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„Finsternis ist wie das Licht“

Nicht um mich kaputtzumachen, kommst du mir nahe, Gott, nicht um mich zu zerstören, nicht um mir die letzte Zuflucht zu nehmen. Nein, vielmehr willst du selbst meine Zuflucht sein; du willst Licht in meine Dunkelheit bringen, willst mich retten aus meinen Ängsten, so dass ich voller Vertrauen und Liebe leben kann.

Eine Frau im Profil, das Gesicht von den Haaren verdeckt, steht in der Finsternis
Kann das wahr sein: „Finsternis ist wie das Licht“? (Bild: Rondell MellingPixabay)

#predigtGottesdienst am Sonntag Invocavit, den 8. März 1992, um 9.00 Uhr in Heimersheim, um 10.00 Uhr in Albig, am Sonntag Reminiscere, den 15. März 1992, um 9.00 Uhr in Ensheim, um 10.00 Uhr in Flonheim, am Sonntag Oculi, den 22. März 1992, um 9.30 Uhr in der Landesnervenklinik Alzey

Herzlich willkommen heute im Gottesdienst am 1. Sonntag in der Passionszeit!

Zu meiner Person: ich bin Pfarrer Schütz und arbeite als Klinikseelsorger in der Landesnervenklinik und zum Teil auch im Rotkreuzkrankenhaus Alzey.

Im Dekanat Alzey findet ab morgen eine gemeinsame Bibelwoche statt, und da geht es in diesem Jahr um die Auslegung einer Reihe von Psalmen. Aus diesem Grund stelle ich auch im heutigen Gottesdienst einen Psalm in den Mittelpunkt, und zwar den Psalm 139, der mit den Worten beginnt: „Herr, du erforschest mich und kennest mich!“ Was löst das in uns für Empfindungen aus, wenn uns in diesem Psalm gesagt wird: Gott kennt uns, Gott sieht uns, wir stehen in seiner Hand? Ist das ängstigend oder tröstlich? Ist diese Hand Gottes bedrohlich für uns oder fühlen wir uns in ihr geborgen? Nach dem wahren, lebendigen Gott fragen wir in diesem Gottesdienst!

Lied 346, 1+10:

1) Die güldne Sonne voll Freud und Wonne bringt unsern Grenzen mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes, liebliches Licht. Mein Haupt und Glieder, die lagen darnieder; aber nun steh ich, bin munter und fröhlich, schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

10) Willst du mir geben, womit mein Leben ich kann ernähren, so lass mich hören allzeit im Herzen dies heilige Wort: „Gott ist das Größte, das Schönste und Beste, Gott ist das Süßte und Allergewisste, aus allen Schätzen der edelste Hort.“

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Worte des 22. Psalms sprechen von der Sehnsucht nach Gott, schreien nach seiner Nähe und Hilfe:

2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.

3 Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, / und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.

10 Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; / du ließest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter.

11 Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, / du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an.

12 Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; / denn es ist hier kein Helfer.

20 Aber du, HERR, sei nicht ferne; / meine Stärke, eile, mir zu helfen!

25 Denn Gott hat nicht verachtet noch verschmäht / das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen; / und als er zu ihm schrie, hörte er’s.

27 Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem HERRN fragen, werden ihn preisen; / euer Herz soll ewiglich leben.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Gott im Himmel, vielen Menschen bist Du fremd, vielleicht sogar immer wieder uns selbst, ein Gott, der weit weg ist, und wir sehnen uns doch nach Deiner Nähe. Andere Menschen meinen, Dich zu kennen, einen Gott, der über uns thront, aber sie leben in Angst vor Dir, vielleicht manchmal auch wir selbst; wenn wir uns fürchten vor Deinem strafenden Blick. Herr, erbarme Dich unser!

Nein, Gott, Du bist nicht weit weg! Du bist uns nahe wie unser Herzschlag und wie der Atem, der uns leben lässt. Du hast in Jesus unser Menschenschicksal auf der Erde geteilt! Nein, Gott, Du bist nicht zum Fürchten! Du schaust uns mit liebenden Augen an! Ehre sei Gott in der Höhe!

