Bild: Franz Möller

Wie ich den christlichen Glauben verstehe

Helmut Schütz
Helmut Schütz (Foto: Franz Möller)

Anlass für die Darlegung der Grundlagen meines christlichen Glaubens in der hier vorliegenden Form war die unerwartete Resonanz, die mein Artikel „Marie, die reine Magd“ bei dem radikalen Christentumskritiker Matthias Wendt fand, der meine Gedanken in seinem Buch „Irreale Glaubensinhalte“ zur Untermauerung seiner religionskritischen Thesen verwendet.

Wendt missverstand allerdings die Zielrichtung meines Aufsatzes und begriff auch nach dem Austausch mehrerer Emails nicht, wie ich Maria – selbst dann, wenn sie durch Gewalt schwanger geworden sein sollte – als eine durch Gottes Liebe bewahrte und getröstete Jungfrau sehen und an ihren Sohn Jesus als Gottes Sohn glauben kann. In diesem Missverstehen und Unverständnis kann er vielen, die mich aus einer christlich-fundamentalistischen Haltung heraus kritisieren, durchaus die Hand reichen.

Da ich oft die Erfahrung mache, mit Atheisten (vor allem mit denen, die nach einem Wort von Terry Pratchett „auf Gott ärgerlich sind, weil es ihn nicht gibt“) einen fruchtbareren Dialog führen zu können als mit den Fundamentalisten unter den Christen, halte ich es für sinnvoll, meine Glaubensgrundlagen ausdrücklich im Gegenüber zu Matthias Wendt darzustellen, so wie ich sie ihm am 17. März 2001 gemailt habe. Wo ich ihn zitiere, beziehe ich mich auf Zitate aus seinem Buch „Irreale Glaubensinhalte“, Göttingen 2001, das er mir in einem Vorabdruck zur Verfügung stellte (vielen Dank!). Vielleicht sind diese Ausführungen auch für andere interessant.

1. Christlicher Glaube ohne Glaubenszwang

Jede Art von Glaubenszwang und Inquisition lehne ich ab; jedem Menschen muss das Recht zugestanden werden, seinen Glauben und seine Weltanschauung nach eigenem Wissen und Gewissen selber zu wählen und zu vertreten.

In diesem Sinne haben wir kürzlich im Gottesdienst der Paulusgemeinde Gießen mit einer kleinen Band John Lennon‘s Song „Imagine“, den ich sehr gern mag, in deutscher Übertragung gesungen: „Ich stell mir vor, der Himmel fängt auf der Erde an, wo Liebe ist und Hoffnung, ganz ohne Glaubenszwang… Ich stell mir vor, die Staaten, die schaffen ab ihr Heer, sie töten nicht für Ehre und auch für Gott nicht mehr.“

2. Gegen die Vermischung von Naturwissenschaft und Glaube

Auch von einer Vermischung von Naturwissenschaft und Glaube halte ich nichts. Als der Dialektische Materialismus eine Weltanschauung „wissenschaftlich“ begründen und – weil sie ja wissenschaftlich war – allen Menschen aufzwingen wollte, musste er kläglich scheitern.

3. Glaubensaussagen sind nur in Bildern aussagbar

Aussagen über religiöse Fragen, Sinnfragen, Gott, stoßen immer an die Grenze, dass wir Menschen endlich sind, das Reden von Gott aber Unendlichkeit voraussetzt. Religiöse Aussagen sind daher wissenschaftlich weder beweisbar noch widerlegbar, denn sie betreffen Glaubenswahrheiten, die auf das Unendliche gerichtet sind und als sinnvolle Aussagen nur von der eigenen Erfahrung, vom eigenen Vertrauen, von der eigenen Liebe ausgehen können. Die sprachlichen Mittel dieser Aussagen sind immer Analogien, Bilder, Geschichten, Mythen. Daher muss die Bibel sich in Bildern und wunderbaren Geschichten ausdrücken, wenn sie anderen Menschen etwas übermitteln will von Glaubensrealitäten. Glaubensrealitäten kann man anders nicht fassen, sie lassen sich nicht wissenschaftlich beweisen, sie können sich lediglich in Erfahrungen einer Person oder eines Volkes erweisen, und zwar Erfahrungen von Befreiung, Aufrichtung, ethischer Orientierung, Tröstung und vielem mehr.

