Lichtschein von oben wie ein Weihnachtsbaum

In einem vorweihnachtlichen Brief an Weggefährtinnen, Freunde und Interessierte an meinen Neuigkeiten meditiere ich über ein Bild des chinesischen Künstlers He Qi. Auf den ersten Blick erinnert mich das kegelförmige Licht, das vom Himmel über vier Personen herunterstrahlt, an einen Weihnachtsbaum. Ein verschneiter Tannenwald im Hintergrund scheint ebenfalls weiße Weihnachten anzudeuten. Dabei stellt das Bild eigentlich gar keine Weihnachtsszene dar.

In einem kegelförmigen Lichtschein von oben kniet einer, der betend zum Himmel blickt, während drei Personen um ihn herum schlafen
Bild: He Qi © 2014 All rights Reserved (Nutzungsanfragen bitte an den Autor richten)

Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Interessierte an meiner Bibelwelt!

Heute, am Tag vor Weihnachten, möchte ich euch und Ihnen allen ein Bild des Künstlers He Qi ans Herz legen, der als junger Mann während der chinesischen Kulturrevolution aufs Land geschickt wurde und vor harter Arbeit verschont blieb, weil er genug Talent besaß, um Portraits des Großen Vorsitzenden Mao Zedong zu malen. Als er eines Tages in einer Zeitschrift einen Abdruck von Raphaels „Madonna mit dem Jesuskind“ fand, war er so angerührt von diesem Bild, dass er begann, sich heimlich nachts auch mit religiösen Motiven zu befassen. Später wurde er selber Christ, und er malt seitdem Szenen aus der Bibel mit dem ganzen Reichtum der Symbolik aus seiner angestammten chinesischen Kultur.

Einige unter euch und Ihnen feiern ja nicht Weihnachten als christliches Fest, ob als Muslim oder Jude oder Alevit oder vielleicht auch als religiös unmusikalischer Mensch. Ich lade trotzdem ein, meine Gedanken zu lesen – als Anregung zum Verstehen, warum Christen Weihnachten feiern. Und vielleicht auch als Anregung, irgendwann im Neuen Jahr mir zu erzählen, ob das, was ich schreibe, vielleicht auch Unverstehen und Widerspruch ausgelöst hat. Das gleiche gilt natürlich auch für die Christen unter euch und Ihnen, denn es ist tatsächlich ein sehr ungewöhnliches Bild, das ich zum Weihnachtsfest meditieren will.

Den Titel des Bildes verrate ich jetzt noch nicht. Auf den ersten Blick erinnert mich das kegelförmige Licht, das vom Himmel über vier Personen herunterstrahlt, an einen Weihnachtsbaum. Ein verschneiter Tannenwald im Hintergrund scheint ebenfalls weiße Weihnachten anzudeuten – und sehen die vier Gestalten nicht so aus, als läge auch auf Ihnen und auf der Unterlage, auf der sie ruhen, sitzen oder knien, weißer Schnee?

Aber in der chinesischen Farbsymbolik ist Weiß nicht die Farbe der Reinheit oder des Lichts wie bei uns, sondern die Farbe der Trauer. Und das Schwarz im Hintergrund deutet den Einfluss von Macht und Geld an, es ist auch die Farbe von Kälte und Düsternis.

Dominierend ist aber die Farbe Blau, die das ganze Bild durchzieht. Auch sie kann Trauer ausdrücken, aber vor allem steht sie – wie bei uns – für Glauben und Treue und ähnlich wie die Farbe Grün für Wachstum und Hoffnung.

Und dann ist da noch das leuchtende Purpurrot der Münder und Gesichter, das ist die Farbe der Philosophen und Träumer, die Farbe der Wahrheit und Spiritualität.

Worum geht es denn nun auf dem Bild?

Die einzige Person, die wach ist und kniet, hält das Gesicht zum Himmel gerichtet. Aber das Auge scheint gar nicht nach oben zu blicken. Ist es wie in Trauer in sich selbst versunken? Auch die große Hand weist nach oben, offen, um zu empfangen, was immer von dort auch kommen mag.

Die anderen drei Gestalten haben geschlossene Augen. Hinten hat sich eine von ihnen lang gemacht und aufs Ohr gelegt. Die zweite kauert davor und stützt den gesenkten Kopf auf ihre Hände; wären die Augen offen, so ginge ihr Blick nach unten. Und die dritte sitzt vorne, hat den Kopf seitlich bequem auf ihren Arm gelehnt, der auf dem eigenen Schoß ruht. Wie das Gesicht der hinteren Person ist auch das der vorderen in unsere Richtung gewendet. Aber sie schauen uns nicht an, alle drei schlafen.

Jetzt ist es Zeit, den Titel des Bildes zu erwähnen: „Praying at Gethsemane“ – „Beten in Gethsemane“. Das Bild ist eigentlich doch kein Weihnachtsbild, sondern es zeigt die Nacht vor dem Karfreitag, in der Jesus kurze Zeit später gefangen genommen wird. Jesus ist mit Dreien seiner Jünger im Garten Gethsemane und bittet sie, mit ihm wach zu bleiben und zu beten.

