11.30 Heuchelheim)

Liebe Zuhörer!

Auch am 40. Volkstrauertag nach Kriegsende halten wir die Erinnerung wach an die Toten und Vermissten der Weltkriege und an alles Leid, das durch den Krieg über die Angehörigen und die Überlebenden gekommen ist. Wer als Ehefrau und Mutter in den Nachkriegsjahrzehnten allein die Familie versorgen musste, wer durch Verwundungen und Kriegsfolgeerkrankungen zeitlebens beeinträchtigt geblieben ist, oder wer lange Zeit hindurch immer noch ein Stückchen Hoffnung bewahrt hat, es möchte doch noch eine Nachricht geben über einen als vermisst gemeldeten Familienangehörigen – all diese Menschen können gar nicht vergessen, so gerne sie es vielleicht abschütteln wollten, was da so grausam in ihr Leben eingebrochen ist. Wir anderen, wir Nachgeborenen oder weniger stark Betroffenen, tun gut daran, uns den Trauernden an die Seite zu stellen und die Mahnung zu bedenken, die dieser Tag für uns alle darstellt.

Zum Zeichen, dass dieses Gedenken und diese Mahnung einen wichtigen Platz in unserer Gemeinde einnimmt, ist in diesem Jahr diese Gedenkstätte neu gestaltet worden, sozusagen neu in die Mitte der Aufmerksamkeit gerückt worden. Dabei hat man bewusst in der Anlage des Weges zum Gedenkstein ein Symbol geschaffen: das Symbol des Kelches.

Ein solches Symbol will gedeutet sein, und ich möchte Anregungen dazu geben. Natürlich kann ein Symbol vieldeutig sein, natürlich kann es in jedem von uns andere Gedanken und Gefühle, andere Erinnerungen und Sehnsüchte wachrufen. Ein Symbol sagt in seiner bildhaften Weise mehr aus, als wir mit Worten ausdrücken können. Auf der anderen Seite brauchen wir die Sprache, um uns zu verständigen, um zur Klarheit zu gelangen. In diesem Sinne greife ich aus der Vielzahl der möglichen Deutungen dieses Bildes vom Kelch nur zwei heraus, die in einem biblischen Zusammenhang stehen.

Im Buch Jesaja 51, 17 und 19-20 (GNB), heißt es:

17 Raff dich auf, Jerusalem, raff dich auf! Steh auf! Der Herr hat dich aus dem [Kelch] seines Zorns trinken lassen; du hast ihn bis zur Neige geleert und bist dem Untergang entgegengetaumelt.

19 Ein doppeltes Unglück hat dich getroffen, aber niemand hat Mitgefühl mit dir, niemand tröstet dich: Stadt und Land sind verwüstet, und das Volk ist dahingerafft durch Hunger und Schwert.

20 Erschöpft brechen deine Kinder auf den Straßen zusammen, an allen Straßenecken liegen sie und können nicht weiter wie das Wild, das sich im Netz verfangen hat. So schrecklich traf sie der grimmige Zorn deines Gottes!“

Die Ereignisse damals in Jerusalem können wir wohl vergleichen mit dem, was auch in Mitteleuropa in unserer Zeit im Krieg geschehen ist: Verwüstung und Tod, Hunger und Vertreibung, Erschöpfung und Zusammenbrechen auf der Straße; so kenne ich es aus Erzählungen meiner Eltern. Doch das Bild des Kelchs wird in diesem Bibeltext auf eine anstößige Art und Weise gedeutet: als Kelch des Zorns. Ein Zusammenhang wird gesehen zwischen dem Untergang Jerusalems und dem Zorn Gottes auf sein Volk.

Gegen diesen Zusammenhang sträubt sich in mir etwas. Es ist doch einfach nicht unsere Erfahrung, dass Gott jede Schuld auf der Erde erkennbar mit seinem Zorn verfolgt. Und schon die Leidensgeschichte des tadellosen Gerechten Hiob spricht dagegen, dass jedes Leiden von Menschen eine Strafe Gottes sei. Außerdem kann in manchen Fällen wohl nur ein Prophet, also einer, der wirklich mit Vollmacht im Auftrag Gottes spricht, andere Menschen auf ihre Schuld hin ansprechen, ohne selbstgerecht oder ungerecht zu werden.

Aber es gibt in der Bibel auch den beherzigenswerten Ausspruch (Klagelieder 3, 39):

Ein jeder murre wider seine [eigene] Sünde!

In diesem Sinne können wir uns fragen: inwieweit sind wir oder waren wir mitverantwortlich für tragische Entwicklungen, die sich in unserem Volk im Großen vollziehen, ohne dass wir es als einzelne dazu kommen lassen wollten? Unser Kirchenpräsident, Pfarrer Helmut Hild, hat vor kurzem auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland eine sehr bemerkenswerte Stellungnahme abgegeben, die viele Zuhörer betroffen gemacht hat. Obwohl für ihn als Mitglied der Bekennenden Kirche klar gewesen sei, dass er allein Jesus Christus zu gehorchen habe im Leben und im Sterben, und obwohl er mit anderen das Bekenntnis von Barmen für richtig und wahr gehalten habe, dass das Evangelium von Jesus Christus für alle Bereiche des menschlichen Lebens gelte, müsse er doch bekennen, dass es ihm gar nicht als Problem erschienen sei, als Offizier einer Wehrmacht anzugehören, die nicht der Sicherung des Friedens, sondern einem Angriffskrieg diente. Kirchenpräsident Hild sagte wörtlich: er wisse, „dass das meine Schuld ist, für die ich der Vergebung bedarf.“ Und er fügte hinzu: „Mit Herzklopfen und Aufregung“ müsse er als ehemaliges Mitglied des Bundes christlicher Offiziere einräumen, dass sie damals nicht nur im Gewissen angefochten gewesen seien. Es habe auch Situationen gegeben, wo sie als Soldaten „befriedigt waren und stolz.“

