Bild: Helmut Schütz

„Die Menschen sind ihre Geschichten“

Philosophie als Geisteswissenschaft hilft den Menschen, sich einander die Geschichten zu erzählen, die sie sind. Und die Hermeneutik leistet Verstehenshilfe, besonders auch bei alten und heiligen Texten. Was Odo Marquard dazu schreibt, wird im folgenden angedeutet, um neugierig zu machen auf seine Schriften. Die in Klammern angegebenen Stichworte verweisen auf die ausführlichen Literaturangaben in der chronologisch nach Jahreszahlen geordneten Bibliographie mit 103 Schriften von Odo Marquard.

 

Geisteswissenschaften als erzählende Moralistik

Geschichten als Handlungs-Widerfahrnis-Gemische

Und einige Stichworte zur Hermeneutik

 

Geisteswissenschaften als erzählende Moralistik

 

Jünger
Die Geisteswissenschaften sind jünger als die Naturwissenschaften. … der Terminus „Naturwissenschaften“ wird ab 1703 gebräuchlich, der Terminus „Geisteswissenschaften“ ab 1847 bzw. 1849. (Unvermeidlichkeit, 1985, S. 99f.)

 

Geburtsursache
Die experimentellen Naturwissenschaften sind „challenge“; die Geisteswissenschaften sind „response“. Die Genesis der experimentellen Wissenschaften ist nicht die Todesursache, sondern die Geburtsursache der Geisteswissenschaften; mit anderen Worten: die Geisteswissenschaften sind nicht das Opfer, sondern sie sind das Resultat der Modernisierung und daher selber unüberbietbar modern. (Unvermeidlichkeit, 1985, S. 101)

 

Modernisierungsschäden
Die Geisteswissenschaften helfen den Traditionen, damit die Menschen die Modernisierungen aushalten können: sie sind – das betone ich in meiner Skeptikereigenschaft als Moderitätstraditionalist – nicht modernisierungsfeindlich, sondern – als Kompensation der Modernisierungsschäden – gerade modernisierungsermöglichend. Dafür brauchen sie die Kunst der Wiedervertrautmachung fremd werdender Herkunftswelten. Das ist die hermeneutische Kunst, die Interpretation: durch sie sucht man in der Regel für Fremdgewordenes einen vertrauten Kram, in den es paßt; und dieser Kram ist fast immer eine Geschichte. Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muß man erzählen. Das tun die Geisteswissenschaften: sie kompensieren Modernisierungsschäden, indem sie erzählen; und je mehr versachlicht wird, desto mehr – kompensatorisch – muß erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie. (Unvermeidlichkeit, 1985, S. 105)

 

Vieldeutigkeit
Eindeutigkeit … ist in den interpretierenden Geisteswissenschaften kein Ideal, das nicht erreicht wird, sondern eine Gefahr, der es zu entkommen gilt. … Denn die Geisteswissenschaften sind – und zwar durch ihre Wende zur Vieldeutigkeit – auch eine späte Antwort auf die Tödlichkeit der konfessionellen Bürgerkriege, die hermeneutische Bürgerkriege waren, weil man sich dort totschlug um das eindeutig richtige Verständnis eines Buchs: nämlich der Heiligen Schrift, der Bibel; und diese Antwort kam spät, denn sie wurde unausweichlich erst durch die Tödlichkeitserfahrung der neukonfessionellen Bürgerkriege, die die modernen Revolutionen seit 1789 sind, die hermeneutische Bürgerkriege blieben, weil man sich dort totschlug und totschlägt um das eindeutig richtige Verständnis der einen einzigen eindeutigen Weltgeschichte. (Unvermeidlichkeit, 1985, S. 108)

 

Vergeisteswissenschaftlichung
[D]ie Nichtinstutionalisierung der Anthropologie als Gesamtfach … ist kein Unglück. Nicht nur konnten sich die Geisteswissenschaften fortan weiterhin frei und bunt entwickeln. Ebenso konnten die Sozialwissenschaften ihre Pubertät wenigstens halbwegs in disziplinärer Quarantäne absolvieren. Zugleich konnte auch die evolutionäre Biologie eigenständig lernen, daß sie – durch den Erfolg des Entwicklungsgedankens: weil man zwar mögliche Entwicklungen auswürfeln kann, wirkliche Entwicklungen aber erzählen muß – ihrerseits (ähnlich wie die evolutionäre Urknall-Kosmologie) zur erzählenden Wissenschaft wird. Diese Tendenz zu einer – wie man das nennen kann – ‚Vergeisteswissenschaftlichung der Naturwissenschaften‘ bleibt einstweilen imperfekt einzig dadurch, daß bisher die Evolution nur als Alleingeschichte hin auf den Menschen erzählt wird. Für die Evolutionstheorie ist dieses „anthropische Prinzip“ jene Schwierigkeit, die für die geschichtsphilosophische Fortschrittstheorie der Eurozentrismus war. Vielleicht gibt es schon irgendwo den evolutionsbiologischen Ranke mit dem Satz: „Jede Art ist unmittelbar zu Gott“; jedenfalls: die Evolutionstheorie hat ihren Historismus noch vor sich, also eine nochmals verstärkte Tendenz zur ‚Vergeisteswissenschaftlichung der Naturwissenschaften‘. (Unvermeidlichkeit, 1985, S. 111f.)