Gott, unser barmherziger Vater! Lass uns spüren, wie wohl uns Deine Nähe tut! Lass uns erfahren, wie freundlich Du bist, wie lieb Du uns hast – durch Deinen geliebten Sohn Jesus Christus, unseren Herrn. „Amen.“

Wir hören eine Lesung aus dem Buch Hiob 7. Diese Stelle ist sozusagen ein Gegenbild zum Psalm 139. Hiob glaubt an Gott, und doch wird ihm alles genommen – alle seine Kinder, sein ganzer Besitz; und schließlich wird er noch furchtbar krank. Hiob hört trotzdem nicht auf, an seinen Gott zu glauben und zu ihm zu beten, dabei nimmt er jedoch kein Blatt vor den Mund, er klagt sein Leid vor Gott in bitteren Worten, er betet sogar darum, Gott möchte doch wenigstens für kurze Zeit einmal wegschauen und ihn in Ruhe lassen:

4 Wenn ich mich niederlegte, sprach ich: Wann werde ich aufstehen? Bin ich aufgestanden, so wird mir’s lang bis zum Abend und mich quälte die Unruhe bis zur Dämmerung.

6 Meine Tage sind schneller dahingeflogen als ein Weberschiffchen und sind vergangen ohne Hoffnung.

7 Bedenke, dass mein Leben ein Hauch ist und meine Augen nicht wieder Gutes sehen werden.

8 Und kein lebendiges Auge wird mich mehr schauen; sehen deine Augen nach mir, so bin ich nicht mehr.

11 Darum will auch ich meinem Munde nicht wehren. Ich will reden in der Angst meines Herzens und will klagen in der Betrübnis meiner Seele.

12 Bin ich denn das Meer oder der Drache, dass du eine Wache gegen mich aufstellst?

13 Wenn ich dachte, mein Bett soll mich trösten, mein Lager soll mir meinen Jammer erleichtern,

14 so erschrecktest du mich mit Träumen und machtest mir Grauen durch Gesichte,

15 dass ich mir wünschte, erwürgt zu sein, und den Tod lieber hätte als meine Schmerzen.

16 Ich vergehe! Ich leb‘ ja nicht ewig. Lass ab von mir, denn meine Tage sind nur noch ein Hauch.

17 Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest und dich um ihn bekümmerst?

18 Jeden Morgen suchst du ihn heim und prüfst ihn alle Stunden.

19 Warum blickst du nicht einmal von mir weg und lässt mir keinen Atemzug Ruhe?

Selig sind, die Gottes Wort hören und sich von ihm anrühren lassen. Halleluja! „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Bevor wir in der Predigt den Psalm 139 auf uns wirken lassen, möchte ich mit Ihnen ein neueres Lied singen, das uns noch ein wenig auf die Fragen des Psalms einstimmen mag: Wie stehen wir da vor Gott – als ängstliche oder als zuversichtliche Menschen, ausgehungert nach Lebenserfüllung oder zufrieden, verzweifelt wie Hiob oder voller Vertrauen?

In Ängsten die einen, und die andern leben
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Zur Predigt hören wir den Psalm 139:

1 HERR, du erforschest mich / und kennest mich.

2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; / du verstehst meine Gedanken von ferne.

3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich / und siehst alle meine Wege.

4 Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, / das du, HERR, nicht schon wüsstest.

5 Von allen Seiten umgibst du mich / und hältst deine Hand über mir.

6 Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, / ich kann sie nicht begreifen.

7 Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, / und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?

8 Führe ich gen Himmel, so bist du da; / bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

9 Nähme ich Flügel der Morgenröte / und bliebe am äußersten Meer,

10 so würde auch dort deine Hand mich führen / und deine Rechte mich halten.

11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken / und Nacht statt Licht um mich sein -,

12 so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, / und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.

13 Denn du hast meine Nieren bereitet / und hast mich gebildet im Mutterleibe.

14 Ich danke dir dafür, / dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; / das erkennt meine Seele.

15 Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, / als ich gebildet wurde unten in der Erde.

16 Deine Augen sahen mich, / als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, / die noch werden sollten und von denen keiner da war.

17 Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! / Wie ist ihre Summe so groß!

18 Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: / Am Ende bin ich noch immer bei dir.

19 Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten! / Dass doch die Blutgierigen von mir wichen!