Eigentlich ist das Bild also ein Bild der Trauer. Trauer über die dunklen Mächte von Gier und Fanatismus, die Menschen wie Jesus ans Kreuz bringen, die bis heute Leid und Krieg verursachen und Millionen auf die Flucht treiben. Trauer über Menschen, die uns enttäuschen, obwohl wir von ihnen viel erwartet haben. Schließlich die Trauer dessen, der zu seinem Vater im Himmel betet, ob der Kelch des Leids nicht an ihm vorbei gehen könne. Und er weiß genau: Dieses Gebet wird ihm nicht so erhört werden, dass sein Wunsch in Erfüllung geht.

Kann das Bild uns trotzdem ein Weihnachtsbild werden? Für uns Christen ist der Jesus, an dessen Geburt wir uns morgen erinnern, ja von vornherein der Eine Mensch, in dem sich Gottes Liebe ganz und gar offenbart – so vollkommen, dass man sagen kann: Hier ist Ein Mensch so, dass er dem Ebenbild Gottes entspricht, zu dem wir alle geschaffen sind. Und noch in der tiefsten Verzweiflung, in der dieser Jesus am Tag vor seinem Tod zum Himmel blickt, hört er nicht auf, vertrauensvoll die Hand für alles zu öffnen, was dem Willen seines Vaters im Himmel entspricht.

Ja – Menschen, von Macht und Verblendung getrieben, wollen ihn töten, wollen das Licht der Liebe, die in ihm wohnt, auslöschen. Doch der Lichtschein von oben hört nicht auf, ihn einzuhüllen. Seinen Leib wird man töten können. Seine Liebe nicht. Sein Vertrauen nicht. Die Hoffnung nicht.

Aber warum muss Jesus allein beten? Seinen Jüngern sind die Augen zugefallen. Vor Übermüdung. Vor Erschöpfung. Vor Angst. Vor Traurigkeit. Der Lichtschein von oben umhüllt sie trotzdem alle. Ohne dass sie das wissen. Und es scheint so, als ob Jesus auch das Vertrauen auf seine Jünger nicht verliert, obwohl sie ihm nicht beistehen im Gebet. Der vordere Jünger, ich nehme mal an, es ist Petrus, trägt ausdrücklich die grüne Farbe der Hoffnung – ihm traut Jesus zu, Verantwortung für seine Gemeinde zu übernehmen – trotz seines Versagens, seiner Verleugnung, seines Schlafens in dieser Nacht.

Einen Tag später in den Folterqualen am Kreuz wird Jesus immer noch beten – zwar mit den scheinbar verzweifelten Worten:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Doch dieser alte jüdische Psalm mündet in wunderbare Worte des Vertrauens auf den Gott Israels (22,25):

Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen; und da er zu ihm schrie, hörte er‘s.

Und vielleicht hat Jesus am Kreuz sogar die Verse 10 und 11 aus dem Psalm 22 gebetet:

Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du ließest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter. Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an.

Diese Psalmworte verbinden eindrücklich den Karfreitag zurück mit Weihnachten, dem Tag der Geburt Jesu.

Das waren jetzt doch mehr als nur ein paar Gedanken zu einem Bild. Ihr kennt mich ja – Sie kennen mich ja – auch meine Predigten sind meistens nicht gerade kurz.

Mir ist das Gethsemane-Bild von He Qi durchaus zu einem anrührenden Weihnachtsbild geworden, weil ich schon immer in den Geschichten, die in den Evangelien von der Geburt Jesu entworfen werden, keine idyllische Schilderung einer heilen Familie in heilen Verhältnissen gesehen habe. Lukas und Matthäus zeichnen ja die Geburt dessen, den sie als Verkörperung der Liebe Gottes verkünden, sehr deutlich in eine Welt hinein, in der Herrscher wie Kaiser Augustus und König Herodes Menschen wie Spielbälle auf den Feldern ihrer Macht verschieben und nicht davor zurückschrecken, ihr Leben zu bedrohen.

Und die Familie Jesu wird erst dadurch zu einer heiligen Familie, dass ein Mann seine Verlobte mit einem Kind, das nicht von ihm ist, dennoch als Frau zu sich nimmt und sich von einem Engel Gottes überzeugen lässt, dass Jesus ein Kind „von dem Heiligen Geist“ ist.

So kann Jesus heranwachsen zu dem Mann, der weiß, dass der Lichtschein der Liebe Gottes alle Menschen überstrahlt und umhüllt. Er verkörpert die Liebe Gottes als der Wanderprediger, der den Menschen Vertrauen zu Gott einflößt und ihre Seelen heilt und gewaltfreien Widerstand leistet gegen Fanatiker, Gewalttäter und Seelenverkäufer. So wird er zum Licht der Welt.

An Weihnachten, so glauben es wir Christen, hat es dem Gott Israels gefallen, in Jesus Gestalt anzunehmen, um durch ihn Menschen aller Völker zur Liebe zu ermahnen und zu ermutigen.

In diesem Sinne:

Gesegnete Weihnachten allen Christen und besinnliche freie Tage auch allen anderen!

Euer und Ihr Pfarrer Helmut Schütz

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