 

Philosophie – Theologie – Rhetorik
Wenn die Geisteswissenschaften junge Wissenschaften sind, muß es vormodern etwas gegeben haben, was dort ihr Pensum – Selbstverständnis des Menschen – wahrnahm: Was war das? Meine lakonische Antwort ist diese: Das waren Philosophie, Theologie und Rhetorik. …Die Geisteswissenschaften historisieren und ästhetisieren das altphilosophische und alttheologische Pensum des menschlichen Selbstverständnisses und retten es so, auf die Modernisierungen antwortend, für die moderne Welt. (Moralistik, 1987, S. 109)

 

Ersatzerwachsensein
Die Geisteswissenschaften sind ein Dienstleistungsgewerbe für Leistung von Diensten an Bürgern für deren Bürgerethik. … Geisteswissenschaften sind Lebenserfahrung für die, die noch keine haben, Altersweisheit der noch nicht Alten, was – als Orientierungspotential – wachsend wichtig wird in einer Zeit, in der, durch ihre Dauerveränderung, die Welt auch für den Ältesten noch so fremd bleibt wie einst nur für Kinder: Die von Hermann Lübbe beschriebene moderne Infantilisierung braucht die Geisteswissenschaften als Kompensation der Lebenserfahrung, als Orientierungshilfe. Dauerverkindlichung braucht die Kompensation durch eine Art Ersatzerwachsensein. Daß dabei nicht die große eine Orientierung, sondern viele Orientierungen geliefert werden, ist kein relativistisches Manko, sondern eine pluralistische Wohltat, wenn ohnehin gilt: Der universalistische kategorische Imperativ (Sei nur das, was auch alle anderen sein können) muß zumindest ergänzt werden durch den historischen Imperativ (Max Müller): Sei das, was nur du sein kannst, und laß auch die anderen das sein, was nur sie sein können. (Moralistik, 1987, S. 111)

 

Moralist
Bei uns wird heutzutage gern derjenige ein Moralist genannt, der – stets mit flammender Empörung und häufig durch Vergessen seines Kopfes – nur noch aus erhobenem Zeigefinger besteht. Demgegenüber muß man … an die traditionelle Moralistik denken, …an Montaigne, La Rochefoucauld und andere, die den Menschen aus seinen Sitten, Usancen, Üblichkeiten, eben seinen Mores, zu verstehen suchten. Diese Moralistik entstand in Frankreich und England – als Weltleute-Weltkenntnis – recht frühneuzeitlich; in Deutschland entstand statt ihrer – als Schulleute-Weltkenntnis – gleichzeitig ab ungefähr 1600 die philosophische Anthropologie. (Moralistik, 1987, S. 113f.)

 

Verspätete Moralistik
Die Geisteswissenschaften – die diesseits der monomythischen Geschichtsphilosophie … denken und so die moderne Welt milde kritisieren und nüchtern Bejahungshilfe leisten – holen eine Denktradition in Deutschland nach, die dort zu lange fehlte: die der Moralistik. Meine abschließende These, die auf die deutsche Sonderlage eingeht, ist also diese: Die deutschen Geisteswissenschaften sind die verspätete Moralistik der verspäteten Nation. (Moralistik, 1987, S. 114)

 

Modern
Die modernen Naturwissenschaften sind nicht die Todesursache, sondern vielmehr die Geburtsursache der Geisteswissenschaften. Wenn die exakten Naturwissenschaften, die für die laborfähigen Objekte da sind, modern sind, sind die Geisteswissenschaften, die für die lebensweltlichen Geschichten da sind, erst recht modern. (Stattdessen, 1999, S. 32)

 

Geschichtenpluralisierungsagentur
Die Menschen sind ihre Geschichten; menschlich bleiben sie durch Gewaltenteilung des Geschichtlichen: dadurch, daß sie nicht nur eine, sondern viele Geschichten haben. Die Geisteswissenschaften entstehen modern und gerade modern – angesichts der fortschrittsphilosophischen Tendenz zur Geschichtsuniformierung – als Geschichtenpluralisierungsagentur, die die Neigung zur Einheitsgeschichte durch Kultur der Geschichtenvielfalt – durch Kultur der vielen Bücher: der Literatur; durch Pflege der vielen Lesarten und Verständnisse: der Hermeneutik; durch Sensibilität für viele Sprachen und Sitten: den Sinn für Pluralistik und Individualität – kompensiert und dadurch kritisiert, so daß auch hier gilt: Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften. (Stattdessen, 1999, S. 33)

 

Wissenschaften vom Menschen
Alle Geisteswissenschaften sind Wissenschaften vom Menschen. Aber nicht alle Wissenschaften vom Menschen sind Geisteswissenschaften. … Es ist erforderlich, sich Gedanken darüber zu machen, wie man die Humanwissenschaften … aus ihren pragmatischen, naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Isolierungen heraus- und zur Zusammenarbeit zusammenführen kann. Diese Intention hat immer wieder einmal zur Idee einer Gesamtwissenschaft – einer Einheitswissenschaft – vom „ganzen Menschen“ geführt; und als diese … galt – neuzeittraditionell – die „Anthropologie“. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 133f.)