4. Ewiges Leben und Auferstehung als bildhafte Sprache von erfülltem Leben

Zum Beispiel das Reden vom ewigen Leben und von der Auferstehung ist immer bildhafte Sprache. Wenn man das vergisst, kommt es zu absurden Ängsten vor der Ewigkeit als unendlich langer und damit auch langweiliger Zeit. Aber Ewigkeit ist eben nicht in zeitlichen Kategorien fassbar, ist keine unendlich ausgedehnte Zeit. Die Frage, wann man „in die Ewigkeit“ kommt, gleich nach dem Tod oder erst „am Jüngsten Tag“ (was auch wieder ein bildlicher Ausdruck ist), ist aus dem gleichen Grund schlicht sinnlos. Jesus kann den Mann am Kreuz neben ihm trösten mit den Worten: „Heute bist du mit mir im Paradies“ und in anderen Bildern von der Erwartung des Weltendes für alle Menschen sprechen. Das steht nebeneinander, weil es bildliche Aussagen sind, in denen sich Erfahrungen widerspiegeln, im einen Fall sein Gottvertrauen trotz nahenden Todes, im andern Fall seine Überzeugung, dass diese Welt, so wie sie ist, nämlich in ihrer Lieblosigkeit und ihrem Misstrauen gegen einen liebevollen Urgrund der Welt, eigentlich dem Untergang geweiht ist. „Aber Zeit und Stunde weiß niemand“, auch Jesus hat sich nicht zu wissen angemaßt, wann die Welt untergeht.

Und es ist genau zu prüfen, welche Erfahrungen mit Bildern des ewigen Lebens und der Auferstehung verbunden sein können. Zum Beispiel die Sehnsucht, nach dem Tode nicht einfach verlorenzugehen, sondern in Gott aufgehoben zu bleiben. Aber auch die Sehnsucht nach einem in Liebe erfüllten Leben kann mit dem Wort „ewiges“ Leben verbunden sein – „Augenblick, verweile doch, du bist so schön!“ Mit dem Bild der Auferstehung, das eigentlich vom Aufstehen des Schläfers am Morgen abgeleitet ist, verbindet sich für seriöse Theologen die Ablehnung einer vergeistigten Körperfeindlichkeit, nicht der Glaube an wiederbelebte Zombies. Außerdem schon hier im irdischen Leben die Erfahrung, aufstehen zu können aus Erniedrigung, aus einem lähmenden Dahinvegetieren, als sei man mitten im Leben schon tot. Der Schweizer Dichter und Pfarrer Kurt Marti hat in diesem Sinn 1970 ein Osterlied gedichtet, das im hessischen Gesangbuch unter Nummer 550 steht: „Das könnte den Herren der Welt ja so passen, wenn erst nach dem Tode Gerechtigkeit käme… Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden, ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle zur Auferstehung auf Erden, zum Aufstand gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren.“

5. Gegen eine wortwörtliche übernatürlich-magische Auslegung der Bibel

Ich wende mich gegen eine gegenständliche, übernatürliche, magische Auffassung der in der Bibel enthaltenen bildhaften Worte und Geschichten. Schade wäre es, wenn man das Kind mit dem Bade ausschütten würde, das heißt, wenn man den christlichen Glauben aufgrund seiner in der Kirchengeschichte zum Teil verheerenden Folgen oder Gott aufgrund der Verzerrungen der Bilder, die man sich von ihm gemacht hat, auf den Müllhaufen der Geschichte werfen würde. Dass Glaubensaussagen Bilder sind, was leider bis in die Gegenwart von vielen Theologen bestritten wird, heißt aber nicht, dass man nicht mit dem Verstand über sie nachdenken dürfte. Die Glaubensaussagen selbst sind weder beweisbar noch widerlegbar, weil sie sich nirgends als in der persönlichen Erfahrung bewähren, aber ihre zeitgebundene Einkleidung kann – vom jeweiligen Weltbild abhängig – irgendwann überholt sein. Das muss aber nicht die zugrunde liegende religiöse Aussage treffen.