20 Denn sie reden von dir lästerlich, / und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut.

21 Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, / und verabscheuen, die sich gegen dich erheben?

22 Ich hasse sie mit ganzem Ernst; / sie sind mir zu Feinden geworden.

23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; / prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine.

24 Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, / und leite mich auf ewigem Wege.

Liebe Gemeinde, ja, was wäre denn nun besser für uns – wenn Gott uns wirklich immer sieht und alles von uns weiß und ewig um uns und sogar in uns ist? Oder wenn Gott uns doch auch einmal in Ruhe ließe?

Wir lasen diesen Psalm im Bibelkreis in der Nervenklinik, und die Empfindungen der Patienten waren geteilt. Einige fanden es herrlich, sich in Gott so richtig geborgen zu fühlen, zu spüren, dass seine Liebe uns immer umgibt. Andere hätten das auch gern so gefühlt, aber sie konnten es nicht: stattdessen empfanden sie eine tiefsitzende Ur-Angst vor dem Gott, der alles sieht, vor allem die Fehler und Sünden der Menschen. Von Kindheit an waren sie daran gewöhnt worden, sich vor Gott immer nur schuldig zu fühlen.

Wir haben in den Texten dieses Gottesdienstes vorhin schon gehört, dass schon in der Bibel in ganz unterschiedlichem Ton von Gott und zu Gott geredet werden konnte. Den Psalm 139 durchzieht ein eher vertrauensvoller Ton. Behalten wir aber ruhig die Frage im Hinterkopf, ob dieser Psalm so einfach hinweggeht über die Sorgen und das Leid der Menschen, ob es sich hier also sozusagen um einen Schönwetterpsalm handelt, oder ob dieses Vertrauen zu Gott sich auch in schweren Stunden unseres Lebens bewährt.

Ich möchte Sie nun einfach einladen, mit mir dem Verlauf des Psalms zu folgen, ihn mitzubeten, ihm nachzusinnen, ihn mitzuempfinden.

„HERR, du erforschest mich“, so beginne ich zu beten, „und“ zugleich „kennst“ du „mich“ schon. Komisch: Sonst bin ich als Mensch, als Christ, als Pfarrer der, der versucht, nach dir, nach Gott zu suchen und zu forschen. Nun erfahre ich: Du hast schon längst ein Auge auf mich geworfen, ich bin dir vertraut genug, dass du mich kennst, und zugleich bin ich dir auch noch fremd genug, dass du neugierig auf mich bist. Du bist interessiert an mir, wie ein Mensch, der sich in mich verliebt hat. Und du willst nicht nur etwas wissen von den wichtigen Entscheidungen oder von höchst ungewöhnlichen Ereignissen in meinem Leben, sondern du nimmst teil an meinem ganz normalen Alltag: „Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es“.

Und du bist einer, der Verständnis für mich hat, ohne dass ich mich ausführlich erklären oder gar rechtfertigen muss: „du verstehst meine Gedanken von ferne“. Ganz gleich, ob ich aktiv oder passiv bin, ob ich etwas mache oder ob ich mich ausruhe, du bist immer der, der mir am nächsten ist. Was ich tue oder lasse, ist dir nicht verborgen, ohne dass du dich groß abmühen müsstest, mich zu verfolgen: „Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege“. Denn du bist nicht auf äußere Wahrnehmungen angewiesen, sondern du bist Zeuge, wie meine innersten Gedanken sich formen, noch bevor ich sie ausspreche: „siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüsstest“.

Bedrängst du mich mit all dem? Willst du mich kontrollieren, wie die Gestapo oder die Stasi, wie irgendein Geheimdienst? Nein, du breitest eine schützende Nähe und Wärme um mich aus, Geborgenheit schenkst du mir: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“.

Aber wenn ich das ausspreche, muss ich zugleich fragen: Wie kann ich mir das vorstellen? Gibt es wirklich eine solche unendlich große liebende Kraft, die das ganze Weltall erfüllt und die dennoch an solchen winzig kleinen Menschenwesen auf einem kleinen Planeten interessiert ist – und dann noch in der Lage ist, sich in jeden einzelnen dieser Milliarden von Menschen hineinzuversetzen? „Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen“. Und doch ist das alles wahr, ich kann dieser Erkenntnis, ich kann dir selbst, Gott, gar nicht ausweichen!