 

Geisteswissenschaftler
Je mehr Fortschritte wir wollen und haben, um so mehr Geisteswissenschaften brauchen wir. Es lohnt sich also, Geisteswissenschaftler zu sein. Wir, die Alten, haben das – in schwieriger Lage – geschafft; Sie, die Jungen, werden das – in schwieriger Lage – ebenfalls schaffen. (Doktorjubiläum, 2004, S. 12)

 

Geschichten als Handlungs-Widerfahrnis-Gemische

 

Geschichten
Die Menschen können ohne Mythen nicht leben; und das sollte nicht verwunderlich sein, denn was sind Mythen? Ein „mythophilos“ – Aristoteles bezeichnete sich so – ist einer, der gern Geschichten hört: den täglichen Klatsch, Legenden, Fabeln, Sagen, Epen, Reiseerzählungen, Märchen, Kriminalromane, und was es an Geschichten sonst noch gibt. Mythen sind – ganz elementar – justament dieses: Geschichten. (Polytheismus 1, 1978, S. 93)

 

Entmythologisierung als Mythos
[Die] Geschichte des Prozesses der Entmythologisierung ist – meine ich – selber ein Mythos; und daß so der Tod des Mythos selber zum Mythos wird, beweist ein wenig des Mythos relative Unsterblichkeit. Es ist zumindest ein Indiz dafür, daß wir ohne Mythen nicht auskommen. (Polytheismus 1, 1978, S. 93)

 

Reichweite unserer Lebensbegabung
Müssen nicht dort, wo die Wahrheit auftritt, die Mythen verschwinden? … Ich bestreite nicht, daß Mythen in die noch leere Stelle der Wahrheit faktisch eingetreten sind, wo die Menschen noch nicht wußten; aber das ist eine Zweckentfremdung. Denn Mythen sind … keine Vorstufen und Prothesen der Wahrheit, sondern die mythische Technik – das Erzählen von Geschichten – ist wesentlich etwas anderes, nämlich die Kunst, die (nicht etwa fehlende, sondern) vorhandene Wahrheit in die Reichweite unserer Lebensbegabung zu bringen. Da ist nämlich die Wahrheit in der Regel noch nicht, wenn sie entweder – wie etwa die Resultate exakter Wissenschaft z. B. als Formeln – noch unbeziehbar abstrakt oder – wie etwa die Wahrheit über das Leben: der Tod – unlebbar grausam ist: Da dürfen dann nicht nur, da müssen die Geschichten – die Mythen – herbei, um diese Wahrheiten in unsere Lebenswelt hereinzuerzählen oder um sie in unserer Lebenswelt in jener Distanz zu erzählen, in der wir es mit ihnen aushalten. (Polytheismus 1, 1978, S. 94f.)

 

Mythonudismus
[Die] Weltgeschichte des Bewußtseins [ist kein] … ‚Fortschritt‛ genannter Striptease, bei dem die Menschheit nach und nach – mehr oder weniger elegant – ihre Mythen ablegt und schließlich – sozusagen mit nichts als sich selber am Leibe – mythisch nackt dasteht: ganz nur noch bloße Menschheit. … Der Mythonudismus erstrebt Unmögliches… je mehr Mythen einer auszieht, desto mehr Mythen behält er an. (Polytheismus 1, 1978, S. 96)

 

Knollenblätterpilze
[W]enn es aussichtslos ist, die Mythen abzuschaffen, so folgt daraus nicht, daß es am Mythos nichts mehr zu kritisieren gibt… Nicht wahr: Wer angesichts von avancierten Knollenblätterpilzen die Forderung erhebt, man solle das Essen gänzlich bleibenlassen, der geht – scheint mir – einfach zu weit und wird nichts ausrichten; ein Ideologiekritiker könnte entlarvungsbeflissen schließen, so einer habe Interesse am Verhungern der anderen. Die vernünftige Maßnahme ist hierbei doch die, die längst erfolgreich ergriffen wurde: eine genaue Unterscheidung des Eßbaren und Giftigen. (Polytheismus 1, 1978, S. 97)

 

Erzählen
[D]ie Philosophie muß wieder erzählen dürfen und dafür – natürlich – den Preis zahlen: das Anerkennen und Ertragen der eigenen Kontingenz. … Hier stehe ich und kann auch immer noch anders: Ich erzähle…, also bin ich noch; … und wenn ich nicht gestorben bin, dann lebe ich noch heute. (Polytheismus 1, 1978, S. 111)

 

Polymythischer Roman
Gegenüber [dem] Finalisierungsanspruch [der] modernen Alleingeschichte sichert der moderne Roman – insbesondere der moderne Zeitroman – den Menschen Freiheit, indem er sie – polymythisch – in viele Geschichten verstrickt und dadurch jeden Menschen vom Zwang befreit, zusammen mit allen anderen Menschen nur noch eine einzige Geschichte haben zu dürfen. (Krise, 1981, S. 73f.)

