Bild: Ingrid Walpert

Kapitel 8: Freude und Trauer

Im achten Kapitel seines Buches beschäftigt sich Helmut Schütz mit dem Gefühlspaar Freude und Trauer. Wer sich nicht freuen kann, kann oft auch keine Trauer zulassen. Gerade bei Opfern von sexueller Gewalt sind diese Gefühle oft sehr durcheinander.

Zum Gesamt-Inhaltsverzeichnis des Buches „Missbrauchtes Vertrauen“

Pfarrer Helmut Schütz
Pfarrer Helmut Schütz (Foto: Franz Möller)

Inhalt dieses Kapitels

„Danke für manche Traurigkeiten“

Verbotene Lust

Falsche Heiterkeit

Trauern ist Arbeit und braucht Unterstützung

2. Könige 2, 19-22: Salz macht Wasser gesund

Trösten, wenn man Trost braucht

Anmerkungen zu diesem Kapitel

„Danke für manche Traurigkeiten“

Eine immer wiederkehrende Erfahrung ist es für mich, dass zum Beispiel PatientInnen, die unter Depressionen leiden, mir sagen: „Ich kann mich gar nicht mehr freuen!“ Und wenn ich dann nachfrage: „Können Sie denn weinen und traurig sein?“ kommt regelmäßig die Antwort: „Nein, ich kann schon lange nicht mehr weinen!“ Erst wenn sich die Tränen wieder lösen, ist auch Freude möglich.

Wenn wir bei Andachten oder im Gottesdienst das Lied „Danke“ (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 334, Strophe 4) singen, weise ich oft auf die Textzeile „Danke für manche Traurigkeiten“ hin, in der zum Ausdruck kommt, wie gut es ist, auch Traurigkeit fühlen zu können.

Verbotene Lust

Aus verschiedenen Gründen kann es einem missbrauchten Menschen verboten sein, Lust, Spaß und Freude zu fühlen. Das Leben wurde so sehr überschattet durch Kummer und Schmerz, dass für schöne Gefühle einfach kein Platz mehr da war. „Die Lust am eigenen Körper ist seitdem oft völlig verschwunden und stattdessen ist oft ein Verbot für Genuss überhaupt entstanden… Wenn man über 10 Jahre keinen Grund hatte zu lachen, keinen Spaß mehr erlebte, weil alles von einem dunklen Nebel überschattet wurde, weiß man nicht mehr, wie das ist. Es muss wieder neu gelernt werden. Die Klientin hat hier ein sehr großes Nachholbedürfnis. – Dazu ist es wichtig, dass in der Therapie nicht nur sehr ernsthaft an schweren Problemen gearbeitet wird, sondern dass auch Platz da ist zum Spielen, Spaßhaben und Lachen. Unsere Erfahrung ist es, dass es am leichtesten geht, wenn wir direkt mit dem Körper etwas machen, zum Beispiel Toben, aber auch Grimassen schneiden, einander kopieren, mit dem Körper ganz verschiedene Stimmungen ausdrücken, mit dem Körper ganz verschiedene Personen spielen. Der Therapeut soll ständig wieder betonen, dass man lachen darf, dass es schön ist, zu genießen, dass das auch erlaubt ist… – Zur Lust und zum Genuss gehört auch die Körperversorgung und die Kleidung. Ist Kleidung nur eine Umhüllung des Körpers oder kann es auch etwas Schönes sein? Etwas worin man sich wohlfühlt und worin man sich zeigen möchte?“ (1)

Wie sollte sich ein Kind unbeschwert dem kindlichen Spielen und Lernen hingeben, wenn es ständig der Bedrohung durch den Missbrauch ausgesetzt war? Wenn dann vielleicht noch die verwirrende Erfahrung hinzutrat, dass der eigene Körper während des Missbrauchs erregt wurde, ohne dass man es wollte, so dass der Täter scheinbar Recht bekam mit seiner niederträchtigen Behauptung: „Es ist doch auch für dich schön!“, wurde für lange Zeit auch jedes sexuelle Lustgefühl mit einem absoluten Verbot belegt.