Im selben Augenblick muss ich an die vielen Menschen denken, die sich vor dir fürchten. Manchmal gehöre ich selbst dazu, dann möchte ich am liebsten weglaufen vor dir, wie damals der Prophet Jona, der weit übers Meer fahren wollte, bis ans Ende der Welt, um etwas nicht tun zu müssen, was du von mir willst.

Aber dann wird mir klar, dass es einfach keinen Ort in der Welt gibt, wohin ich vor dir fliehen könnte. „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?“ Deine Gedanken durchdringen ja meinen eigenen Geist, wohin auch immer ich gehe; deine Augen folgen mir, wohin auch immer ich vor dir fliehen wollte.

„Führe ich gen Himmel, so bist du da“; ja, heute im Zeitalter der Erforschung des Weltraums können wir sagen, dass wir dir auch mit Raketen nicht entkommen können; die Weiten des Weltalls mit ihren Milliarden von Sternsystemen sind uns zwar fremd, dir aber über Milliarden von Jahren hin von den Tagen des Urknalls an vertraut. Doch auch die Welt der Toten, die uns völlig unvorstellbare Welt jenseits dieser bekannten, wahrnehmbaren Wirklichkeit, sie liegt nicht außerhalb deines Machtbereichs: „Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da“.

Nicht einmal mit Hilfe von märchenhafter Zauberei, nicht einmal mit den Mitteln meiner Phantasie könnte ich dir entkommen; und selbst am Ende der Welt angelangt, müsste ich feststellen: Warum bin ich überhaupt vor dir weggelaufen? Du willst mir ja gar nichts tun, du bist ja gar nicht mein grausamer Verfolger, du gehst mir einfach nach, wie Vater oder Mutter, die sich Sorgen um ihr Kind machen: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten“.

Und wenn ich voller Verzweiflung bin, keinen Ausweg mehr sehe? Jetzt kommen wir den Erfahrungen schon nahe, die wir aus dem Munde des Hiob hörten. „Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein“ – ja was dann? Vielleicht sehe ich lange Zeit wirklich nichts anderes als Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit. Vielleicht kann ich nichts anderes tun, als aushalten, abwarten, ausharren. Vielleicht finde ich auch einen Menschen, der mit mir durch diese Dunkelheit geht, dem ich mich anvertrauen kann. Und irgendwann am Ende eines solchen Weges mag ich dann die paradoxe Erfahrung machen: „Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein -, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht“. Hiob hat das auch am Ende seiner Klage erfahren: Was ausweglos schien, war doch nicht ohne Hoffnung. Was finster war, ist hell erleuchtet worden. Und auch unsere Patienten im Bibelkreis wussten von solchen Erfahrungen zu berichten, wie manchmal mitten im seelischen Elend ein Stückchen Hoffnung aufblitzte, etwa durch ein Gespräch mit einem lieben Menschen, durch eine Aufmerksamkeit, durch eine plötzlich Aufhellung des Gemüts.

Nicht um mich kaputtzumachen, kommst du mir also nahe, Gott, nicht um mich zu zerstören, nicht um mir die letzte Zuflucht zu nehmen. Nein, vielmehr willst du selbst meine Zuflucht sein; du willst Licht in meine Dunkelheit bringen, willst mich retten aus all meinen Ängsten, so dass ich voller Vertrauen und Liebe leben kann.

An dieser Stelle möchte ich die Predigt einmal unterbrechen und mit Ihnen aus dem Lied 345 die Strophen 5 und 6 singen:

5) Führe mich, o Herr, und leite meinen Gang nach deinem Wort; sei und bleibe du auch heute mein Beschützer und mein Hort. Nirgends als von dir allein kann ich recht bewahret sein.

6) Meinen Leib und meine Seele samt den Sinnen und Verstand, großer Gott, ich dir befehle unter deine starke Hand. Herr, mein Schild, mein Ehr und Ruhm, nimm mich auf, dein Eigentum.