6. Gott als Urgrund der Welt, allumgreifend

Nach meiner Überzeugung muss Gott alles umfassen, was es gibt, er ist der Urgrund des Weltalls. Darum macht für mich der Name sehr viel Sinn, den Jesus Gott gibt: Vater. Man könnte ihn auch Mutter nennen, auch dieses Gottesbild gibt es in der Bibel, wenn auch aufgrund der damaligen patriarchalischen Verhältnisse nur am Rande. Natürlich kann man auch den Vater im Himmel in verzerrter Gestalt wahrnehmen, wenn man Bilder von gewalttätigen Vätern in den Himmel projiziert, aber nach allem, was Jesus von Gott sagt, nimmt er Gott als einen liebenden Vater wahr, der sich für seine Menschenkinder verantwortlich fühlt.

Nach einer symbolischen Erzählung der Bibel beginnt der Schrecken auf der Erde genau dort, wo der Mensch sich einbildet, wie Gott sein zu können – die Schlange, als Personifikation des Misstrauens gegenüber einem gütigen Gott, redet dem Menschen göttliche Allmacht ein. Aber statt sich nun auch wirklich allmächtig zu fühlen, fällt der Mensch aus der Urgeborgenheit in Gott heraus, in der er sich seiner Nacktheit nicht schämte, und versucht sich nun vor Gott zu verstecken – er schämt sich seiner Nacktheit, seines Versagens, er schämt sich dafür, überhaupt auf der Welt zu sein. Der Mensch, der sich nicht mehr des Liebe seines Schöpfers gewiss ist, meint kein Recht mehr zum Leben zu haben. So sehe ich die Geschichte vom „Sündenfall“; Deutungen, die den Sündenfall auf eine sexuelle Verfehlung reduzieren oder die Sexualität als solche für Sünde erklären, sind Missverständnisse der biblischen Botschaft. Das Judentum war weder leibfeindlich noch prüde. Die Geschichte von Adam und Eva sehe ich als ein Bild für die Unausweichlichkeit der Sünde, die dort einkehrt, wo der Mensch sich dem Vertrauen zu Gott, zu seinem liebenden Urgrund, verschließt, und meint, sich wegnehmen zu müssen, notfalls mit Gewalt, was einem ja sowieso nicht geschenkt wird. Adam und Eva sind ein Bild für jeden einzelnen Menschen, als Geschichte an den Anfang zurückprojiziert – auf diese Weise haben alte Völker ihre Philosophie formuliert, in Geschichten vom Anfang, das heißt, vom Urgrund und Sinn von allem, was existiert.

7. Der Mensch als erschaffenes, endliches, begrenztes und geliebtes Wesen

Meine Überzeugung ist, dass der Mensch nicht gottgleich sein muss, um sinnvolle Erfüllung im Leben zu finden. Ich glaube, dass nur der ungeliebte Mensch es nötig hat, in Allmachtsphantasien sich vermeintliche Gottgleichheit zu verschaffen – woran er zugrundegehen muss.

Auch wenn wir Menschen endlich und begrenzt sind, ist unsere Verantwortung gegenüber unseren Kindern immer noch groß genug, die uns von Gott anvertraut sind und die nie unser Besitz sein können. Die Rolle verantwortlich wahrgenommener Elternschaft ist gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Und es ist ein Skandal, wie häufig Eltern gegen ihre Elternpflichten verstoßen und wie häufig sogar sexueller Missbrauch an Kindern von den eigenen Eltern oder anderer Vertrauenspersonen verübt wird. Im Blick auf die Sexualität müssen klare Unterscheidungen beachtet werden: 1. Liebe, Nähe, Zärtlichkeit, die man Kindern entgegenbringt, muss einen ganz eindeutig nicht-sexuellen Charakter haben, sonst wird sie zum Missbrauch. 2. Zwischen Erwachsenen oder Heranwachsenden ist in der Sexualität alles erlaubt, was der einzelne in seinen Folgen überblicken und verantworten kann und was weder den einen noch den anderen Partner zu einem Objekt herabwürdigt.

