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„Er hat die Verwesung nicht gesehen“

Ist Jesu Körper unverwest geblieben? Wenn wir so fragen, überschreiten wir die Grenze eines unauflösbaren Geheimnisses. Aber wer so wie Jesus als liebendes Ebenbild des Vaters im Himmel leben und sterben konnte, dessen Leben ist mehr als ein biologischer Prozess, der am Ende in einem ökologischen Kreislauf der Natur aufgeht bzw. untergeht.

Ein absterbender Hagebuttenzweig als Symbol der Verwesung
Ein absterbender Hagebuttenzweig als Symbol der Verwesung (Bild: katermikeschPixabay)

Osterandacht am Ostersonntag, den 11. April 2004, um 8.00 Uhr am Steinkreuz auf dem Friedhof Gießen

Am Ostermorgen 2004 begrüße ich Sie herzlich auf dem Friedhof am Rodtberg zu unserer traditionellen Osterfrühandacht, um die Auferstehung Jesu Christi von den Toten zu feiern.

Den Posaunenbläsern um Herrn Joswig danke ich herzlich dafür, dass sie in ehrenamtlicher Mithilfe diese gottesdienstliche Feier musikalisch begleiten.

In diesem Jahr stelle ich die Andacht unter ein Wort aus der von Lukas geschriebenen Apostelgeschichte 13, 37:

„[Er] hat die Verwesung nicht gesehen.“

Wir sammeln uns um die Osterbotschaft im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Wir singen zu Beginn das Osterlied 107:

1. Wir danken dir, Herr Jesu Christ, dass du vom Tod erstanden bist und hast dem Tod zerstört sein Macht und uns zum Leben wiederbracht. Halleluja.

2. Wir bitten dich durch deine Gnad: nimm von uns unsre Missetat und hilf uns durch die Güte dein, dass wir dein treuen Diener sein. Halleluja.

3. Gott Vater in dem höchsten Thron samt seinem eingebornen Sohn, dem Heilgen Geist in gleicher Weis in Ewigkeit sei Lob und Preis! Halleluja.

Liebe Gemeinde, kürzlich hörte ich im Autoradio einen Beitrag zur Auslegung der biblischen Auferstehungsbotschaft. Da kam auch der neutestamentliche Forscher Gerd Lüdemann zu Wort und wiederholte seine bekannte These: Das Grab Jesu sei nicht leer gewesen, Jesu Körper sei verwest wie jeder andere auch. Damit sei der Glaube an die Auferstehung Christi hinfällig – Ostern ein Hirngespinst der Jünger Jesu.

Lüdemann gefällt sich darin, die Grundlagen des christlichen Glaubens zu zerpflücken. Ich bin überzeugt, dass er zu kurz greift in seiner Bibelkritik. Aber ich lasse mir von ihm das Stichwort vorgeben, mit dem er dem Glauben an die Auferstehung den Todesstoß versetzen will: „Verwesung“. Nicht gerade ein schönes Wort, und doch glaube ich, dass wir dieses Wort mit Gewinn meditieren können, heute morgen zwischen den Gräbern auf dem Friedhof am Rodtberg.

Schauen wir einmal, was in der Bibel mitschwingt, wenn in ihr von der Verwesung die Rede ist, und was der Evangelist und Apostelhistoriker Lukas mit dem von ihm überlieferten Vers meint:

„[Er – Jesus] hat die Verwesung nicht gesehen.“

Die Weisheit des Alten Testaments sprach von der Verwesung, um den Menschen an seine Sterblichkeit zu erinnern und zur Demut zu erziehen, so zum Beispiel im Buch Sirach 7, 17 (Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 by Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart):

17 Demütige deinen Stolz ganz tief, denn was den Menschen erwartet, ist die Verwesung.

OK, ich musste auf die katholische Einheitsübersetzung zurückgreifen, um im Deutschen an dieser Stelle die Verwesung zu finden. Wortwörtlich steht da im Hebräischen etwas von Feuer und Wurm, was Luther in seiner Übersetzung auch entsprechend wiedergibt. Vom Sinn her ist aber dasselbe gemeint. Das Alte Testament ist ein realistisches Buch, ob es um Politik oder Moral geht, um Sexualität oder Tod. Der Glaube an den einen Schöpfer dieser wirklichen Welt überspringt nicht einfach die biologischen Notwendigkeiten und Grenzen, die uns gesetzt sind. Wir sind als endliche Wesen geschaffen, werden als sterbliche Wesen geboren. Wenn unser Leben den Leib verlässt, muss dieser Leib verwesen, das ist der natürliche Lauf der Dinge, und das ist auch gut so, es gehört zur guten Schöpfung Gottes. Viele Organismen tun ihren Dienst, damit unsere Erde nicht zu einem einzigen Leichenhaufen wird. Die Materie eines toten Körpers kehrt in den Kreislauf der Natur zurück, und es bedarf besonderer Verfahren des Präparierens oder der Plastination, wenn man als Mediziner oder interessierter Laie den toten Körper oder Teile davon als Wunderwerk aus Gottes Schöpfung betrachten oder bestaunen will.

