Gutmensch

Zur Einstimmung ein Goliath-Cartoon mit freundlicher Genehmigung von Thomas Plaßmann (veröffentlicht am 9.7.2007 in der Frankfurter Rundschau, S. 12). Weitere Cartoons und Comic Strips von Thomas Plaßmann sind auf www.thomasplassmann.de zu finden.
Passend zum Beitrag ein Goliath-Cartoon mit freundlicher Genehmigung von Thomas Plaßmann (veröffentlicht am 9.7.2007 in der Frankfurter Rundschau, S. 12). Weitere Cartoons und Comic Strips von Thomas Plaßmann sind auf www.thomasplassmann.de zu finden.

Ich beginne diesen Vortrag mit drei grundlegenden Bemerkungen – jedenfalls grundlegend für mich und für das, was ich mit diesem Vortrag will. In allen drei Fällen handelt es sich um Eindrücke aus der aktuellen politischen Diskussion, die jeder in den Medien nachvollziehen kann.

1. Vom Kantschen „Einfaltspinsel“ zum Westerwelle’schen „Gutmenschen“

2. „Moralist gegen Ökonom“

3. Kirche und Staat oder: Soziallehre vs. Kuschelchristentum.

Der kategorische Imperativ der Sozialpolitik

1. Vom Kantschen „Einfaltspinsel“ zum Westerwelle’schen „Gutmenschen“

Immanuel Kant schreibt in seiner frühen Moralphilosophie (60er Jahre des 18. Jahrhunderts) sinngemäß etwa so: „In der bürgerlichen Gesellschaft sind Ränke und falsche Kunstgriffe allmählich zur gewöhnlichen Maxime der menschlichen Verhaltensweise geworden und haben das Zusammenleben zwischen ‚Betrügern‘ (Ränkeschmieden) und dem ‚guten Mann‘ für letzteren fast unerträglich gemacht. Jener ‚gute Mann‘ gilt den ‚Schelmen und Ganoven‘ – also den Betrügern – nur noch als Einfaltspinsel.“

Kant wird seine Moralphilosophie 20 Jahre später entschieden systematisieren: aber in diesem Sinne. Davon aber soll hier nicht die Rede sein. Nur von der „Schwundstufe des Liberalismus“ und dem Verhältnis zwischen politischer Freiheit und schrankenloser Willkür der Privatisierung will ich sprechen. Wo ist der Zusammenhang zwischen Moralphilosophie und Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts? Genau da, wo Kant ihn sieht und beschreibt: Wo Freiheit die der (modernen) „Betrüger“ ist, also die schrankenlose des Kapitalverkehrs, sind „Ränke und Kunstgriffe“ eben zu einer allgemeinen Maxime auch einer modernen Gesellschaft geworden. Faktisch leiden jene darunter, denen Solidarität nicht mehr geboten wird, intellektuell die verächtlich „Gutmenschen“ genannten Mitbürger/innen.

Neulich war ein Artikel in der FR zu diesem Thema. Und da erinnere ich mich an ein Zitat von Westerwelle: „Gutmenschen gehören nicht in die Politik, sondern in das Theater“. Genau das ist es. Kant kritisiert diese Einstellung zu Menschen mit Gesinnungs- und Verantwortungsethik – bitte nicht gegeneinander ausspielen.

Übrigens: das oben stehende Zitat Kants steht in seiner Schrift: „Versuch über Krankheiten des Kopfes“ – soll ich weiter reden? Ja: noch soviel: setzen wir an die Stelle des Theaters von Westerwelle das Schicksal, das krankhaften Einfaltspinseln droht: die Psychiatrie, so haben wir es. Nein, jene Einfaltspinsel und „Gutmenschen“ gehören vor dem Hintergrund dieses seltsamen, verderbten Freiheitsbegriffs in die Politik, die andern in das Theater. Übrigens gibt es ja offenbar auch in der CDU solche Einfaltspinsel, die CDA (Christlich Demokratische Arbeitnehmerschaft), die sich erlaubt hat, ein Pflegeversicherungsmodell vorzuschlagen, das durchaus den „solidarischen Bürger“ und nicht den „egoistischen Bourgeois“ in den Mittelpunkt stellt. Müssen die jetzt auch ins Theater?