Von einer Vermischung der Sexualität mit dem Göttlichen halte ich nichts – ich glaube, dass die Bibel mit gutem Grund jeden quasi-sexuellen Kontakt zu Gott oder Göttern für etwas Abscheuliches hält (insbesondere die im alten Orient häufig praktizierte Tempelprostitution als Sinnbild für die Vereinigung der Erdgöttin mit dem Fruchtbarkeitsgott)), nämlich weil man sich damit Gott, den Vater, als missbrauchende Elternfigur vorstellen würde. Andererseits gibt es durchaus Liebeslyrik in der Bibel, die die menschliche (nicht göttlich überhöhte) Sexualität wunderbar besingt, nämlich im Hohenlied Salomos.

8. Zum Leben gehört Lebensfreude…

Für mich sind das Judentum und das Christentum grundsätzlich von Lebensfreude geprägt. Ein bedürfnisorientiertes, bejahendes Leben wird zum Beispiel im Psalm 23 und im Hohenlied der Liebe und in vielen Worten Jesu beschrieben, vor allem in der Bergpredigt. Jesus – den seine Gegner einen „Fresser und Weinsäufer“ nannten, weil er seinen Jüngern keine Fastengebote auferlegte wie die Jünger des Johannes und die Pharisäer – war ein Mensch, der das Leben und auch das Feiern liebte. Bei der Hochzeit zu Kana verstand er es sogar, ein Fest zu retten, bei dem die Gäste wegen Weinmangels beinahe verärgert nach Hause gegangen wären – mit Jesus konnte man sogar mit Wasser fröhlich feiern! Und sowohl mit Pharisäern als auch mit Zöllnern und Sündern hat er gern zu Tisch gesessen in fröhlicher Runde oder auch zum Diskutieren.

9. … aber auch die Bewältigung des Leides

Zufällig stieß ich auf ein Gedicht von Hölderlin: „Nicht in der Blüht und Purpurtraub / Quillt heilige Kraft allein. / Es nährt das Leben vom Leide sich.“ Realistisch ist die christliche Theologie, wenn sie an einen Gott glaubt, der sich selber den menschlichen Begrenztheiten von Sünde und Krankheit, Leid und Tod ausgesetzt hat, um sie mit der Allmacht seiner Liebe zu überwinden. Falsch wäre es, Gottes Allmacht abstrakt zu betrachten. Dann kommt man auf Absurditäten wie: Kann Gott etwas erschaffen, das so schwer ist, dass er es selber nicht tragen kann? Die einzige Stelle, an der von Allmacht zu reden Sinn macht, ist die Liebe, die sich nach meinem christlichen Glauben am Ende durchsetzt, weil sie stärker ist als alles, was böse ist. Das Böse ist nämlich immer nur die Kehrseite des Guten, die Abkehr von der Liebe. Gottes in Jesus auf der Erde erschienene Allmacht der Liebe garantiert aber nicht das Paradies auf Erden, weil er die Freiheit der Menschen nicht einfach gewaltsam oder mit Zauberei außer Kraft setzt. Der Mensch hat die Freiheit, böse zu handeln. Dem entgegen hat Gott in Jesus die Freiheit gesetzt, den Tätern, die bereuen, vergeben zu können, und die Opfer im Leid trösten und aufrichten zu können. So kann, wie Dietrich Bonhoeffer einmal sagte, aus bösesten Erfahrungen Gutes entstehen – aber nicht um das Böse zu rechtfertigen, sondern weil es Hoffnung für Opfer und Täter gibt. Jesus tut nichts Böses, lebt einfach die Liebe, hilft vielen Menschen, widmet sich den Kindern, und man bringt ihn dennoch um. Das ist die Realität des Menschen, der als Verletzter immer in der Versuchung steht, selber zu verletzen, und selbst als Unverletzter in der Versuchung steht, die Verletzten nicht zu verstehen und zu vergessen, vor allem dann, wenn sie zu Verletzern geworden sind, die er dann abschreibt.