Lange Zeit hindurch gab es im Volk Israel nicht den Glauben an eine Auferstehung der Toten. Man glaubte, nach dem Tod in die Scheol zu kommen, ins Totenreich, das man sich als ein Reich der Schatten

„im Lande des Vergessens“

(Psalm 88, 13) vorstellte. Man hoffte, einmal „alt und lebenssatt“ sterben zu dürfen und betete zu Gott um ein langes erfülltes Leben und um Rettung vor allzu frühem Tod.

Das tut auch David im Psalm 16, 10 (Schlachter-Bibel © 1951, Genfer Bibelgesellschaft):

10 Du wirst mein Leben nicht dem Totenreich lassen und wirst nicht geben, dass dein Heiliger die Verwesung sehe.

David spricht hier von sich selbst, von seinem eigenen Leben, und bittet um Errettung aus Todesgefahr. Er bezeichnet sich als „Chassid“, was in unseren Bibeln als „Heiliger“ übersetzt wird; gemeint ist ein Mensch, der sich an Gottes Weisungen hält und sich vertrauensvoll unter seinen Schutz stellt. David ist zuversichtlich, so lange er zu den Gerechten des Volkes Israel gehört, kann Gott ihm nicht das Schicksal auferlegen, schon so früh in die Grube gelegt zu werden und dort verwesen zu müssen.

Wieder finden wir im Hebräischen keine wörtliche Entsprechung für das deutsche Wort Verwesung. Dort steht einfach das Wort für Grube oder Grab. Schon die griechische Bibel-Übersetzung der Septuaginta verändert den Sinn der Stelle ein wenig, indem sie das Wort Verwesung verwendet. Dem folgt zum Beispiel die deutsche Schlachter-Übersetzung, die ich eben zitiert habe, und die Luther-Übersetzung von 1545.

Als Jesus am Kreuz starb, hat er einen Psalm Davids gebetet, den Psalm 22: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus kannte sicher auch den 16. Psalm und diesen Vers:

10 Du wirst mein Leben nicht dem Totenreich lassen und wirst nicht geben, dass dein Heiliger die Verwesung sehe.

Aber im buchstäblichen Sinne Davids wurde dieses Psalmwort im Falle Jesu nicht wahr.

Jesus wurde nicht lebendig vom Kreuz abgenommen. Sein Leben wurde nicht vor dem Tode errettet. Ja, von Jesus bekennen wir, er sei „hinabgefahren in das Reich des Todes“. Jesus ist ins Grab gelegt worden. Hat er auch die Verwesung gesehen?

Bevor wir dazu das Neue Testament befragen, singen wir aus dem Osterlied 111 die Strophen 6 bis 10:

6. Am Kreuz lässt Christus öffentlich vor allem Volke töten sich; da er durchs Todes Kerker bricht, lässt er’s die Menschen sehen nicht. Halleluja.

7. Sein Reich ist nicht von dieser Welt, kein groß Gepräng ihm hier gefällt; was schlicht und niedrig geht herein, soll ihm das Allerliebste sein. Halleluja.

8. Hier ist noch nicht ganz kundgemacht, was er aus seinem Grab gebracht, der große Schatz, die reiche Beut, drauf sich ein Christ so herzlich freut. Halleluja.

9. Der Jüngste Tag wird’s zeigen an, was er für Taten hat getan, wie er der Schlangen Kopf zerknickt, die Höll zerstört, den Tod erdrückt. Halleluja.

10. Da werd ich Christi Herrlichkeit anschauen ewig voller Freud, ich werde sehn, wie alle Feind zur Höllenpein gestürzet seind. Halleluja.