2. „Moralist gegen Ökonom“

Ich beschäftigte mich ein wenig und am Rand in diesen Ausführungen auch mit der Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“. So weit ich sehe, ist es dieser Initiative ein wichtiges Anliegen, die Hoheit über Begriffsdeutungen zu bekommen. Wer über diese verfügt, kann – man unterschätze dies nicht – sprachlich beliebig manipulieren. Und Metaphern etwa, aber auch vorsichtig direkte Sprache, sind ein sehr beliebtes Mittel, Politik zu machen und sich gleichzeitig zu decken.

Zur Sache: ein Beispiel für die Hoheit über Begriffe ist das Gegensatzpaar „Moral“ und „Ökonomie“. Jemandem, der den Primat der Wirtschaft für schädlich hält als dominante Konstante einer Gesellschaftspolitik, wird schon gerne das abschätzig gemeinte Wort „Moral“ oder „Moralist“ entgegen gehalten, zuweilen sogar (in manchen Hinweisen der bereits im „Netzwerk“ sich findenden Zeitungen) begegnet dies in der Form „moralinsauer“ – dieses eine Ansicht, Theorie oder ganze Lebenseinstellung mit einem Schlag lächerlich machende Wort versenkt die Kritik am Bestehenden in den Sumpf des gesellschaftlich Minderwertigen. Wollen wir da wirklich mittun? Jemand, der z. B. völlig richtig mikroökonomisch auf die Zusammenhänge zwischen Produktivität und Lohnhöhe hinweist, ist noch kein „Nurökonom“ ohne jede Moral, und jemand, der möglicherweise makroökonomisch weiß, dass Lohnhöhen nicht nur im Betrieb, sondern z. B. auch gesellschaftspolitisch oder wenigstens eben volkswirtschaftlich Auswirkungen haben und vor allem eben im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess bedacht werden wollen, ist noch kein „Nichtökonom“. Im Übrigen werden beide Positionen auch von ethischen Grundüberzeugen getragen, im mikroökonomischen Fall wohl die Position des Utilitarismus, im andern geht es schon prinzipieller zu.

3. Kirche und Staat oder: Soziallehre vs. Kuschelchristentum

Dabei ist die Quelle meiner Überlegungen diesmal die FAZ, vom 21.6.07. Ich fasse mich kurz: Überschrift dort: „Islam rechtlich nicht gleichstellen“ – auf der ersten Seite – also bedeutsam. Inhaltlich geht es mir aber hier um die Aussage von Herrn Papier, BVG (Bundesverfassungsgericht), der das Christentum als Basis unserer Wertevorstellungen und Einstellungen im positiven Sinne beschreibt und ihnen, diesen Wertevorstellungen, „überragende Prägekraft“ zubilligt. Nun denn: diese Gesellschaft und ihr Wertesystem sind – dies scheint evident – geprägt von einem „Neo-Neoliberalismus“, der nicht einmal die einfachste Zuwendung – ausweislich der sog. Pflegereform oder der Mindestlohndebatte – zu den „geringsten Brüdern“ (Neues Testament) fertig bringt. Geprägt auch von deutlicher Orientierung an einem seelenlosen Kapitalismus, etwa so ausgedrückt: „Eine Wirtschaftsordnung, welche die Arbeit lediglich als Produktionsmittel behandelt, verletzt die Würde des Menschen. Das spekulative Finanzkapital umkreist den Erdball ohne Beziehung zur Wertschöpfung und realen Gütern, getrieben lediglich von spekulativem Gewinn. Die Gewinnchancen sind offenbar am größten, je mehr Arbeitnehmer entlassen werden. Eine Wirtschaftsordnung, die Entlassungen regelmäßig mit Gewinnsteigerungen prämiert, ist ein Schlag in das Gesicht jeglicher Vernunft, die sich auf Humanität beruft. Sie wird keinen Bestand haben…“ (Norbert Blüm). Dies sei ein Verstoß gegen die „christliche Soziallehre“.