10. Das Kreuz als Symbol der Liebe des sich mit dem Menschenkind identifizierendes Gottes

Für mich ist die Sühnopfertheologie eine Form, über das Kreuz Jesu nachzudenken. Auch hier stehen Bilder im Hintergrund – die Ablösung des Opfers, das man Gott darbringt, um ihn gnädig zu stimmen, durch die Liebe dessen, der sich selber freiwillig opfert, um nicht zu töten, sondern denen zu vergeben, die ihn töten.

Mir liegt eine andere Kreuzestheologie näher: Derjenige, der auf der Erde des Weg Gottes geht, gerät in die Gefahr, von Menschen ausgegrenzt und ans Kreuz geschlagen zu werden. Die Menschen richten Gott hin (Karfreitag – Kreuzigung), aber Gott wendet sich trotzdem nicht vom Menschen ab (Ostern – Auferstehung).

Welchen Sinn macht es in diesem Zusammenhang, über den „sündlosen“ Jesus nachzudenken? Wenn Sünde das Verharren in der Gottesferne ist, dann ist Jesus das absolute Gegenteil eines Sünders, da er ganz durchdrungen ist von Gottes Liebe zu ihm und von seiner Liebe zu Gott und den Menschen. Jesus selber nennt sich aber nicht „gut“. Narzisstische Welterlösungsphantasien hat Jesus nicht, er lässt sich selber auch nicht als Messias ausrufen, sondern sieht die Erlösung aller Menschen schlicht darin begründet, dass der Vater im Himmel die Menschen liebt und der Himmel dieses Gottes nahe ist. Nicht seine eigene Unerlöstheit projiziert er in den Himmel, sondern umgekehrt, die Liebe, die er von Gott erfährt (symbolisiert zum Beispiel in seinem Tauferlebnis – „dies ist mein geliebter Sohn“), bringt sein Vertrauen in die Erlösung hervor.

11. Ich glaube an die Gerechtigkeit Gottes, die zugleich Barmherzigkeit ist

Ein Gedanke in der Theologie des Kreuzes ist auch, dass symbolisch gesagt werden kann: Wir alle sind schuld an Jesu Tod (an einem seiner „geringsten Brüder oder Schwestern“, wie es im Gleichnis vom Weltgericht heißt) – sei es, indem wir auch unsere Gewaltgeschichte haben oder in Ernstfall tatenlos wegsehen oder feige vor der Verantwortung flüchten, wenn ein Mensch zum Opfer wird. Es ist wichtig, dass nicht alles beliebig ist. Denn sonst könnte jeder Bösewicht alles ungestraft tun, und es wäre völlig egal, was wir mit unserem Leben anfangen. Ich denke, dass die sehr harten Gerichtsworte der Bibel auf Gerechtigkeit zielen und nicht dem Vernichtungswillen eines ungerechten Gottes entspringen.

Natürlich gibt es auch Menschen, die eigene Erfahrungen mit eifersüchtigen Vätern auf Gott übertragen. Von Abraham wird berichtet, wie sein Gottesbild sich wandelt – von der Gottheit (Elohim) fühlt er sich zu absolutem Gehorsam genötigt, den er sogar durch die Schlachtung des eigenen Sohnes bewähren will. Doch in dem Moment, in dem er das Messer hebt, hört er in sich die wahre Stimme des wahren Gottes (Jahwes), der ein Befreier ist und kein Kinderopfer will.