In einem extremen Fall erfuhr ich, dass Mitglieder einer Sekte, die Kinder missbrauchten, diesen Kindern sogar das Spielen verboten, weil auch ein Kind sich nur mit Gott zu beschäftigen habe und nicht mit nutzlosem Spiel. Für eins dieser betroffenen Kinder bedeutete kindliches Malen und Spielen den Tod, weil es, wenn es so etwas tun würde, wegen Ungehorsam von Gott selbst mit dem Tode bestraft würde. Es gab allerdings auch eine Art des Spielens, die nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten war: nämlich das sexuelle Spiel mit dem eigenen missbrauchenden Vater. Im Rahmen dieses „Spielens“ musste das Kind verschiedenste Gegenstände und Werkzeuge des alltäglichen Gebrauchs zum Zwecke der sexuellen Stimulierung des Vaters bzw. der Folterung des eigenen Körpers benutzen: Hammer, Zangen, Nägel, Messer, Rasierklingen, Wäscheklammern, Gegenstände, die in Körperöffnungen eingeführt wurden und vieles mehr.

Falsche Heiterkeit

Es steht nicht im Widerspruch zu diesem Verbot von Spaß, Freude und Lust, wenn solche Menschen nach außen hin oft eine scheinbar unbeschwerte Heiterkeit an den Tag legen. Freundlich und ausgeglichen zu sein, brav und angepasst zu leben, wie ein Clown der Welt ein lachendes Gesicht zu zeigen, auch wenn es in der Seele ganz anders aussieht, das haben sie gelernt. Deshalb glaubt man es ihnen oft auch nicht, wie schlecht es ihnen geht, welchen Schmerz sie fühlen, wie traurig sie in Wirklichkeit sind. Das geht bis dahin, dass sie in der Auseinandersetzung mit ärztlichen Gutachtern und Rententrägern schlechte Karten haben, weil sie sehr viel Selbstüberwindung und Unterstützung von außen benötigen, um überhaupt zuzugeben, wie krank sie sind, unter welchen Symptomen und Beeinträchtigungen sie leiden.

Hier zeigt es sich erneut, wie wichtig es ist, zum Beispiel einen Bibelvers wie Phil. 4, 4: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!“ nicht im Sinne eines Gebotes der Pflicht zu verstehen. Ich werde nie vergessen, wie der Leiter einer kirchlichen Einrichtung seiner an einer Depression erkrankten Mutter diesen Bibelvers vorhielt und ihr damit selbst die Schuld an ihrer Krankheit zuschob. Auch das oft wiederholte, auf Nietzsche zurückgehende Wort „Christen müssten erlöster aussehen“, hat verheerende Auswirkungen, wenn es dazu führt, dass Menschen sich unter den Druck setzen, nach außen hin anders auszusehen als sie sich im Inneren fühlen. Auch Freude muss von innen heraus wachsen, sonst ist sie nicht echt; wichtig ist, dass man zunächst einmal auch den Gegenpol der Traurigkeit fühlen darf.

Trauern ist Arbeit und braucht Unterstützung

Warum ist es so schwer, Traurigkeit zuzulassen? Aus den u. a. von Elisabeth Kübler-Ross beschriebenen Erfahrungen mit Sterbe- und Trauerprozessen wissen wir, dass der Abschied vom eigenen Leben und auch der Abschied von einem geliebten Menschen ein schmerzhafter und anstrengender Vorgang des Loslassens und Durcharbeitens verschiedenster Gefühle ist (2).