Also meine Herren Lehmann (der war auch beteiligt – der Mainzer Bischof) und Papier: welches Christentum meinen Sie nun? Dasjenige, das auch schon einmal Waffen gesegnet hat und seine Unterstützung mit dem Schlagwort „Helm ab zum Gebet“ zum Ausdruck gebracht hat – auch das war von hoher Prägekraft – oder das andere, das von Herrn Blüm und mir, dem gesellschaftlich eher unmaßgeblichen Kirchenvorsteher einer evangelischen Kirchengemeinde in Gießen? Offenbar wenigstens dasjenige, das, da haben die Herren ja Recht, unsere moderne Gesellschaft „überragend geprägt“ hat. Denn wenn die Gesellschaft ist wie sie ist und Christentum diese Prägekraft hat, was folgt daraus?

Von den Gutmenschen und den Moralisten handelt dieser Vortrag ganz zentral. Und er handelt vom Christentum als grundlegender gesellschaftlicher Botschaft in einem äußerst liberalen und rationalen Sinn: eine liberale – natürlich nicht im Sinne des Neo-Neoliberalismus – Vernunftreligion, die im Sozialen und in der Ethik ihre irdische Erfüllung findet – was gleichzeitig auch besonders stark vor jedem Fundamentalismus schützt.

Der kategorische Imperativ der Sozialpolitik

Ich habe diesen Vortrag mit I. Kant begonnen und mitgeteilt, dass seiner „Psychatrietheorie“ in „Von den Krankheiten im Kopf“ eine ausgearbeitete Metaphysik in ethischer Hinsicht folgt. Metaphysik, die sich zum einen den Alltagsnöten der Menschen zuwendet, indem sie die hinter diesem Alltag liegenden Fragen klärt, zum anderen aber klare Hinweise dazu gibt, warum etwas so ist wie es ist und nicht vielmehr anders und wie es sein sollte, damit postulierte Ideen realisiert werden, ist in diesem Vollzug politische Philosophie. Schon deshalb auch, weil es Gesetze, bürgerliche Normen, gibt, die ebenfalls auf hinter der Wirklichkeit liegenden Vorstellungen beruhen und weil jede gute Politik der Leitidee bedarf. Kant etwa unterscheidet Handlungen, die wegen Pflicht und aus Pflicht geschehen. Ersteres sind weltlich-bürgerliche Gesetze, das andere resultiert ganz ohne bürgerliches Zutun aus der Autonomie des freien, moralischen Menschen. Gesetze müssen politisch durchgesetzt werden. Dafür braucht es Verabredungen, die jeweils von der geltenden gesellschaftlich mehrheitsfähigen Moral bestimmt sind. Dafür muss der Mensch nicht autonom sein. Jedoch derjenige, der es ist, also rein aus Pflicht handelt, braucht die Gewissheit, dass eine Einstellung und seine Handlungen auch mit einem höchsten Gut verbunden sind.

Die Metaphysik für unsere Zeit – als Sollensmetaphysik – muss über das hinaus sehen, was verabredet ist, auch wenn sie es als Gegebenes anerkennt, um nicht terroristisch und totalitär zu werden. Sie muss es korrigieren, jedenfalls den Versuch dazu unternehmen, vor allem auch dann, wenn sie erkannt hat, dass diese Verabredungen, wie derzeit evident, eine Gesellschaft, die Menschheit nachhaltig schädigen. Ein Handeln nach dieser Metaphysik heißt immer so zu agieren, dass der Mensch – so sagt Kant – Zweck, niemals Mittel der Handlungen und Ziele ist. Es heißt auch immer so zu handeln, dass auch das konkrete Handeln ein allgemeines oder gar Naturgesetz sein kann. Dies ist Kants Maßstab im „kategorischen Imperativ“. Dies ist keine materielle Ethik, sondern abstrakte Norm, überzeitlich gültig, unabhängig vom Zeitgeist. Diese Moral lässt zeitgebundene durchaus zu, prüft sie nur an diesen Zielen.

