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Beerdigung eines verzweifelten Menschen

Welchen Trost kann es geben, wenn ein Mensch sich auf Grund einer seelischen Erkrankung das Leben nimmt?

Bild eines verzweifelten Menschen, gezeichnet, mit zum Schrei geöffneten Mund und starr blickenden Augen
Tiefe Verzweiflung kann einen Menschen in den Suizid treiben (Bild: Reimund BertramsPixabay)

Liebe Familie B., liebe Trauernde,

vor zweieinhalb Jahren lernte ich Herrn B. kennen. Wir sind uns oft begegnet – sei es, dass ich ihn besuchte, sei es, dass wir uns auf der Straße trafen, sei es auch, dass er einmal zu mir in den Gottesdienst kam. Und immer wieder vertraute er sich mir mit unterschiedlichen Anliegen an. Er sprach sich aus, wenn ihm etwas auf der Seele lag; oft tauschten wir uns auch einfach aus über Gott und die Welt, über politische Fragen oder über die Musik, die er gerne hörte. Und manchmal ließ er mich teilhaben an den bizarren Vorstellungen seiner durch die Krankheit geprägten inneren Welt.

Seine Krankheit, diese rätselhafte Last, die auf seiner Seele lag, hinderte ihn oft daran, ganz im Kontakt mit der Wirklichkeit zu stehen, und sie raubte ihm immer wieder den Antrieb und die Energie, sein Leben zu meistern. Zu Beginn dieses Jahres schien er aber doch wieder Fuß fassen zu können außerhalb des Krankenhauses; er zog in eine Wohngemeinschaft in der Stadt, nahm nur noch tagsüber am Programm der Tagesklinik teil und sollte schrittweise wieder lernen, einen geregelten Arbeitsalltag zu bewältigen. Ein schwieriger Weg war das für ihn, und er schwankte immer wieder zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Als ich von seinem Tod in der Zeitung las, war ich erschüttert und traurig. Und ich habe mir Gedanken gemacht, ob ich oder jemand anders ihn von seinem letzten verzweifelten Schritt hätte abhalten können, sich das Leben zu nehmen. Ich erinnere mich noch genau an den Morgen seines Todestages, da traf ich ihn; er wollte mit mir reden. „Ich will nicht mehr“, sagte er mir, er fühle sich müde und verbraucht. Ich fühlte mich ihm nahe und versuchte, ihm Mut zu machen, hatte aber zugleich das Gefühl, dass er in seiner eigenen Welt irgendwie auch weit weg von mir war. Ich fragte ihn in diesem Gespräch sogar, ob er daran dächte, sich selbst etwas anzutun; dazu sagte er ausdrücklich Nein, das sei ja auch keine Lösung, und ich ließ mich beruhigen; ich denke auch, dass er das in diesem Moment ernst meinte.

Was dann am Nachmittag in ihm vorging – niemand wird es je wissen. Ich denke, dass man ihn einfach nicht mehr erreichen konnte, ihn nicht mehr aus seiner Verzweiflung herausholen konnte.

Als ich darüber nachdachte, ist mir der Psalm 88 eingefallen. Vielleicht kommen die Gedanken dieses alten Gebets dem nahe, was Herr B. in den Abgründen seiner Krankheit empfunden haben mag:

4 Meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode.

5 Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat.

7 Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe.

16 Ich bin elend und dem Tode nahe von Jugend auf; ich erleide deine Schrecken, dass ich fast verzage.

Es ist eigentümlich und erschreckend, wie der Psalmdichter sein Schicksal auf Gott zurückführt. „Du hast mich in die Finsternis gelegt, ich erleide deine Schrecken“. Ich vermag nicht zu erklären, warum Gott so etwas tut, warum er zulässt, dass Menschen aus einer solchen Verzweiflung nicht mehr herausfinden.

Aber wenn ein Gott da ist, der uns hört, dann können wir wenigstens dies tun: vor ihm unser Herz ausschütten, so wie es auch in dem Psalm 88 geschieht:

10 Mein Auge sehnt sich aus dem Elend. HERR, ich rufe zu dir täglich; ich breite meine Hände aus zu dir.

Ich vertraue darauf von ganzem Herzen, dass der Schöpfer des großen Weltalls in einer ganz innigen Beziehung zu uns kleinen Geschöpfen auf der Erde lebt – was hier geschieht, was jeder einzelne Mensch denkt und fühlt und tut und erleidet, das ist ihm nicht gleichgültig.

Und in der Beziehung zu diesem Gott können wir Trost erfahren. Trost bedeutet nicht, dass Schmerz und Trauer, Angst und Schuld und andere Dinge, die uns belasten, einfach weggedrängt werden. Trost bedeutet: Ich habe jemanden, dem ich mich anvertrauen kann. Ich brauche meine Tränen nicht zu verstecken. Da ist jemand, der versteht, was ich fühle, der verurteilt mich nicht, der schickt mich nicht weg, der lässt mich nicht allein. So einer ist Gott, so hat er sich in seinem Sohn Jesus auf die Menschen eingelassen, und es ist auch gut, wenn wir unter unseren Mitmenschen jemanden finden, der so zu uns ist.

Auf eine Frage aus dem Psalm 88 möchte ich noch eingehen, die Frage nach dem Schicksal derer, die verstorben sind:

11 Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?

Beantwortet wird diese Frage nicht mehr in der Zeit, als die Psalmen des Volkes Israel entstanden sind, sondern erst in der Zeit nach dem Tode Jesu am Kreuz: als die Jüngerinnen und Jünger Jesu erkennen: Gott ist mächtiger als der Tod, der Vater im Himmel hat seinen Sohn zu neuem Leben erweckt. Und ebenso kann Gott auch alle anderen Toten zu neuem Leben erwecken in einer neuen Welt. Ja, ich glaube es, Gott wird an den Toten Wunder tun, weil die Liebe Gottes stärker ist als alles andere.

Was unser irdisches Leben angeht, unser Leben in diesem von Gott geschaffenen Kosmos, ist unser Tod allerdings endgültig, da gibt es kein Zurück – da legen wir Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube. Und darum haben die Tränen des Abschieds auch ihre große Bedeutung und ihr eigenes Gewicht.

Aber wir können insofern getrost von unseren Verstorbenen Abschied nehmen, weil niemand im Tode verloren geht. Auch Herr B. findet ewige Ruhe bei Gott und bleibt in Gottes Liebe geborgen.

Und noch etwas können wir sagen: Wer Herrn B. geliebt hat, wer sich ihm verbunden fühlte, wer ihm zugetan war, dessen Gefühle für ihn werden bleiben, sie sind nicht verloren. Das gilt für Sie, die Angehörigen und Freunde, aber auch für Ärzte und Mitarbeiter der Klinik, die ihn kannten und über seinen Tod bestürzt sind. Es gilt auch für Mitpatienten, die sich bei mir nach ihm erkundigt haben und ihr Mitgefühl ausgedrückt haben. Liebe hört nicht auf, sagt einmal der Apostel Paulus, Liebe wird bleiben, auch über den Tod hinaus. In diesem Sinne nehme auch ich Abschied von Herrn B. – ich habe ihn sehr gern gehabt.

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