Auch Jesus wird zornig, wenn den Kleinen Gewalt angetan wird, und kennt keine Barmherzigkeit mit denen, die nicht barmherzig sind. Natürlich ist das Weltgericht, wo Jesus als einzelner Mensch über alle Milliarden Menschen zu Gericht sitzt, ein Bild – ein Bild dafür, dass Gott ein menschliches Gesicht trägt, dass nichts, was Menschen tun, belanglos ist, dass Gott als gerechter und zugleich barmherziger Richter allen Menschen gerecht wird.

12. Ich glaube an die Vergebung als einen Neuanfang für schuldige Menschen

Zorn, Vergeltung, Rache ist aber nicht die letzte Antwort auf das Böse. Denn dann wären wir alle verloren. Auch darum wissen weise Menschen in der Bibel. Letzten Endes ist das Gericht Gottes in der Bibel immer eine „Heimsuchung“. Hinter dem Zorn Gottes steckt kein Vernichtungswille, sondern Liebe – wie bei Eltern, die ihr Kind für ein Vergehen zur Rechenschaft ziehen und es auf den richtigen Weg führen wollen. Vergebung bedeutet nicht eine Verharmlosung der Schuld, sondern eine Unterscheidung zwischen dem unannehmbaren Verhalten und der auch weiterhin geliebten Person.

Wer angemessen von Vergebung reden will, muss aber auch von Schuld angemessen reden und zwischen neurotischen und echten Schuldgefühlen unterscheiden können. Ich frage sehr genau nach, wenn jemand in einem Seelsorgegespräch von seiner Schuld spricht oder beichten will. Wenn ein ungeliebtes Kind sich dafür schuldig fühlt, „überhaupt auf der Welt zu sein“, braucht dieser Mensch keine Beichte, sondern die Erfahrung, einfach so angenommen zu werden, wie er ist. Wenn jemand aber darunter leidet, dass er einem anderen oder sich selber Schaden zugefügt hat und das nicht ungeschehen machen kann, muss er sich fragen, ob seine Beziehung zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zu Gott überhaupt wiederhergestellt werden kann, ob also Schuld vergeben werden kann. Wenn es keine Vergebung gibt, bleibe ich festgenagelt auf meine Vergangenheit, auf alles, was ich jemals einem anderen zugefügt habe. Aber Vergebung entbindet den Täter keineswegs von seiner Verantwortung, sondern macht ihn erst fähig, dazu zu stehen. Ohne Reue und ohne Änderung der Lebenshaltung kommt Vergebung nicht zur Geltung. Vergebung verurteilt den Schuldigen sozusagen zum Leben – zu einem Leben in Verantwortung. Beispielhaft erzählt davon die großartige Erzählung von Kain und Abel.

13. Nur wer vertrauen kann, ist frei in seinem Willen

Ist der Mensch in seinem Willen frei? Große Theologen – Paulus, Augustin, Luther – zeigen Grenzen der Willensfreiheit des Menschen auf, indem sie sagen: Nur der Mensch, der vertrauen kann, ist zur Liebe fähig, nur derjenige also, der selber Liebe erfahren hat. Und nun kommt die entscheidende Frage: Was ist mit denen, die zu wenig Liebe erfahren haben und aus diesem Grunde an ihrer Willensfreiheit gescheitert sind, die schuldig geworden sind? Sind diese Menschen für immer verloren, dem Tod verfallen? Ist überhaupt ein Mensch denkbar, der dann leben dürfte? Aber wären selbst die besten Menschen nicht unbarmherzig gegenüber den bösen, wenn sie ihnen das Lebensrecht absprechen? Diese Thematik ist es, die zwischen Jesus und den Pharisäern strittig ist, der den Sünder gerecht spricht, und die Paulus auf den Punkt bringt, dass alle Sünder sind und dass alle auf Vergebung angewiesen sind. Der biblische Gott ist frei zur Barmherzigkeit. Er sucht Wege, um unschuldigen Opfern zu helfen, zum Beispiel indem er selbst ihr Schicksal teilt. Und er zieht schuldige Menschen für ihre Taten zur Rechenschaft, ohne aufzuhören, sie zu lieben. Denn er sieht ihnen ins Herz und nimmt auch ihre eigenen Verletzungen und ihre eigene Sehnsucht nach Liebe wahr. Natürlich rede ich auch hier wieder in Bildern – ich rede von Gott wie von einem Menschen, den ich liebe.