 

Historismus
Die Universalgeschichte wird menschlich erst durch den Historismus, also durch jenen späteuropäischen Selbstdistanzierungsmodus des historischen Sinns, der den Menschen – allen Menschen zusammen und jedem einzelnen Menschen – nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten zu haben erlaubt, in die die Menschen verstrickt sind und die sie erzählen können und müssen… (Multiversalgeschichte, 1982, S. 72)

 

Eigene Vielfalt
[E]rst sobald [die Menschen] viele Geschichten haben, werden sie von jeder Geschichte durch die jeweils anderen Geschichten relativ frei und dadurch fähig, eine je eigene Vielfalt zu entwickeln, d. h. ein Einzelner zu sein, und sei es ein verzweifelter Einzelner, der weiß: nur eines hilft wirklich über eine Verzweiflung hinweg: die nächste. (Multiversalgeschichte, 1982, S. 72)

Das klingt – transzendentalbelletristisch super formuliert – plausibel, aber ist das wirklich so? Ist nicht anderer Trost noch viel wichtiger – der sich nicht aus der Teilung der Gewalten, sondern aus dem Vertrauen auf vertrauenswürdige Menschen oder sogar auf den einen verlässlichen Partner oder den einen tragfähigen göttlichen Urgrund meines Lebens ergibt? (Helmut Schütz)

 

Monomythie und Polymythie
Mythen sind Geschichten. Monomythie – aus dem Monotheismus kommend – bedeutet für jeden einzelnen und alle Menschen zusammen: sie dürfen nur eine einzige Geschichte haben und erzählen (ich bin deine einzige Geschichte, du sollst keine anderen Geschichten haben neben mir): hier ist der einzelne unfrei, mit Haut und Haaren dieser einen Alleingeschichte ausgeliefert. Polymythie – aus dem Polytheismus kommend – bedeutet für alle Menschen und jeden einzelnen: jeder darf viele verschiedene Geschichten haben und ist – divide et impera bzw. divide et fuge – ihnen gegenüber frei und ein einzelner durch Gewaltenteilung als Geschichtenteilung. Polymythie ist bekömmlich, Monomythie ist schlimm. (Polytheismus 2, 1984, S. 82)

 

Geschichten
Das Schicksalszufällige ist die Wirklichkeit unseres Lebens, weil wir Menschen stets „in Geschichten verstrickt“ sind (Wilhelm Schapp); denn – das hat vor allem Hermann Lübbe gezeigt – Handlungen werden dadurch zu Geschichten, daß ihnen etwas dazwischenkommt, passiert, widerfährt. Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges – etwas Schicksalszufälliges – einbricht: darum kann man Geschichten nicht planen, sondern muß sie erzählen. Unser Leben besteht aus diesen Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen, die die Geschichten sind: ebendarum überwiegt in ihm das Schicksalszufällige. (Zufällig, 1984, S. 129)

 

Drei Sorten von Geschichten
[Die Geisteswissenschaften] erzählen vor allem drei Sorten von Geschichten… c1. Sensibilisierungsgeschichten… [Farbigkeitsbedarf] …ästhetisch-autonome Kunst hat es vorher nie gegeben. … c2. Bewahrungsgeschichten… | [Vertrautheitsbedarf] … Keine Zeit hat so viel zerstört wie die Moderne; keine Zeit hat so viel bewahrt wie die Moderne: durch Entwicklung von Fertigkeiten, immer mehr Herkunft in die Zukunft mitzunehmen. … Darum entsteht … der historische Sinn und … der ökologische Sinn… c3. Orientierungsgeschichten… [Sinnbedarf] … Dabei allerdings geht es nicht nur um die Identifizierung mit Traditionen, sondern ebenso um die Distanzierung von Traditionen… (Unvermeidlichkeit, 1985, S. 105f.)

 

Wissenschaftsüblichkeiten
Die Wissenschaftstheorie … ist überwiegend gegen das Erzählen: sie empfiehlt eine wissenschaftstheoretische Schönheitsoperation, die aus den Geisteswissenschaften das Erzählen (also die Geisteswissenschaften) amputiert. Aber das, meine ich, spricht nicht gegen die erzählenden Wissenschaften, ganz im Gegenteil, es spricht gegen die Wissenschaftstheorie. Ich bin zur Zeit auch Standespolitiker des Standes der Philosophie und in dieser Eigenschaft selbstverständlich bereit, die Wissenschaftstheorie bis zu meinem letzten Blutstropfen zu verteidigen. Als Philosoph hingegen bin ich nur bereit, die Wissenschaftstheorie – die die Wissenschaftswirklichkeit selten zur Kenntnis nimmt und nicht zuletzt deswegen ein extrem blutarmes Geschäft ist – bis zu ihrem eigenen letzten Blutstropfen zu verteidigen. Ich meine, immer noch überzeugender als die Wissenschaftstheorie – die deren Surrogat ist – funktioniert auch heute die kooptative Selbstdefinition der Wissenschaften durch Wissenschaftsüblichkeiten: Wissenschaft ist das, was anerkannte Wissenschaftler als Wissenschaft anerkennen. (Unvermeidlichkeit, 1985, S. 197)