Der Neoliberalismus, der Kapitalismus haben ihr Funktionieren an das Böse gebunden, an den homo oeconomicus, anstatt dessen sollte die Gesellschaft ihre Angelegenheiten auf das Prinzip des autonomen, freien, nur an die hier beschriebene Sollensmetaphysik gebundenen, Menschen stellen. Sie tut es nicht und begnügt sich vor dem Hintergrund dieses Befundes damit, ethische Verabredungen zu treffen, die dem Instinkt dieses Naturburschen – des nur wirtschaftlich denkenden und auf seine, und nur seine, Vorteile bedachten Menschen – folgen. Dies kann auf die Dauer nicht gut gehen. Die Kirchen, die protestantischen werden es nach Lage der Dinge nur nach einer Bereinigung ihrer Rechtfertigungslehre können, sollten sich an die Spitze einer Bewegung setzen, die eine neue kopernikanische Wende in Moralfragen einleitet. Sie allein wird dies können; denn: möglichen anderen Gruppierungen, gut meinenden humanistischen, den Linksparteien oder anderen vergleichbaren, fehlt die metaphysische Basis, jedenfalls ein Teil davon. Diese werden im Zweifelsfall – im Grenzfall – sich auch nicht nach dem absolut Gebotenen, sondern nach dem Nützlichen richten. Niemand außer dem von mir hier so genannten höchsten Gut garantiert ganz langfristig dem glückswürdigen Mensch auch die Glückseligkeit und damit ein Gelingen auch der langfristigen Überzeugungs- und Erziehungsarbeit.

Was ist diese „kopernikanische Wende“ in ethischen Angelegenheiten? Ganz einfach der Schritt vom Wissen zum Glauben, aber in Kants Sinn. Kant hat die Wissenschaften nicht klein geschrieben, sondern ihnen einfach den Platz zugewiesen, den sie haben: den der empirischen Erkenntnis und den darauf aufbauenden praktischen Folgen – im Guten wie im Bösen. Was jedoch gut, was schlecht ist, entzieht sich der Entscheidung, Prüfung und letztlich auch Umsetzung der Einzelwissenschaften. Das heißt auch, das, was wir wissen können, sollen wir durch unser Erkenntnisvermögen auch erarbeiten, das, was wir nicht wissen – erkennen – können, müssen wir glauben, wenn wir gerade auch der praktischen Lebensbewältigung ihre Ziele geben wollen – und das müssen wir, weil sonst der Mensch, die Menschheit orientierungslos durch Gegenwart und Zukunft irrt. Glauben also ist Metaphysik als Wissenschaft in diesem bereinigten Sinne. Glauben heißt postulieren von Ideen, ohne die wir langfristig – manchmal auch kurzfristig schon – keine Zukunft für die Menschheit gewinnen können. Diese Ideen habe ich benannt und wiederhole hier sie noch einmal: Sittlichkeit als Vernunftfaktum, Gott als höchstes Gut in Verbindung mit der Würdigkeit zum Glück, Unsterblichkeit als Ausgleich für die Niederlagen, die ein guter Wille im Alltagsstress, den wir mit den verabredeten Konventionen (so genannte Tugenden) der derzeit neoliberalen Gesellschaft haben, hinnehmen muss. Klingt das nach Vertröstung? Nein, es ist notwendig, um die Glückseligkeit wenigstens annehmen zu können. Nur: deutlich mag auch geworden sein, dass die Glückswürdigkeit eine große Rolle dabei spielt. Und was anderes als diese Kant’sche Glückwürdigkeit ist endlich der Richter-Spruch des nach dem Neuen Testament zum Richter berufenen Jesus über unser Leben?