Ich habe Hochachtung und Respekt vor einem Mann, der in dieser Weise auch über dunkle Seiten seiner Persönlichkeit zu sprechen wagt, die wir ja alle haben, aber meist zu verbergen suchen. Er macht mir Mut, den Weg der Selbstprüfung und Selbstkritik nicht als Schwäche, sondern als Weg der Stärke im Sinne eines Aufeinanderzugehens zu begreifen.

Inwieweit betrifft uns heute das Bild des Kelches in der Bedeutung „Kelch des Zornes Gottes“? Ist der Kelch schon wieder voll bis zum Überlaufen? Hat Gott noch Geduld mit uns? Ergreifen wir noch die Chancen, die wir haben, überall, wo wir können, Schritte des Friedens zu gehen?

Unsere kleine Friedensgruppe besteht in diesem Jahr nicht mehr. Im vergangenen Jahr hatten wir noch einen Kranz hier niedergelegt. Wir haben in der Aufgabe, eine langfristige Friedensarbeit in Reichelsheim aufzubauen und immer wieder neue Denkanstöße zu geben, versagt. Wir haben uns entmutigen lassen.

Ich weiß nicht, ob es eine Friedensgruppe noch einmal in Reichelsheim geben wird. Die Aufgabe, für den Frieden zu arbeiten, bleibt aber auf jeden Fall bestehen, für jeden einzelnen von uns. Wo wir zwei Freunden dazu verhelfen können, dass sie sich wieder vertragen, ist das ein Beitrag zum Frieden. Wo wir Weltuntergangsstimmung nicht mitmachen, sondern Hoffnung verbreiten, ist das ein Schritt zum Frieden. Wo wir für den Frieden beten, bewegen wir uns auf den Frieden zu. Wo wir uns über Friedenspolitik informieren und auf der Suche nach Verständigung und Abrüstung mitreden, leisten wir ein Stück anstrengende, aber nicht nutzlose Arbeit für den Frieden. Wo wir unseren Kindern Alternativen bieten zu den gefühlsabstumpfenden oder aufputschenden Gewalt- und Horrorvideos, sind wir als Friedenserzieher tätig. Beispiele gibt es noch und noch: wie wir etwas für den Frieden tun können. Allerdings auch Beispiele, wie wir immer wieder versagen. Wie wir gar nicht zum Miteinanderreden bereit sind. Wie wir Angst davor haben, der andere könnte ja vielleicht auch zum Teil recht haben.

Der Kelch des Zorns – wird er sich noch einmal über uns ergießen? Wir könnten es durch unsere Anstrengung allein nicht verhindern. Aber nun denke ich noch an eine andere Deutung des Kelchs: an den Leidenskelch Christi, der zugleich der Kelch unseres Abendmahles ist. Jesus hat, nachdem er schwer mit sich und seiner Angst gekämpft hat, den Kelch des Zornes Gottes ausgetrunken bis zur bitteren Neige, den Kelch, der eigentlich für uns wegen unseres immer wieder gott-losen Verhaltens bestimmt gewesen wäre. So wurde der Kelch des Zorns zum Leidenskelch Christi. Als Petrus zum Schutze Jesu mit seinem Schwert dreinschlug und einen Soldaten am Ohr traf, sagte Jesus (Johannes 18, 11):

Steck dein Schwert in die Scheide! Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?

So wird der Kelch seit Jesus Christus zum Symbol für das gewaltlose Leiden unter der Gewalt, für das vergossene Blut dessen, der selbst kein fremdes Blut vergossen hat. Er wird zum Sinnbild der Vergebung; denn Jesus vergibt selbst jenen, die ihn gefangennehmen und töten; und wenn wir – die Christen unter uns – das Heilige Abendmahl feiern, trinken wir aus dem Kelch als dem Zeichen der Versöhnung mit Gott. Erst wenn der Kelch nicht mehr das Symbol für Schuld und Unrecht und für fremdes vergossenes Blut ist, das den Zorn Gottes herausfordert, sondern für vergebene Schuld durch das Blut Christi, erst wenn wir akzeptieren, dass unser Versagen vergeben werden kann, wird für uns der Kelch ein Symbol des Lebens sein und nicht mehr ein Symbol der Vernichtung. Wenn unser Kirchenpräsident nicht an die Vergebung glauben würde, hätte auch er nicht von seiner Schuld reden können. Aber dieses Gespräch brauchen wir, wo wir – auch zwischen den Generationen – offen miteinander reden, ohne uns ständig gegenseitig Vorwürfe zu machen, sondern mehr von unserer eigenen Betroffenheit zu sprechen, von unseren Wünschen und Enttäuschungen, von unseren Befürchtungen und auch unserem Versagen. Junge Menschen hungern oft geradezu nach solchen Gesprächen, in denen auch sie ernstgenommen werden. Und für den Frieden können solche Begegnungen sehr wichtig werden.

Vielen Dank, dass Sie mir so lange zugehört haben!

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