Wir betrachten nun die zweite Hälfte des Psalms, liebe Gemeinde. Die Frage taucht auf: woher, Gott, kennst du mich eigentlich so genau? Das liegt eigentlich auf der Hand. Du bist ja der, der das große Weltall ins Leben gerufen hat, alle die Wunder der Schöpfung. Deshalb sind auch wir Menschen dir vertraut, denn wir sind ja hervorgegangen aus der Evolution deiner Schöpfung.

Ja, „du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe“, und darum sind dir von Ewigkeit her die tiefsten Empfindungen vertraut, zu denen ich fähig bin. Die Nieren oder überhaupt die Eingeweide, sie waren für das Volk Israel der Sitz der innersten Gefühle. Wir sprechen ja auch heutzutage manchmal davon: Das fühle ich im Bauch, das tue ich aus dem Bauch heraus. Das geht mir an die Nieren.

Gibt es nun etwas, für das wir Gott mehr loben könnten als für das Wunder, dass wir selbst auf der Welt sind? Gibt es etwas Wunderbareres, als dass es dich gibt, dich, diesen Gott, der den Plan hatte, dass es mich gibt, dass es jeden einzelnen von uns gibt? „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele“. Das größte Wunder der Schöpfung, das ich selber empfinden kann, bin eigentlich ich selbst, das können wir alle mit den Worten unseres Psalms von uns sagen. Und dieses Wunder ist nicht abhängig von der Leistungsfähigkeit oder von der sichtbaren Bedeutung eines Menschen. Jeder einzelne von uns ist in den Augen Gottes wunderbar: der Gesunde und der Kranke, der Behinderte genau wie der Nichtbehinderte, denn von jedem heißt es: „Du, Gott, hast meine Nieren bereitet“ – jeder ist ein fühlendes Wesen, wie verschüttet auch immer die Sehnsucht nach Liebe sein mag, und jeder ist dazu geboren, irgendwann einmal in seinem Leben auch sich selbst liebhaben zu können.

Dass ich „wunderbar gemacht bin“, hängt übrigens auch nicht nur von meinen Eltern ab, oder ob ich zufällig weiß oder schwarz, arm oder reich, in Europa oder in Afrika geboren bin. Ich bin nicht nur ein Kind meiner Mutter und meines Vaters; ich bin ihnen zwar anvertraut, aber ich gehöre ihnen nicht. Ich bin zugleich ein Kind der Erde, von Erde genommen, für meine eigenen Aufgaben auf dieser Erde geschaffen, bis ich wieder zu Erde werden soll: „Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde“. Und indem ich ein Kind dieser Erde bin, gebunden an irdische Bedingungen, die mich oft auch einengen, belasten, unter Druck setzen, bin ich zugleich auch ein Kind des Himmels, dein Kind, Gottes Kind: „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war“. Sollte ich mich diesem Gott nicht anvertrauen können, der mich so gut kennt, der mich länger kennt, als ich selbst mich kenne?

Lasst uns nun noch einmal ein wenig innehalten im Gang der Predigt und ein Lied singen, das dieses Thema aufgreift – wie Gott uns Menschen wunderbar geschaffen hat, das Lied 473, 1+5+6:

1) Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht, die Weisheit deiner Wege, die Liebe, die für alle wacht, anbetend überlege, so weiß ich, von Bewunderung voll, nicht, wie ich dich erheben soll, mein Gott, mein Herr und Vater.

5) Der Mensch, ein Leib, den deine Hand so wunderbar bereitet, der Mensch, ein Geist, den sein Verstand dich zu erkennen leitet, der Mensch, der Schöpfung Ruhm und Preis, ist sich ein täglicher Beweis von deiner Güt und Größe.

Liebe Gemeinde, ob Sie sich nun fragen: Ist das nicht alles doch etwas zu idyllisch gesehen? Kann denn ein behinderter oder seelisch wie am Boden zerstörter Mensch ernsthaft von sich sagen: „Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin?“ Hilft es uns im Alltag weiter, wenn wir wissen: Gott hat uns so gewollt, Gott liebt uns?

Auch im Psalm wird nicht geleugnet, dass Gott auch immer wieder der fremde Gott ist, den man gar nicht so leicht verstehen kann, dessen Gedanken weiter, tiefer und höher sind als all unsere Vernunft: „Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß! Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Am Ende bin ich noch immer bei dir“. Das klingt fast so, als wolle sich der Beter des Nachts vor dem Einschlafen noch einmal alle Gedanken Gottes vor Augen stellen, aber dann wird er nicht fertig damit und schläft unterdessen ein; aber beim Aufwachen ist er immer noch bei Gott.