Theologische Metaphysik ist nur als Moralphilosophie möglich. In der Zeitung war zu lesen, dass Ethik „schwer“ sei – dies kam von einem Wirtschaftsvertreter. Andererseits gibt es Firmenethik, Firmenphilosophie, häufig zur Dutzendware verkommen, billig und wohlfeil. Es handelt sich dabei häufig einfach nur um eine Nützlichkeitsethik, nützlich für die Betriebe, selbst wenn der Mitarbeiter, der Kunde oder irgendwelche hohl formulierten Ziele im Mittelpunkt stehen. Meist geht es dabei um die Frage, wie man die Effizienz der Mitarbeit im Interesse von deren Verwertbarkeit steigern soll. Dies, so darf ich hier schon sagen, ist keine Ethik, jedenfalls keine, die diesen Namen verdient. Bei der hier im Mittelpunkt stehenden Sollensmetaphysik geht es allein um die Frage, wie man die Verhaltensweisen und Entscheidungen der Menschen aus freiem Willen abstrakt, gültig, zeitlos über den Interessen Einzelner und ganzer Gruppierungen stehend definieren und bestimmen kann. Es geht – kurz – um nichts Inhaltliches, sondern um formale Festlegungen, nicht um Werteethik, sondern um „Gesinnungsethik“ – es ist nichts gut als allein ein guter Wille. Dies heißt nichts anders als: jede Beimischung von Motiven, Inhalten, Wünschen, Neigungen mag nützlich sein, ihre Folgen können positiv oder negativ sein, allein die Gesinnung, die Absicht, zählt. Eine metaphysisch bestimmte Ethik hat keine Inhalte, weil diese sofort infrage gestellt werden können. Inhalte von der Art wie oben angedeutet sind nie frei von Interessen, Beimischungen, Neigungen und können, im Grenzfall, auch unterbleiben. Ethik ist also dann aus Sicht der Sollensmetaphysik zu sehen, wenn sie frei von Kalkulationen über Vorteile, ja sogar Folgen der Entscheidungen, die den Handlungen vorausgehen, bleibt. Eine Tat ist nicht deshalb gut, weil sie „Gutes“ bewirkt, sondern allein deshalb, weil sie dem Pflichtbegriff adäquat ist, weil sie Gutes will. Man unterscheidet sehr gerne zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik: dies hier ist beides. Wenn man diese Unterscheidung trifft, so stets in polemischer Absicht. Gesinnung sei leer und ohne Bezug auf konkretes Tun, Verantwortungsethik gilt als das höherwertige moralische Prinzip. Dabei lassen sich beide nicht auseinander definieren.

Die hier aufgestellte Ethik sieht auf den ersten Blick wie eine reine Gesinnungsmaxime aus: nur der gute Wille zählt, nicht die Verantwortung für die Folgen einer Handlung, die aus dieser Gesinnung geschieht. Jedoch übersieht diese Kritik, dass unablösbar zu dieser Gesinnung die freie Willensentscheidung steht: danach ist eine Handlung dann moralisch, wenn sie aus Pflicht geschieht – Pflichterfüllung vor dem abstrakten Sittengesetz, was wiederum nur einer autonomen Persönlichkeit möglich ist. Handlungen müssen, um moralisch zu sein, auch zurechenbar sein. Und wem etwas zugerechnet werden kann, der hat die Verantwortung dafür zu tragen. Ganz im Gegenteil wird unsere Sollensmetaphysik eine Ethik zu nennen sein, die in hohem Maße Verantwortung für das Ganze übernimmt, denn: im Mittelpunkt dieser Ethik steht „das Reich der Zwecke“, nicht der Mittel. Die oben kurz gekennzeichnete Wirtschaftsethik ist rein instrumentell, wie jeder Utilitarismus, in der nach Kant ausgeführten Moralphilosophie ist der Mensch immer der Zweck des Handelns. Zweck heißt hier: sein Schicksal, seine Möglichkeiten, seine Unversehrtheit stehen im Mittelpunkt jeder Handlung, gerade auch politisch.