 

Orientierungsgeschichten
Orientierungsgeschichten orientieren wirklich, auch indem sie Geschichten sind, die nur teilweise Vergangenheit und teilweise auch noch Zukunft sind: man erfährt durch sie auch, wie es weitergehen könnte und sollte. (Moralistik, 1987, S. 110)

 

Wahrheitsfähigkeit
Wer, so wird weiterhin eingewandt, die Geisteswissenschaften nur als Geschichten erzählende Wissenschaften bestimmt, macht sie wahrheitsunfähig oder – so Jürgen Mittelstraß – verbannt zumindest das Argumentative aus ihnen. Dagegen meine ich: Geschichten sind wahrheitsfähig. Man kann mit Geschichten argumentieren, und die Geisteswissenschaften sind dort am interessantesten, wo sie mit Geschichten argumentieren. (Moralistik, 1987, S. 110)

 

Geschichte und Geschichten
Gegen die Geschichte hilft nur die Geschichte. … Ein Mensch muß viele Geschichten haben dürfen. Wer – menschlich – in der Geschichte bleiben will, muß also – scheint mir – nicht nur den traditionellen ontologischen Vorrang der Unveränderlichkeit mindern, sondern auch den traditionellen ontologischen Vorrang der Einheit. Das bedeutet: Die Geschichte muß … entsingularisiert, sie muß repluralisiert werden: Aus der einen Geschichte müssen wieder – und nun erst recht – die vielen Geschichten werden. (Universalgeschichte, 1992, S. 88)

 

Viele Wege zur Humanität
Es gibt … [meint Levi Strauss] … viele je eigene Wege zur Humanität. Und es gibt – füge ich hinzu – Humanität nur durch viele je eigene Wege. … Gegen das dicke Ende der revolutionär gewordenen Universalgeschichte kann die Menschlichkeit durch die Geschichte gerettet werden, aber nur durch jene Geschichte, die die vielen Geschichten sind. (Universalgeschichte, 1992, S. 89)

 

Pluralisierungsermöglichung
Bedeutet das … das Ende der Universalgeschichte? Ich meine: Das sollte nicht sein. Die Universalgeschichte ist zu Ende nur dann, wenn sie – für jeden Menschen und für alle Menschen zusammen – die einzige Geschichte sein will und keine anderen Geschichten neben sich duldet: denn justament dadurch wird sie zum Schrecken mit dickem Ende. Als eine Geschichte unter an|deren Geschichten aber ist sie unverzichtbar, weil die Herbeiführung von Universalem unverzichtbar ist: z. B. die Herbeiführung der Menschenrechte, die Rechte für alle Menschen sind, allerdings – nimmt man es genau – als rechtliche Garantien für alle Menschen, anders sein zu können als alle anderen Menschen. Gleichheit ist angstfreies Andersseindürfen für alle. Universalisierung ist also nur als Pluralisierungsermöglichung gerechtfertigt, nur als Buntheitsförderung. … Universalgeschichte ist nur als Ermöglichung des Pluralismus der Geschichten menschlich. (Universalgeschichte, 1992, S. 89f.)

 

Unreifer Historismus
[D]er reife deutsche Idealismus ist unreifer Historismus. Erst der reife Historismus sieht ein: die Menschen sind in Geschichten – in viele Geschichten – verstrickt; denn wir Menschen sind mehr als unsere Leistungen unsere Zufälle, mehr als unsere Handlungen unsere Widerfahrnisse. (Ehrenpromotion, 1994, S. 157)

 

Mythenpflicht der Wissenschaft
Die exakte Begriffssprache ist nicht die unüberbietbare Gestalt der Wissenschaftssprache. Das cartesische Programm der Terminologisierung und Formalisierung der Wissenschaften ist unzureichend. Keine Wissenschaft und keine Philosophie kommt aus ohne Bilder und Mythen: jede ist mythenpflichtig. Erlauben Sie mir, das salopp zu formulieren: Wie beim Grog gilt: Wasser darf, Zucker soll, Rum muß sein, so gilt bei der Philosophie: Formalisierung darf, Terminologie soll, Metaphorik muß sein; sonst nämlich lohnt es sich nicht: dort nicht das Trinken und hier nicht das Philosophieren. (Entlastung, 1996, S. 115)

 

Der Mensch ist seine Geschichten
Der Mensch ist mehr seine Widerfahrnisse als seine Leistungen. Er ist nicht nur das handelnde, sondern vor allem auch das leidende Wesen: darum ist er seine Geschichten; denn Geschichten sind Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. Mehr als durch seine Ziele ist er bestimmt durch seine Hinfälligkeiten: seine Mortalität limitiert seine Finalität; er ist nicht zur Vollendung, sondern „zum Tode“. Er lebt nicht primär auf etwas hin, sondern vor allem von etwas weg: der Mensch ist überwiegend nicht Zielstreber, sondern Defektflüchter. Er sammelt und steigert nicht nur Selektionsvorteile, sondern er macht vor allem Nachteile wett: er schreitet fort, indem er sich entlastet. Er eilt nicht von Sieg zu Sieg, sondern muß Niederlagen und Schwächen ausgleichen: der Mensch triumphiert nicht, sondern er kompensiert. (Stattdessen, 1999, S. 41f.)