Ich lerne aus diesem Osterlied: Was am Ostermorgen geschieht, ist von einem Geheimnis umgeben, das wir nicht auflösen können. „Am Kreuz lässt Christus öffentlich vor allem Volke töten sich; da er durchs Todes Kerker bricht, lässt er’s die Menschen sehen nicht.“

Alles, was wir von der Osterbotschaft sagen und verkünden, erklären und ausdeuten, kann dieses Geheimnis nicht auflösen oder überspringen. „Hier ist noch nicht ganz kundgemacht, was er aus seinem Grab gebracht, der große Schatz, die reiche Beut, drauf sich ein Christ so herzlich freut.“

Dieser Schatz, der uns mit der Botschaft von Christi Auferstehung anvertraut ist, steht also noch nicht in unserer Verfügungsgewalt. Wir freuen uns schon heute, dass er die Mächte des Todes und des Bösen überwunden hat. Aber endgültig frei sind wir von Tod und Hölle erst in der Ewigkeit: „Der Jüngste Tag wird’s zeigen an, was er für Taten hat getan, wie er der Schlangen Kopf zerknickt, die Höll zerstört, den Tod erdrückt. Da werd ich Christi Herrlichkeit anschauen ewig voller Freud, ich werde sehn, wie alle Feind zur Höllenpein gestürzet seind.“

Es gibt also keinen nahtlosen Übergang von dieser zur kommenden Welt. Niemand hat Jesus aus seinem Grab herauskommen sehen; sein Auferstehungsleib konnte nur für eine gewisse Zeit von einigen Jüngerinnen und Jüngern in einer Vision geschaut werden. Erst in der Ewigkeit, wenn wir diese Welt hinter uns gelassen haben, werden wir den Auferstandenen so schauen, wie wir dann auch Gott schauen dürfen.

Aber gebe Gott, dass das Geheimnis der Auferstehung seines Sohnes Jesu Christi schon hier auf Erden unsere Herzen anrührt und uns verwandelt.

Betrachten wir mit dieser Bitte im Herzen nun die Stellen in der Apostelgeschichte des Lukas, in der Psalm 16, 10 zitiert wird (nach Schlachter):

10 Du wirst mein Leben nicht dem Totenreich lassen und wirst nicht geben, dass dein Heiliger die Verwesung sehe.

In Apostelgeschichte 2 (Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 by Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart) sagt Petrus in seiner Pfingstpredigt in Jerusalem:

24 Gott hat Jesus von den Wehen des Todes befreit und auferweckt; denn es war unmöglich, dass er vom Tod festgehalten wurde.

25 David nämlich sagt über ihn: Ich habe den Herrn beständig vor Augen. Er steht mir zur Rechten, ich wanke nicht.

26 Darum freut sich mein Herz und frohlockt meine Zunge, und auch mein Leib wird in sicherer Hoffnung ruhen;

27 denn du gibst mich nicht der Unterwelt preis, noch lässt du deinen Frommen die Verwesung schauen.

Da taucht er auf in der Predigt des Petrus, der Satz aus Psalm 16: nicht „lässt du deinen Frommen die Verwesung schauen“. Interessant ist nun, wie Petrus den Text weiter auslegt (Einheitsübersetzung):

29 Brüder, ich darf freimütig zu euch über den Patriarchen David reden: Er starb und wurde begraben, und sein Grabmal ist bei uns erhalten bis auf den heutigen Tag.

30 Da er ein Prophet war und wusste, dass Gott ihm den Eid geschworen hatte, einer von seinen Nachkommen werde auf seinem Thron sitzen,

31 sagte er vorausschauend über die Auferstehung des Christus: Er gibt ihn nicht der Unterwelt preis, und sein Leib schaut die Verwesung nicht.

32 Diesen Jesus hat Gott auferweckt, dafür sind wir alle Zeugen.

Petrus erinnert daran, was alle wissen: David ist gestorben, man kann sogar noch sein Grab sehen.

Den Satz, den David in einem anderen Sinn über sich selbst sagt, legt Petrus nun aber als prophetisches Wort aus. Durch den Geist Gottes geleitet hat David schon damals die Wahrheit über den ausgesagt, den wir Christen auch den Sohn Davids nennen, über Christus: „sein Leib schaut die Verwesung nicht“.

Ähnlich predigt später der Apostel Paulus in der Stadt Antiochia in Pisidien, wie Lukas im 13. Kapitel der Apostelgeschichte schreibt (Einheitsübersetzung):

34 Dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat und ihn nicht der Verwesung überlassen wollte, hat er so gesagt: „Ich will euch die Gnade, die David verheißen ist, treu bewahren.“

35 Darum sagt er auch an einer andern Stelle: „Du wirst nicht zugeben, dass dein Heiliger die Verwesung sehe.“

36 Denn nachdem David zu seiner Zeit dem Willen Gottes gedient hatte, ist er entschlafen und zu seinen Vätern versammelt worden und hat die Verwesung gesehen.