So kommen wir zu dem klaren ersten Zugriff auf unseren kategorischen Imperativ: handle stets so, dass deine Mitmenschen immer im Mittelpunkt deiner Bemühungen stehen – hier ist die Menschheit gemeint. Handle nie so, dass der Mensch zum reinen Instrument irgendwelcher politischen und wirtschaftlichen Ziele verkommt. Der einzelne Mensch wie die gesamte Menschheit stehen dann natürlich auch im Mittelpunkt jeder Politik. Sie sind der Zweck, das Ziel und die Bestimmung ethischer Maßstäbe. Dies ist mit dem „Reich der Zwecke“ gemeint. Ein solcher Imperativ, er ist nun einmal kategorisch, also ausschließend, unmittelbar und sozusagen kompromisslos, muss natürlich „zeitlos“ sein, nicht dem Geschmack irgendwelcher Tugendlehren, irgendeiner Wirtschaftsethik unterliegen. Unter ihm kann es zeitgebundene Anschauungen und Verabredungen geben, die sich aber daran messen lassen müssen. Was vor 100 Jahren Moral war ist es heute nicht mehr, was aber vor 100 Jahren – wenn es galt – prinzipiell gelten durfte, darf es heute auch.

Wo bleibt der Gutmensch? Dieser fühlt sich einer Sollensmetaphysik – so ziemlich das Gegenteil von Utilitarismus – verpflichtet. Diese Sollensmetaphysik hat einige wesentliche Kriterien, nämlich ein als Vernunftfaktum gegebenes Sittengesetz, die Freiheit des Menschen und seine Verantwortung für seine Handlungen und der aus beidem resultierende „gute Wille“, der allein uneingeschränkt „gut“ ist. Für uns kommt hinzu das Leben Jesu als historisches – und geoffenbartes – Vorbild für inhaltlich richtiges Handeln, das einzige, was einer Werteethik näher kommt. Aber ohne einander kommen diese beiden nicht aus: der dienende Gott ist ein Beispiel, gleichzeitig aber auch ein Postulat, das mit dem „höchsten Gut“ identisch ist. Es ist im Christentum ein höchstes Gut, das bis zur Selbstaufgabe dient und damit den Weg für die Einsicht in richtiges Handeln gemäß Pflicht freimacht. Bei dieser Pflicht handelt es sich auch und nicht ganz zuletzt um eine Pflicht zu sozialem Handeln. Daraus folgt für mich ganz zwingend, dass ein Reich Gottes auf Erden zu bewirken unser höchstes religiöses und damit moralisches Ziel sein muss. Dieses Reich ist vor allem eines, in welchem all die leidenden Menschen, die Außenseiter, die Sklaven und die Armen alles das nicht mehr sind. Solange wir dies nicht vermögen und bis zur Verwirklichung dieser Forderungen sind wir auch nicht mit dem Christengott wirklich versöhnt. Und: wir haben die Forderungen aus Jesu Leben, Sterben und Auferstehung nicht verstanden und schon gar nicht befolgt. Die so abschätzig Gutmenschen genannten Kritiker der Moderne stehen also vollständig rational auf der Seite der Vernunft – nicht sie, sondern Herr W. muss in ein Theater.