 

Personalausweis
Menschen sind die, die…; und bei jedem von uns stehen für uns selber Geschichten, die wir erzählen, und sei es auch noch so kurz: Unsere kürzeste Kurzgeschichte ist unser Personalausweis; selbst eine Personalnummer ist eine verschlüsselte Erzählung. Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichten; wer auf seine Geschichten verzichtet, verzichtet auf sich selber. (Narrare, 1999, S. 60)

 

Amerikaloser Kolumbus – wolfloses Rotkäppchen
Geschichten müssen erzählt werden. Sie sind nicht prognostizierbar wie naturgesetzliche Abläufe oder wie geplante Handlungen, die zu Geschichten erst dann werden, wenn ihnen etwas dazwischenkommt. Solange ihnen nichts dazwischenkommt, sind sie voraussagbar, und es wäre witzlos, sie zu erzählen: Wenn Kolumbus Indien amerikalos erreicht hätte, wenn Rotkäppchen die Großmutter wolflos besucht hätte, wenn Odysseus ohne Zwischenfälle schnell nach Hause gekommen wäre, wären das keine – richtigen – Geschichten gewesen. (Narrare, 1999, S. 60)

 

Geschichten als Gemische
Geschichten sind Ablauf-Widerfahrnis-Gemische bzw. Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. (Narrare, 1999, S. 61)

 

Organe des Erzählens
Die moderne Welt ist nicht nur die Welt der rationalisierungsermöglichenden Neutralisierung der lebensweltlichen Geschichten, sondern sie ist auch die Welt ihrer Kompensationen, und zwar durch Organe für Geschichten, also gerade durch Organe des Erzählens. Ich nenne hier – ohne Vollständigkeitsanspruch – drei dieser Kompensationen. Spezifisch zur modernen Welt gehört:
a) die Ausbildung des historischen Sinns. …
b) der Siegeszug der erzählenden Kunst des Romans. …
c) die Entstehung und Entwicklung der Geisteswissenschaften, also der erzählenden Wissenschaften. … Als Organ für die Geschichten … antworten sie auf die Geschichtslosigkeit der modernen Welt. (Narrare, 1999, S. 61ff.)

 

Erzählende Wissenschaft
Aber dürfen denn Wissenschaften erzählen? Die Wissenschaftstheorie ist gegen das Erzählen. Aber das spricht nicht gegen das Erzählen, sondern gegen die Wissenschaftstheorie. Auch wenn diese moniert, daß, wer mit Geschichten argumentiert, das wissenschaftliche Soll an Eindeutigkeit unterbietet, so daß es in den Geisteswissenschaften zur Mehrdeutigkeit oder Vieldeutigkeit kommt, macht sie den Geisteswissenschaften einen falschen Einwand und übersieht: Eindeutigkeit – sieht man von den (freilich ganz wesentlichen) Hilfsoperationen ab: Datierung, Quellenkritik und dergleichen) – ist in den interpretierenden Geisteswissenschaften kein Ideal, das nicht erreicht wird, sondern eine Gefahr, der es zu entkommen gilt. Man muß merken, wogegen die Vieldeutigkeit nötig wurde und daß es Blut, Schweiß und Tränen gekostet hat, die Eindeutigkeit gerade loszuwerden. Denn die Geisteswissenschaften sind auch eine – späte – Antwort auf die Tödlichkeitserfahrung der konfessionellen Bürgerkriege, die hermeneutische Bürgerkriege waren; denn man schlug einander tot im Kampf um das eine absolut richtige Verständnis des einen absoluten Buchs, der Bibel, und späterhin der einen absoluten Geschichte. (Wissenschaftspluralismus, 2000, S. 132)

 

Wilhelm Schapp
Vor 50 Jahren – also 1953 – erschien von Wilhelm Schapp, dem Auricher Rechtsanwalt und Notar und zweiten philosophischen Promovenden von Edmund Husserl, als Spätwerk das Buch In Geschichten verstrickt, das – im Gegenzug gegen die Wesensphänomenologie der klassischen phänomenologischen Tradition – die Phänomenologie der Geschichten begründete. … als leibhaftig mir begegnendem Denker gehört Wilhelm Schapp zu den fünf oder sechs Philosophen, auf die ich immer wieder zurückkomme. (Geschichten, 2003, S. 54)

 

Sielrecht
Nicht zuletzt um fürs Philosophieren ökonomisch hinreichend abgesichert zu sein, war Schapp Jurist geworden. Er begann anwaltlich zu arbeiten und spezialisierte sich auf das im Bürgerlichen Gesetzbuch wegen seiner Kompliziertheit ausgeklammerte Sielrecht. Wenn die Siele zu viel Wasser führten und gaben, prozessierten die Bauern, wenn die Siele zu wenig Wasser führten und gaben, prozessierten die Schiffer. Die Sache schien Wohlhaben zu versprechen, doch dann kam der Erste Weltkrieg, die Inflation, der Zweite Weltkrieg: was als Übergangsphase in | die Philosophie geplant war, wurde lebenslange Berufsarbeit, und erst der Ruheständler Schapp konnte das machen, was er ursprünglich alsbald beruflich machen wollte: er konnte philosophieren. Und so erschien das Buch In Geschichten verstrickt, dessen 50. Erscheinungsjahr wir begehen, erst als Spätwerk, nämlich 1953, dem dann alsbald – im Jahr 1959 – die Philosophie der Geschichten folgte. (Geschichten, 2003, S. 56f.)