Für die Bewältigung der Traurigkeit eines sexuell missbrauchten Menschen gilt ähnliches. Auch er hat Verluste zu beklagen: zunächst den Verlust eigener Lebensmöglichkeiten, den Verlust der eigenen Kindheit, der Möglichkeiten, unbeschwerte Freude zu genießen. Und hinzu kommt der Verlust geliebter Menschen, denn sobald ein Elternteil ein Kind missbraucht, hört dieser Elternteil auf, Vater oder Mutter zu sein, und er stört erheblich die Beziehung auch zum anderen Elternteil. Erschwert wird diese Trauerarbeit jedoch dadurch, dass es für ein Kind gar nicht auszuhalten wäre, diesen Verlust wirklich als Verlust wahrzunehmen. Das Kind muss sich also vormachen, es habe die Eltern gar nicht wirklich verloren, sie müssten wohl doch im Recht sein, also müsse es selber böse sein. Hinzu kommt, dass Schreien und Weinen für diese Kinder oft sowieso verboten ist, und dass niemand da ist, gegenüber dem die Trauer geäußert werden könnte. „Der Mensch äußert sein Gefühl, weil ihn das befreit, weil es ihm Raum gibt, weil es Energie freisetzt… Wenn wir ein Gefühl ausdrücken, wollen wir damit auch von den anderen verstanden und akzeptiert werden… Kinder gehen zu Erwachsenen, wenn sie traurig sind oder sich freuen. Sie möchten getröstet werden oder ihre Freude mit anderen Menschen teilen. Dieser Weg ist für inzestbetroffene Kinder fast immer abgeschnitten. Es gibt keinen, mit dem sie ihren Schmerz, ihre Verzweiflung, ihre Hoffnungslosigkeit teilen können. Sie werden nicht getröstet. Ihr Schmerz wird nicht angenommen.“ (3)

2. Könige 2, 19-22: Salz macht Wasser gesund

Es gibt in der Bibel eine kleine Wundergeschichte, in der ein Mitglied unseres Bibelkreises den Gedanken ausgedrückt fand, wie wichtig es ist, Trauer auszudrücken und Tränen weinen zu dürfen: In 2. Kön. 2, 19-22 wird nämlich erzählt, wie der Prophet Elisa – entsprechend einem bekannten Märchenmotiv – mit Hilfe von Salz eine Wasserquelle wieder gesund macht. Das Salz ist ja ein Bestandteil der Tränen, salziges Wasser somit ein Bild für die Fähigkeit, seinen Gefühlen freien Lauf lassen zu können.

Hier wird deutlich, wie wichtig seelsorgerliche Begleitung in der Trauer sein kann. Denn nicht nur „das Äußern von Traurigkeit“ selbst ist für den wichtig, der sich verletzt fühlt, sondern auch „das Gefühl, dass andere Menschen diese Traurigkeit akzeptieren und dem Betreffenden vermitteln, dass er sich zurecht verletzt fühlt… Es ist selten hilfreich, wenn der andere die eigene Trauer übernimmt, wenn er »mitfließt« und selbst traurig wird. Noch weniger hilft es, wenn man in seiner Traurigkeit zurückgewiesen wird. Entscheidend ist dagegen, dass es einen anderen Menschen gibt, der einen stützt und der vermitteln kann, dass die Traurigkeit richtig ist und man sie auch bei ihm zeigen kann. Mehr braucht dieser Mensch eigentlich nicht zu tun, vor allem soll er nicht versuchen, demjenigen, der traurig ist, seine Traurigkeit zu nehmen.“ (4)

Viele Menschen haben Angst vor ihrer eigenen Traurigkeit. Sie denken, sie könnten nicht wieder zu weinen aufhören, wenn einmal der Damm der angestauten Tränenflut brechen würde. Manchmal teilen wir als Helferinnen und Helfer diese Angst, vor allem, wenn wir meinen, alle ungeweinten Tränen müssten doch irgendwann einmal geweint werden. Das aber ist ein Irrtum, ist Ausdruck eines magischen Irrglaubens. Nicht alle ungeweinten Tränen können und müssen geweint werden, möglich ist es allerdings, allmählich das in der Vergangenheit aufgestellte Verbot, zu weinen, zu lockern und schließlich aufzuheben und die Erlaubnis zu geben, sich in Gegenwart einer unterstützenden Person „auszuweinen“. Wer das darf, hört irgendwann auch wieder auf – mit dem Gefühl der Erleichterung. Allerdings kann dieser Prozess, weinen zu lernen, nur Schritt für Schritt vollzogen werden, da in der Erinnerung und der Phantasie des Kindes mit dem Verstoß gegen ein solches tiefsitzendes Verbot die Androhung furchtbarer Strafen verknüpft worden war. Je größer der Widerstand gegen das Weinen ist, desto mehr seelsorgerlichen oder therapeutischen Schutz braucht ein ratsuchender Mensch, um nicht durch eine überfordernde Erlaubnis in Panik zu geraten oder suizidal zu werden.