Nach Kant kommt demnach die Religion aus der Moral, sie ist notwendige Folge des Strebens des Menschen nach Glückseligkeit, die Glückswürdigkeit voraussetzt. Das heißt nicht, dass Gott – als Postulat und regulative Idee – nicht objektiv wäre, dies heißt nur, dass er nur durch eine praktische Metaphysik erkennbar ist, nicht in der naturwissenschaftlichen oder mathematischen Theorie. Für unsere Sollensmetaphysik ist der Zusammenhang noch dialektischer. Wir haben durch das Leben Jesu klare Hinweise auf eine unabdingbare Ethik, finden aber umgekehrt nur in einem höchsten Gut, das zuvor philosophisch definiert war, eine letzte Vernunftbegründung. So ergänzen und bedingen sich Metaphysik und Religion unmittelbar. Genau das ist das, was zur Sicherheit menschlich einwandfreien moralischen Handelns erforderlich ist: humanistische Begründungen reichen nicht, weil sie nicht zweifelsfrei auch in Grenzfällen menschlicher Situationen das Richtige tun lassen; rein religiöse Begründungen bleiben insofern schwierig, als ihnen eine letztlich solide gedankliche Basis in der menschlichen Vernunft fehlt. Nur beides zusammen leistet letztlich die Garantie für im Sinne unserer Metaphysik „erfolgreiches“ Handeln, so dass mein „kategorischer Imperativ“, der Imperativ der Sozialpolitik, wie folgt zu fassen wäre:

„ Handle stets so, das der Mensch immer Zweck deiner in freier Willensentscheidung begründeten Handlungen ist und sei dabei sicher, dass das Leben Jesu Dir dafür die rechten inhaltlichen Anhaltspunkte, Hinweise und Forderungen gibt.“

Hier sind materielle und formelle Ethik zusammen gedacht. Eine Menschheit, ein Land, eine Nation, eine Gruppe, der Einzelne, die so denken und handeln, können mit Sicherheit niemals Kriege anzetteln, Armut verursachen, Naturkatastrophen nach Kassenlage verhindern oder deren Folgen nach sozialer Klasseneinteilung regulieren; sie können niemals zu wenig für die Bekämpfung von Hunger und Krankheit tun, sie werden nie das Gewinnmaximierungsprinzip in den Vordergrund ihrer Handlungen rücken, sie werden öffentlich handeln wo es erforderlich ist und notwendige Entscheidungen und Aktionen nicht Privaten überlassen, deren Interesse sicherlich nur ein ökonomisches ist – wir kommen somit auch zu einer Kritik der reinen instrumentellen Vernunft, deren Anwendung in der gesellschaftlichen Praxis sich nach oben beschriebenem kategorischen Imperativ verbietet.

Wie zu sehen ist lebt diese metaphysische Ethik von einer Art Vernunftreligion, in der Gott – auch Jesus war und ist Gott – notwendiges Postulat einer praktischen Vernunft ist und bei der zugleich die wesentliche Voraussetzung in der Nachfolge Jesu auf seinem Weg im Dienste der Randfiguren, der Armen, Unterdrückten, der Sünder besteht. Dies alles zusammen ist hier zu einer Art echter bürgerlicher Moderne zusammengebunden, die uns auch in der Sozialpolitik Maßstäbe und Garantien an die Hand gibt, die wir für unser Handeln und Beurteilen dringend benötigen.

Auch Kant hält die Frage nach Gott für unabweisbar, weil die menschliche Vernunft wie von selbst auf diesen letzten Verursacher aller Dinge, der Natur, des Menschen, man kann ihn auch Schöpfer nennen, zu sprechen kommt. Diese Vernunft will wissen, wie man etwas, das man in keiner Weise sehen, spüren, erfahren kann, dennoch mit den Mitteln der Philosophie erkennen kann, also Urteile über etwas abgeben kann, über das es schlechterdings Erfahrungen nach wissenschaftlichen Maßstäben nicht geben kann.

Eine Umsetzung dieses kategorischen Imperativs der Sozialpolitik ist nur möglich, wenn wir unsere Gesellschaft auf die Basis eines Sittengesetzes stellen, das, obwohl abstrakt und immer geltend, die berechtigten Anliegen einer modernen Welt mit ihren relativen Geltungen von Sitte und Alltagsmoral, von Zielen, Wünschen und Befindlichkeiten berücksichtigt. Gleichzeitig jedoch hat diese Metaphysik zur Voraussetzung, dass sie als empirische Basis, nicht als theoretische, das Leben Jesu akzeptiert, ein Leben, das in seiner bedingungslosen Liebe gleichzeitig aber genau so bedingungslos fordert, herausfordert zu verbindlichen, verpflichtenden Taten im Interesse einer Menschengesellschaft, die ihr Himmelreich langfristig auf Erden aufpflanzen will – „Reich Gottes auf Erden“.