Und dann verändert sich plötzlich der Ton des Psalms: „Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten! Dass doch die Blutgierigen von mir wichen!“ Kann ich mich auch in diese Töne einfühlen? Kann ich Menschen den Tod wünschen?

Und wer mag denn hier überhaupt gemeint sein? Wer sind die Gottlosen? Sind es Menschen, die sich Atheisten nennen? die mit der Kirche Schwierigkeiten haben? oder die einfach mit frommen Sprüchen nichts anfangen können? Das sind ja oft sehr nachdenkliche Menschen, die ich ernst nehme, mit denen ich mich gern auseinandersetze, und denen ich nichts Böses wünsche.

Aber der Text verdeutlicht selbst, wen das Wort von den Gottlosen hier meint: die „Blutgierigen“. Es sind Menschen, die – weil sie selber ohne Vertrauen auf Gott leben – anderen Menschen das Blut absaugen, die niemandem etwas Glück gönnen können, die nicht einmal davor zurückschrecken, ein Kind zu missbrauchen, einen behinderten Menschen zu kränken, einem seelisch Belasteten den letzten Lebensmut zu nehmen. Letzten Endes sind es Menschen, die andern Menschen einreden: Dein Leben ist nichts wert. Du hast kein Recht zu leben. Und dein Glaube an Gott hilft dir auch nicht. Für dich gibt es keine Rettung. Ich kenne solche Menschen, ich höre von ihnen in Gesprächen mit Patienten. Ich höre von Ehemännern, die ihrer seelisch kranken Frau zu verstehen geben: Ich liebe dich nicht mehr, du kannst von mir kein liebes Wort erwarten, aber wenn du dich anstrengst und wieder die Hausarbeit machst, kannst du bei mir bleiben. Ich höre von Vätern, die die Sehnsucht ihrer Töchter nach der Nähe des Vaters für ihre eigene sexuelle Befriedigung ausnutzen. Ich höre von Müttern, die ihr Kind aus nichtigem Anlass hart bestrafen, und die dann, wenn das Kind weint, noch brutaler zuschlagen: Heul nicht, Weinen ist eine Schwäche! Ich höre von Patienten, die trotz all solcher Erfahrungen nicht etwa nur Hass auf ihre Angehörigen empfinden, sondern sich immer noch vergeblich nach der Liebe dieser Menschen sehnen. Und sie fühlen sich selbst schuldig für das, was andere ihnen angetan haben: Ich muss böse sein, sonst hätte ich das ja nicht verdient.

Ich muss sagen, dass in solchen Fällen in mir selber Zorn aufsteigt. „Blutgierige Menschen“, das sind nicht nur die Kriegstreiber und Folterknechte in Unterdrückerstaaten, nein, sie leben unter uns, sprechen Menschen ihr ureigenes Recht zum Leben ab. Und sie stehen vollkommen gegen den Willen Gottes, nicht nur, wenn sie sich offen gegen Gott und die Kirche aussprechen, nein, auch dann, wenn sie scheinbar so tun, als seien sie mit Gott im Bunde. „Ich schlage mein Kind, weil es Zucht und Ordnung lernen muss“, sagen manche, die ihr Kind in blinder Wut halbtot prügeln. Und der Leiter einer frommen Einrichtung sagte mir ins Gesicht: „Meine Mutter ist selbst schuld an ihrer Depression; wenn sie mehr gebetet hätte, wäre sie nicht krank geworden“. Wer so redet, tut nur fromm und missbraucht in Wahrheit Gottes Namen, er lästert Gott.

Ganz gleich, um welche Sorte blutgieriger Menschen es auch geht, um atheistische oder scheinheilige, beide stellen Gott im Grunde hin als einen im Grunde grausamen oder völlig belanglosen Gott: „Sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut. Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden“.