Trösten, wenn man Trost braucht

Wenn ein Mensch selber nicht traurig sein, nicht seinen Schmerz zeigen darf, diese Traurigkeit aber doch da ist, dann kann er sich Auswege aus dem Dilemma suchen. Solche Auswege können in einer Art Symptomverschiebung liegen: Das Kind nässt ein, ersetzt sozusagen die Tränenflüssigkeit durch die Flüssigkeit der Ausscheidung. Von einem Kind hörte ich, dass es schlafwandelte und nachts versuchte, den Kühlschrank zu trösten, an dessen Außenwand manchmal Wassertropfen zu sehen waren: „Der Kühlschrank weint.“ Die einzigen Anzeichen für das Schlafwandeln waren die Papiertaschentücher, die morgens neben dem Kühlschrank zu finden waren. Bevor das Kind lernte, seine eigene Traurigkeit zuzulassen, konnte es zunächst von der Traurigkeit des Teddys sprechen, der nachts immer weinen würde und sich an das Kind kuscheln würde. Häufig sieht das Kind auch im missbrauchenden Vater und in der ihm den Schutz versagenden Mutter intuitiv ein kleines Kind, um dessentwillen es eigene Bedürfnisse nach Schutz und Trost zurückstellen muss, um die Eltern zu schützen und zu trösten.

So berichtet zum Beispiel Rolf Katterfeldt von einer Tochter, die während der Familientherapiestunde „zur Trösterin beider Eltern wird, wenn diese von ihrer Einsamkeit sprechen und dabei weinen. Die Tochter hat in keiner Behandlungsstunde geweint, obwohl sie mit Tränen kämpfte. Allerdings war ihr Symptom Einnässen“ (5).

Die Tatsache, dass sehr tief verletzte Menschen häufig einfühlsamer auf andere Menschen reagieren, als dass sie die eigenen Verletzungen spüren, lässt sich im Rahmen einer Gruppentherapie sinnvoll nutzen, um den TeilnehmerInnen auf dem Umweg über das Mitfühlen mit anderen auch den Zugang zum eigenen Fühlen zu ermöglichen. „Erzählt ein Mitopfer der Gruppe seine Geschichte, kann sie auf den Vater der anderen Frau ungemein zornig werden und über deren verlorene Kindheit bittere Tränen vergießen. Dadurch hat sie den ersten Schritt zu ihren eigenen Gefühlen getan.“ (6)

Anmerkungen

(1) Gerry van Vugt und Thijs Besems, Psychotherapie mit inzestbetroffenen Mädchen und Frauen (I), S. 337. In: Acta Paedopsychiatrica, Jahrgang 53, Heft 4, 1990, S. 318-338.

(2) Vgl. zum Beispiel Elisabeth Kübler-Ross (Hg.), Reif werden zum Tode, Gekürzte Taschenbuchausgabe, Gütersloh 1981, S. 180 und 97ff.

(3) Gerry van Vugt und Thijs Besems (siehe Anmerkung 1), S. 322.

(4) Ebenda, S. 323.

(5) Rolf Katterfeldt, Inzest: Eine traumatische Beziehung, S. 285. In: Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik, 38. Jahrgang, Heft 5, 1993, S. 278-286.

(6) Eva Hildebrand, Therapie erwachsener Frauen, die in ihrer Kindheit inzestuösen Vergehen ausgesetzt waren, S. 62. In: Lone Backe, Nini Leick, Joav Merrick und Niels Michelsen (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern in Familien, Köln 1986, S. 52-68.

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