Was also wollen wir heute mit dieser abgestanden Begrifflichkeit „Reich Gottes“? Soll diese jetzt zur Grundlage einer modernen politischen Organisation im Angesicht der so genannten Globalisierung werden? Wir haben es im ersten Teil, in der theoretischen Grundlegung, so angedeutet. Es bleibt die einzige Möglichkeit, ein für alle erträgliches Leben zu schaffen. Dieses Reich Gottes – dies ist die erste Konsequenz aus der Sollensmetaphysik – ist vollständig von der Ökonomisierung des Lebens befreit, es ist aber auch bereit zu einem rationalen Umgang mit ökonomischen Prozessen in dem Sinne, dass diese Prozesse zu einer reinen Funktion herabgestuft worden sein. Dies ist also die erste Forderung an den neuen Staat: Ökonomie – schlagwortartig – ja, keine „Durchökonomisierung“. Denn eines ist sicherlich klar: dass Wirtschaften notwendig ist, um Leben zu gestalten, überhaupt zu führen, wird niemand bestreiten. Was hier, dies ist natürlich keineswegs irgendwie neu, bestritten wird, ist die Notwendigkeit, alles dem Prinzip des homo oeconomicus zu unterwerfen, einem Prinzip also, das im Vordergrund seiner Maxime keinen Inhalt, keinen Wert sieht, dem es vollständig gleichgültig ist, was „bewirtschaftet“ wird, wenn nur ein Profit dabei herauskommt. Dies ist kein Kitt für Jahrhunderte.

Klaus Weißgerber, Stadtkirchenpfarrer in Gießen, bei der Einführung zum Vortrag von Dr. Hans-Ulrich Hauschild
Klaus Weißgerber, Stadtkirchenpfarrer in Gießen, bei der Einführung zum Vortrag von Dr. Hans-Ulrich Hauschild

Da aber nun einmal – wie ebenfalls oben gezeigt wurde – der diese Welt tragende Geist, der menschliche, im Sinne der metaphysischen Feststellungen „böse“ ist, also ökonomisch gesonnen, ist die zweite Forderung an unseren reformierten Staat: die Erziehung, Aufklärung, mit einem Wort, die Vorbereitung zum Abschied vom Nichtprinzipiellen (Marquard verkehrt). Denn: Ökonomie – wird sie so betrieben und ideologisch verteidigt und begründet – ist prinzipienlos im schlechtesten Sinne, es kommt aber darauf an, Prinzipien, Maxime zu haben, die langfristig wirklich weiter führen.

Diese sofort umzusetzenden Maßnahmen sind: die Entmachtung des Ökonomen und die Aufklärung des Menschen. Wie bringen wir dies in „Staat“? Womit machen wir dann Staat? Wir wollten mit diesem kleinen Buch eine theoretische Grundlage für den Aufbau öffentlichen Handelns schaffen. Eine zukünftige „Organisationenlehre“ dieses kategorischen Imperativs der Sozialpolitik, diese Lehre würde in einem zweiten Teil folgen, müsste die beiden folgenden Aufgaben sofort angehen, damit sie langfristig erledigt werden: zum einen die Relativierung des Einflusses der Ökonomie durch Organisationsreform im Staat und in der Gesellschaft. Zum anderen der Aufbau einer durchgehenden Aufklärung der Menschen mit Hilfe einer Sollensmetaphysik und dem Ziel, dem Menschen – er hat einen freien Willen – Anhaltspunkte an die Hand zu geben, warum er sich besser gegen das „böse“ – also gar kein – Prinzip und für das Leben Jesu entscheiden sollte, so schwer es auch fällt.

Nun wollen wir in diesem kleinen Vortrag unsere Eingangsüberlegungen begründen und weiter führen mit konkreteren Hinweisen zum Zustand einer sozialen Politik.

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