14. Wahre Göttlichkeit erweist sich in der Liebe zum Kind

Im Kind kommt Gott zur Welt, Jesus stellt die Kinder in den Mittelpunkt seiner Botschaft und will sie unverletzt wissen. Und nach christlicher Auffassung lässt Gott den von menschlicher Bosheit getöteten Gottessohn im Tode nicht im Stich, sondern erweckt ihn zu neuem Leben, nicht hier auf der Erde, sondern in der für menschliche Sinne nicht unmittelbar wahrnehmbaren Wirklichkeit des Vaters. Auferstehung ist für mich keine biologische Aussage, sondern ein Symbol für die Bejahung des Lebens und der Liebe Jesu durch seinen Vater im Himmel.

Die Liebe Gottes zu den Kindern, zum Kleinen, ist sicher auch der Grund für die Liebe Gottes zum kleinen Volk Israel. Er will nicht auf großkotzig heldenhafte Weise, sondern durch ein unscheinbar kleines und widersprüchliches Volk der ganzen Welt helfen. Bei Jesus wiederholt sich das, der Allerverachtetste wird auserwählt, um die Liebe Gottes in der Welt zur Geltung zu bringen. Die ganze Dreieinigkeitstheologie ist im Grunde eine Entfaltung der Frage, wie Gott sich seinen Menschenkindern zuwenden kann.

15. Ich glaube an die Jungfräulichkeit Marias – vergewaltigt und doch getröstet!

Die Indizien für einen an Maria, der Mutter Jesu, verübten sexuellen Missbrauch sind für mich zwar nicht erdrückend, aber doch so gewichtig, dass ich von einer Hypothese spreche, die in meinen Augen bisher noch niemand widerlegt hat. Historisch beweisen lässt sich dieser Punkt in der Biographie Jesu aber schon deshalb nicht, weil alle Kindheitsgeschichten Jesu legendarischen Charakter haben und sehr spät in der Rückschau erzählt wurden, als Jesus schon längst eine Gestalt des christlichen Glaubens war.

Mir geht es aber auch gar nicht um einen historischen Beweis, sondern um die Frage, ob man das, was von Maria und Jesus erzählt wird, auf Erfahrungen beziehen darf, die von missbrauchten Mädchen und unehelichen Kindern immer wieder gemacht worden sind. Ich sage: Ja!, und zwar so, dass ich in den Geschichten der Bibel nicht nur das Trauma, sondern auch die Überwindung des Traumas beschrieben finde – indem Josef sich trotz Bedenken zur verantwortlichen (Stief-)Vaterschaft bekennt, indem die gedemütigte Maria im Magnificat Gott für ihre Aufrichtung und Tröstung dankt, und vor allem indem Jesus eine vom Geist der Liebe Gottes durchdrungene und von daher absolut gefestigte Persönlichkeit entwickelt.

Maria dürfen wir mit vollem Recht im Glaubensbekenntnis „Jungfrau“ und im Weihnachtslied „reine Magd“ nennen, auch wenn sie vergewaltigt worden ist. Denn niemand hat das Recht, sie als Gewaltopfer für die ihr angetane Gewalt verantwortlich zu machen. Als Seelsorger spreche ich von Missbrauch betroffenen Frauen von Evangelium her die Erlaubnis zu, sich nicht mehr beschmutzt fühlen zu müssen und ein von Gott geliebtes Kind zu sein, das an den Taten des Missbrauchers unschuldig ist.