 

In Geschichten verstrickt
Wilhelm Schapps entscheidende These ist, ich wiederhole sie, diese: Die Menschen, das sind ihre Geschichten; darum ist – für alle „in Geschichten Verstrickten“, und das sind wir alle – das Erzählen von Geschichten unvermeidlich: narrare necesse est. (Geschichten, 2003, S. 60)

 

Wozudinge
Wir Menschen … erschließen die Welt zunächst primär durch „Wozudinge“; unsere Welt zeigt sich (um einen Ausdruck von Jost Trier zu gebrauchen) als „Wirk- und Notwelt“. Der theoretische Blick ist das Sekundäre: der Mensch ist – schon zunächst – durch Wozudinge in seine Wirk- und Notwelt „verstrickt“. (Geschichten, 2003, S. 60)

 

Eigengeschichten – Fremdgeschichten – Wirgeschichten
[D]ie Welt der Menschen ist nicht primär ihre Gegenstands- und Sachverhaltswelt, sondern die Welt jener Geschichten, in die sie „verstrickt“ und „mitverstrickt“ sind: nicht als „Fälle“, sondern als Eigengeschichten, Fremdgeschichten und Wirgeschichten. (Geschichten, 2003, S. 61)

 

„Der, der …“-Struktur oder: Dackel Adelzahn
Ich – der ich zuweilen etwas merkwürdige Gedankenspiele unternehme – habe seinerzeit, 1997, um mich nicht gleich an die Menschen heranzuwagen, meine entsprechenden Schapp-Überlegungen an einem Dackel (vorsichtshalber an einem Dackel: ich habe nie einen gehabt) unternommen: dieser Dackel, nennen wir ihn Adelzahn, ist weder Wissenschaftsobjekt noch Wissenschaftssubjekt, er unterliegt nicht dem ontologischen Substanz-Akzidens-Schema und ist also nicht Substanz als Akzidenzienchef z. B. mit kalter Nase, spitzem Schwanz und freitragend durchhängendem Bauch, sondern – das ist die Pointe – dieser Dackel Adelzahn ist | der, der Tante Rosalinde gebissen hat. Wenn man jetzt weitergeht – meint Schapp – zu den Menschen: sie sind natürlich nicht die, die Tante Rosalinde gebissen haben, aber – das ist Schapps Pointe – sie sind ihre Geschichten. Schapp – meine ich – unterstreicht beim Menschen die „der, der …“-Struktur: jeder Mensch ist „der, der …“ bzw. „die, die …“; und wer es dann genauerhin ist, das sagen immer nur seine Geschichten. Jeder Mensch ist sein Lebenslauf: ein Ensemble seiner Geschichten. (Geschichten, 2003, S. 61f.)

 

Sondergeschichten
Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten … betont zentral die Pluralität der Geschichten. … Man hat nicht nur eine Geschichte; man muß viele Geschichten haben dürfen: darauf kommt es an. Wer als Mensch – für sich selbst und zusammen mit allen anderen Menschen – nur eine einzige Geschichte haben darf, die singularisierte Totalgeschichte der Weltverbesserung und fortschreitenden Diesseitserlösung, an der jedermann unentwegt arbeiten muß und der er sich nicht in Sondergeschichten entziehen darf, der ist schlimm dran. (Geschichten, 2003, S. 62)

 

Dazwischengekommen
Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten betont, daß die Menschen – eben weil sie in Geschichten verstrickt sind – nicht primär Akteure sind; sie sind Wesen, bei denen Aktionen und Kontingenzen sich legieren, Handlungen und Zufälle sich mischen. Denn Geschichten, das sind: Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. Sie sind nicht ausschließlich naturgesetzliche Abläufe und nicht ausschließlich geplante Handlungen, weil sie zu Geschichten erst dann werden, wenn ihnen etwas dazwischenkommt. Meine Frau und ich haben, ich erwähnte es schon, 1960 geheiratet: das war eine echte Geschichte: wir sind einander dazwischengekommen. Einen Lebenslauf ohne Kontingenzen gibt es nicht: wir sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen. (Geschichten, 2003, S. 63)

 