Für uns Christen sind solche Töne seit Jesu Mahnung zur Feindesliebe ungewohnt geworden. Aber kann man Feinde überhaupt lieben, wenn man gar nicht weiß und spürt, dass man welche hat? Wenn Zorn und Hass in mir drin sind, muss ich diese Gefühle nicht erst einmal in mir spüren und zulassen, vielleicht auch mit Worten oder irgendwie zeichenhaft ausdrücken, bevor ich sie überwinden kann? Feindesliebe heißt ja nicht: Du darfst keinen Hass empfinden, du darfst keinen Zorn empfinden. Feindesliebe heißt: Begegne dem, der wirklich und wahrhaftig ein Feind ist, dennoch nicht mit seinen eigenen Waffen. Lass dich nicht von Wut und Hass zu unüberlegten Handlungen hinreißen. Zeige deinem Feind, dass du sein Verhalten nicht akzeptierst! Erst dann kann unter Umständen auch der Weg zur Versöhnung frei werden!

Es macht Sinn, dass an dieser Stelle das Psalmgebet zurückfindet zu den Anfangsworten. Diesmal wird der Ton noch verbindlicher, bittender: ja wirklich, Gott, ich will etwas von dir, ich fühle mich in dir geborgen, ich lasse mir von keinem Menschen dieses Vertrauen nehmen, und ich will auch wissen, ob ich mit meinen Gedanken, Gefühlen und Handlungen auf dem richtigen Weg bin: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege“. Ein solches Vertrauen zu Gott kann man auch bewahren, wenn man einen langen Weg der Klage zurücklegt – so schildert es das Hiobbuch. Gott hält uns auch in Bedrängnissen mit seiner Liebe fest. Er ist kein Gott, der uns Angst macht, sondern der uns hilft, durch neues Vertrauen unsere Urangst zu überwinden. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Aus dem Vertrauenslied 250 singen wir die Strophen 1-2 und 11-12:

1) Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich; sooft ich ruf und bete, weicht alles hinter sich. Hab ich das Haupt zum Freunde und bin geliebt bei Gott, was kann mir tun der Feinde und Widersacher Rott?

2) Nun weiß und glaub ich feste, ich rühms auch ohne Scheu, dass Gott, der Höchst und Beste, mein Freund und Vater sei und dass in allen Fällen er mir zur Rechten steh und dämpfe Sturm und Wellen und was mir bringet Weh.

Barmherziger Gott, guter himmlischer Vater! Schenke uns das Vertrauen zu dir, damit wir leben können! Reiß uns aus unserer Angst heraus, damit wir nicht mehr fliehen müssen, nicht vor dir und nicht vor der Wirklichkeit mit ihren Herausforderungen. Wir bitten für alle, die sich von dir geängstigt und gestraft fühlen; lass sie spüren, vielleicht auch durch unsere Hilfe, dass du gütig bist und nicht grausam, dass du gerade den Mühseligen und Beladen nahe bist, dass du jeden Verzweifelten aufrichten willst! Lass uns Ruhe finden in dir, damit wir zuversichtlich leben und unserer Verantwortung gerecht werden. Amen.

Alles, was uns heute bewegt, schließen wir im Gebet Jesu zusammen:

Vater unser

Zum Schluss singen wir noch einmal ein Lied zur Gitarre, ein vielleicht manchen bekanntes Lied, in dem das Vertrauen des Psalms 139 gut aufgenommen wird: Er hält die ganze Welt in der Hand!

Er hält die ganze Welt in der Hand (3 x), er hält die Welt in seiner Hand.

Er hält die Sonne und den Mond in der Hand, er hält den Wind und den Regen in der Hand, er hält die Erde und das Meer in der Hand…

Er hält die Blumen und die Bäume in der Hand, er hält die Vögel und die Fische in der Hand, er hält die Hasen und die Hunde in der Hand…

Er hält die vielen, vielen Menschen in der Hand, er hält die Schwarzen und die Weißen in der Hand, er hält die Kranken und Gesunden in der Hand…

Er hält die Armen und die Reichen in der Hand, er hält die Bösen und die Guten in der Hand, er hält die Kleinen und die Großen in der Hand…

Er hält das winzigkleine Baby in der Hand, er hält auch mich und dich in der Hand, er hält uns alle miteinander in der Hand, er hält die Welt in seiner Hand.

Abkündigungen

Und nun lasst uns mit Gottes Segen in den Sonntag und in die neue Woche gehen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

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