16. Ich glaube an Jesus – unehelich geboren und doch der geliebte Sohn Gottes!

Sie schreiben (S. 63): „Wirklich lieben kann nur ein Mensch, der primäre Liebe erfahren hat.“ So ein Mensch ist für mich Jesus. Kein Anzeichnen deutet in meinen Augen darauf hin, dass er lediglich ein ungetröstetes verletztes Kind gewesen sei und daher einen von ihm vermissten Vater in den Himmel projiziert hätte. Dann wäre er zeitlebens seelisch krank gewesen und hätte nicht so viele Heilungen seelisch verursachter Krankheiten vollbringen können, die ich auf seine Erfahrung, absolut von Gott geliebt zu sein, zurückführe. Jesu Dämonenaustreibungen interpretiere ich vollkommen entgegengesetzt zu Ihnen (S. 25). Er konnte gar nicht anders, als – vor allem psychisch verursachte – Krankheiten im Weltbild seiner Zeit so zu betrachten, aber er ist sehr modern damit umgegangen, indem er sie nämlich nicht als Strafen Gottes verstanden hat, sondern als durch Liebe und Vertrauen (nicht irgendwelche exorzistischen Rituale!) überwindbar. Kein Geringerer als Sigmund Freud schätzte trotz seines Atheimus die intuitive psychotherapeutische Kraft Jesu und sah im Bild der Besessenheit eines Menschen eine Vorform seiner Lehre von den neurotischen Zwängen, unter denen ein Mensch wahrhaft nicht der Herr seiner selbst ist.

Und wenn Sie fragen, wer in Jesu Leben der Teufel gewesen sein mag, mit dem er intimen Kontakt zu haben glaubte, dann verkörpert sich darin mit Sicherheit nicht sein Großvater/Vater, zumal ja nicht Jesus selbst als Kind eine Vergewaltigung erleben musste. Es wird auch nichts von Jesus berichtet, was auf eine Misshandlung durch Maria und Josef schließen lässt (S. 25). Die Legende vom zwölfjährigen Jesus im Tempel setzt vielmehr einen sehr aufgeweckten Jungen voraus, der schon mal die Ermahnungen seiner Eltern vergisst, dann aber auch wieder auf sie hört. Auch die Abwendung von seiner Familie sehe ich nicht so wie Sie. Sicher klinkt sich Jesus mit 30 aus seiner Familie aus, um seiner Sendung zu folgen. Sicher findet seine Familie zu diesem Zeitpunkt, dass er verrückt geworden ist, und will ihn wieder zurückholen. Aber das bedeutet lediglich, dass Jesus selbstbewusst genug ist, um sich seine Berufung nicht ausreden zu lassen. Nichts deutet darauf hin, dass Jesus Maria oder Josef als heuchlerisch ablehnt. Wieso sollte er auch seine Mutter ablehnen – sie war doch Gewaltopfer und nicht Täterin! Auch Josef war nicht Täter, sondern hatte treu zu seiner Frau und zu seinem Kind gestanden, und Jesu (Halb-)Geschwister hatten erst recht nichts mit dem Verbrechen an Maria zu tun, sie sind ja leibliche Kinder von Maria und Josef. Der Evangelist Johannes lässt Jesus vom Kreuz herab sogar Jesus zu seinem Lieblingsjünger sagen: „Siehe, das ist deine Mutter!“ – er soll für sie sorgen.

Was bedeutet dann aber die Begegnung Jesu mit dem Teufel in der Versuchungsgeschichte? Diese bildhafte Geschichte verdeutlicht, wie sehr Jesus immer wieder den Versuchungen der Überheblichkeit widerstehen musste und konnte, denen ein Mensch ausgesetzt ist, der von seinen Zeitgenossen schon bald als Messias verehrt und in den Himmel erhoben wird. Jesus will nicht Steine in Brot verwandeln, nicht sich mit einem Superwunder Popularität verschaffen und auch nicht die Weltherrschaft erringen. Das ist nicht die Art, wie seiner Überzeugung nach GOTTes Herrschaft in der Welt zum Zuge kommt. Sondern nur, indem er schlicht die Liebe lebt, die er empfangen hat.

Helmut Schütz

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.