Widerfahrnis
Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten betont darum, daß Geschichten – in die die Menschen verstrickt oder mitverstrickt sind – erzählt werden müssen, z. B. um die Geschichten fortzusetzen. … Erst wenn einem geregelten Ablauf oder einer geplanten Handlung ein unvorgesehenes Widerfahrnis widerfährt, müssen sie – als Geschichten – erzählt werden. Und dann können sie auch nur erzählt werden; denn in der Regel weiß man erst hinterher, ob es eine Geschichte ist. … Wir Menschen sind unsere Geschichten; Geschichten muß man erzählen; darum müssen wir Menschen erzählt werden. (Geschichten, 2003, S. 64)

 

History und story
Spezifisch zur modernen Welt gehört: … der Siegeszug der erzählenden Kunst des Romans. … Milan Kundera hat in seinem sehr schönen Essay Die Kunst des Romans von 1986 festgestellt: nicht nur die Realgeschichten expandieren, sondern auch die fiktiven Erzählungen; nicht nur die „history“ blüht modern, sondern insbesondere auch die „story“… Zur Erfolgsgeschichte der exakten europäischen Wissenschaften … gehört die – den „Geist der Theorie“ durch den individualistischen „Geist des Humors“ kompensierende – Parallelgeschichte der erzählenden Kunst des Romans, der … „europäischsten aller Künste“. (Geschichten, 2003, S. 67f.)

 

Hektisch und entspannt
Wir leben – meine ich – „von“ der besprochenen Welt und „in“ der erzählten Welt [Harald Weinrichs]; so daß wir in der „besprochenen Welt“ hektisch und schnell und in der „erzählten Welt“ entspannt und langsam leben. (Geschichten, 2003, S. 70)

 

Und einige Stichworte zur Hermeneutik

 

Intelligente Dummheit
Hermeneutik ist das Ändern dort, wo man nicht ändern kann… Dabei – vita brevis – ist der interpretatorische Loswerdensversuch des entlarvenden Interpretierens – die Ideologiekritik – stets nur begrenzt möglich: Jede globale Entlarvung wird bezahlt durch eine Regression des Entlarvers; die totalverdächtigende Kritik wird leicht zur sekundären Naivisierung: sozusagen zur Fortsetzung der Dummheit unter Verwendung der Intelligenz als Mittel. … Diese Art der Interpretation, die die Unmöglichkeit der Herkunftsvernichtung durch die Möglichkeit der Herkunftsdistanzierung kompensiert, nenne ich distanzierende Hermeneutik… (Hermeneutik, 1979, S. 123f.)

 

Altbausanierung im Reiche des Geistes
Hermeneutik ist das Festhalten dort, wo man nicht festhalten kann… dieses antiquarisierende Interpretieren ist … die Rettung der Verständlichkeit von Dingen und Texten in neuen Situationen (in sekundären Kontexten), an die sie sie anpaßt. Sie wirkt also konservatorisch: sozusagen als Altbausanierung im Reiche des Geistes. Diese Art der Interpretation, die den Verlust an primärer Verständlichkeit durch Wiederverständlichmachen kompensiert, nenne ich adaptierende Hermeneutik… (Hermeneutik, 1979, S. 126)

 

Sekundäre Weltoffenheit
[Wir] können … – interpretierend – heute sogar das noch wiedererinnern, was wir gar nicht vergessen haben, weil wir es überhaupt noch nicht kannten; und so gewinnen wir – hermeneutisch – selbst noch jene Paradiese zurück, aus denen wir niemals vertrieben wurden, weil wir nie in sie hineingeboren waren: wir erwerben – durch Hermeneutik – eine sekundäre Weltoffenheit. (Hermeneutik, 1979, S. 127)

 

Festhalten und Distanzieren
Hermeneutik ist die für Menschen lebensnotwendige Kunst, sich verstehend in Kontingenzen zurechtzufinden, die man festhalten und distanzieren muß, weil Wesen mit befristeter Lebenszeit sie nur begrenzt loswerden können… (Prinzipiell, 1981, S. 20)

 

Kreative – Operative – Rezeptive
Im gewaltenteiligen Reiche der Literatur – wo es die Gewalt des Autors gibt, die Kreative, und die Gewalt des Werkes, die Operative – kam … eine dritte Gewalt ins Spiel: das war die Stunde der Rezeptive…: als der Wille zur Vielfalt der Lektüren. Der rezeptionsgeschichtlich definierte Rezipient will Vieldeutigkeit… (Krise, 1981, S. 75)

 

Interpretieren statt Rechthaben
[S]olange – in bezug auf die Heilige Schrift – zwei Leser kontrovers behaupten: ich habe recht, mein Textverständnis ist die Wahrheit, und zwar – heilsnotwendig – so und nicht anders, kann es Hauen und Stechen geben. Das vermeidet die moderne lesende Wissenschaft, indem sie die absolute Kontroverse neutralisiert durch die Frage: Läßt sich dieser – und jeder – Text nicht doch auch noch anders verstehen und – falls das nicht ausreicht – noch einmal anders und immer wieder anders? So entschärft sie potentiell tödliche Auslegungskontroversen, indem sie aus der rechthaberischen die interpretierende Lektüre macht, bei der der Leser – notfalls ad libitum – mit sich reden läßt; und wer mit sich reden läßt, schlägt möglicherweise nicht mehr tot. (Neugier, 1984, S. 81)

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.