
Der November gilt als trüb und grau. Vielen schlägt die Stimmung dieses Monats aufs Gemüt, in dem sich von Allerheiligen bis zum Ewigkeitssonntag das Thema der Vergänglichkeit und des Sterbens aufdrängt. Lieber wäre es uns, es gäbe kein nasskaltes Wetter und keinen Tod. Doch es ist, als ob uns der November mit seinen Zumutungen an die Wahrheit des Satzes aus Psalm 90 erinnern möchte:
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Wegsehen nützt ja nichts. Wir werden älter, sind konfrontiert mit Abschied und Trauer, müssen selber sterben. Klug lebt, wer dennoch nicht am Sinn des Lebens verzweifelt, wer die Kostbarkeit gerade des vergänglichen Lebens erkennt. Weise ist, wer schätzt, was nicht selbstverständlich ist: dass es Menschen gibt, die mich lieben, dass ich ertrage, was nicht zu ändern ist, dass ich Traurigkeit zulasse, weil ich Trost annehmen kann.
Eine Klugheit, die unsere Sterblichkeit nicht ausklammern muss, ist für Christen in Christus begründet. Der Sohn Gottes kennt aus eigener Erfahrung, was wir durchleben und durchleiden, hat sogar den Tod durchschritten. In der Kapelle des Friedhofs auf dem Rodtberg, dessen 100-jähriges Bestehen die Stadt Gießen im Jahr 2003 feiert, fällt der Blick der Trauernden auf ein Fensterbild, das diese Glaubenserfahrung in genialer Weise abbildet. Der Künstler Claus Wallner stellt zwei Mal Christus dar, zuerst als den Toten, der vom Kreuz abgenommen und betrauert wird, doch dann – für Augen der vertrauenden Seele – als den Lebendigen, der zu den Toten hinabsteigt, um ihnen zu signalisieren: Sie sind nicht auf ewig verloren! Heute abend um 18 Uhr haben Sie Gelegenheit, dieses Bild im Rahmen einer Meditation mit Orgel- und Flötenmusik in besonderer Weise auf sich wirken zu lassen.
Gedanken zum Sonntag am Samstag, 1. November 2003, im Gießener Anzeiger von Pfarrer Helmut Schütz, Pfarrer der Evangelischen Paulusgemeinde Gießen.