37 Der aber, den Gott auferweckt hat, der hat die Verwesung nicht gesehen.

David hat die Verwesung gesehen, Jesus nicht. So bewahrt Gott die Verheißung, die er damals dem David gegeben hat. Denn David musste dann ja doch sterben, in hohem Alter traf Psalm 16, 10 auf ihn nicht mehr zu (Schlachter-Übersetzung):

10 Du wirst mein Leben nicht dem Totenreich lassen und wirst nicht geben, dass dein Heiliger die Verwesung sehe.

Darum bezieht die Apostelgeschichte mit gutem Grund diesen Satz als Vorausschau auf die Auferstehung Jesu Christi. Er sieht zwar das Totenreich, aber bleibt dort nicht gefangen. Er stirbt zwar ganz real den gleichen Tod wie wir, aber die Verwesung behält nicht das letzte Wort über sein Leben.

Ist das nun eine biologisch beweisbare Tatsache? Ist Jesu Körper unverwest geblieben, wurde er direkt aus dem Grab verwandelt in den Leib seiner Auferstehung, der dann in den Himmel aufgenommen wurde? Ich denke, wenn wir so fragen, überschreiten wir die Grenze des Geheimnisses, von der ich gesprochen habe.

„Er hat die Verwesung nicht gesehen“, damit spricht die Bibel die Überzeugung aus, dass der Christus die Kraft hatte, die Todesmächte dieser Welt zu überwinden. Wer so eins ist mit Gott wie der Sohn Gottes selbst, wer so wie er als liebendes Ebenbild des Vaters im Himmel leben und sterben konnte, dessen Leben ist mehr als ein biologischer Prozess, der am Ende in einem ökologischen Kreislauf der Natur aufgeht bzw. untergeht.

Ich gebe zu: Ich weiß nicht, was wirklich am Ostermorgen mit dem Körper Jesu passiert ist.

Eine Möglichkeit schließen die biblischen Erzählungen aus: Dass ein Arzt hätte bescheinigen können: Dieser Mann war tot – und er lebt wieder im gleichen Leib wie vorher. Auferstehung ist keine Reanimation, kein Erwachen aus dem Scheintod, keine Wiederherstellung des Zustands vor dem biologischen Tod eines Menschen.

Aber wir können beim besten Willen nicht entscheiden, ob Jesu toter Leib noch am Ostermorgen von einem Pathologen hätte gefunden und untersucht und für biologisch tot hätte erklärt werden können, dem natürlichen Prozess der Verwesung preisgegeben.

Die biblischen Erzähler gehen davon aus: Sein Leib ist aus dem Grab verschwunden – real auferstanden, hinein in eine andere Wirklichkeit, unvorstellbar für unser Begreifen.

Aber diese andere Wirklichkeit verwandelt schon unser Leben hier auf Erden. Wir gewinnen Mut und Zuversicht, den Todesmächten auf dieser Erde zu trotzen und der Liebe zu folgen, die in Christi Tod und Auferstehung den Tod und die Sünde besiegt hat. Amen.

Wir singen das Lied 117:
Der schöne Ostertag! Ihr Menschen, kommt ins Helle!

Lasst uns beten:

Gott, lass uns das Geheimnis des Glaubens an deine Auferstehung bewahren. Verwandle unser Herz und lass uns mit Zuversicht und Mut unseren Alltag bewältigen, Frieden schaffen, die Liebe leben. Schenke uns Trost in Trauer, Kraft im Leid, Gelassenheit auf den Durststrecken des Lebens.

Gott, wenn dein Heiliger Sohn die Verwesung nicht schauen musste, dann bitten wir dich für alle Orte dieser Erde, wo Menschen nicht atmen können wegen des Verwesungsgestankes übelster Sünde und Verbrechen.

Lass uns alles dafür tun, dass Kinderschändern das Handwerk gelegt wird, dass Opfer von Gewalt sich wieder ihrer Menschenwürde bewusst werden können, dass Liebe unter uns kein leeres Wort ist.

Dank sei dir, Vater Jesu Christi, dass du deinen Sohn aus dem Tode erweckt hast und damit auch uns die Hoffnung auf ewiges Leben schenkst – und die Hoffnung darauf, dass es ein sinnvolles Leben in Liebe auch vor unserem Tode gibt. Amen.

Wir beten mit Jesu Worten:

Vater unser

Wir singen das Lied 551:

Seht, der Stein ist weggerückt, nicht mehr, wo er war

Nun geht mit Gottes Segen in diesen Ostertag:

Der Herr segne euch und behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. Amen.

Nachspiel des Bläserkreises

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